Dass die Annexion der Krim im März 2014 der Ausgangspunkt des Ukraine-Konflikts war, ist offensichtlich. Der Bruch des Völkerrechts, der Helsinki-Prinzipien und des Budapest-Memorandums wiegt schwer. Doch sollten bei der Bewertung der Entwicklungen, die zur Ukraine-Krise geführt haben, die Erosion der europäischen Sicherheitsordnung seit 1990 und die daraus resultierenden Folgen für die Bedrohungs- und Risikoperzeption Moskaus nicht ausgeblendet werden. Die Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Westen und Russland können nicht nur auf das Prinzip der freien Bündniswahl und russische "Phantomschmerzen" über das verlorene Imperium reduziert werden.
Hoffnungsvoller Anfang nach dem Ende des Kalten Krieges
In der Charta von Paris von 1990 haben sich alle europäischen Staaten sowie die USA und Kanada verpflichtet, das Völkerrecht zu achten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu fördern, die europäische Sicherheitsordnung kooperativ und gleichberechtigt zu gestalten und militärische Offensivpotenziale durch eine wirksame Rüstungskontrolle zu beschränken. Dazu wurde in Paris auch der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE-Vertrag) unterzeichnet, der ein militärisches Blockgleichgewicht auf niedrigerem Niveau und geographische Stationierungsbegrenzungen auf der Basis des militärpolitischen Status quo vorsah.
Die Wiedervereinigung Deutschlands hat das Prinzip der freien Bündniswahl bestätigt; jedoch wurde vereinbart, dass die Allianz keine strategischen Positionen militärisch besetzt, die die sowjetischen Truppen verlassen. Daher verpflichtete sich Deutschland im Zwei-plus-Vier-Vertrag, keine alliierten Truppen und Nuklearwaffen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR und Berlins zu stationieren. Alliierte NATO-Truppen rückten "keinen Inch"
NATO-Erweiterung, NATO-Russland-Akte und Rolle der OSZE
Mit der Entscheidung über den Beitritt Polens, Tschechiens und Ungarns von 1997 beschloss die NATO erstmals ihre Ausdehnung bis an die Grenzen Russlands, Weißrusslands und der Ukraine. Der Beitritt trat 1999 in Kraft. Dadurch sah Moskau die Pariser Vereinbarungen gefährdet. Um russische Bedenken zu zerstreuen, erklärte die Allianz mehrfach, die Erweiterung sei nicht gegen Russland gerichtet, sondern diene der Stabilisierung Mitteleuropas. Das Bündnis sei bereit, den KSE-Vertrag anzupassen, die OSZE als gemeinsames Dach zu stärken und die Sicherheitskooperation mit Russland zu vertiefen. Die NATO-Russland-Grundakte hat dies 1997 festgeschrieben. Dort sicherte das Bündnis auch zu, keine zusätzlichen substanziellen Kampftruppen dauerhaft in den Beitrittsländern zu stationieren. Russland erklärte sich zur reziproken Zurückhaltung in seinen westlichen Gebieten Kaliningrad und Pskov bereit. Bilateral hatte es mit Norwegen eine ähnliche Vereinbarung getroffen.
Trotz der Spannungen wegen des Kosovo-Krieges und des Tschetschenien-Krieges gelang es, während des Istanbuler OSZE-Gipfels im November 1999, einen Kompromiss zu erzielen:
In der Europäischen Sicherheitscharta hatten sich die Teilnehmerstaaten verpflichtet, die OSZE zu stärken und einen gemeinsamen Sicherheitsraum ohne Trennlinien einzurichten. Das Recht auf freie Bündniswahl blieb gewährleistet. Jedoch dürfe kein Staat oder Bündnis die eigene Sicherheit zu Lasten von Partnern stärken, einen Vorrang in der Wahrung der Stabilität beanspruchen oder privilegierte Einflusssphären schaffen.
Das Anpassungsabkommen zum KSE-Vertrag (AKSE) sollte das blockbezogene Begrenzungssystem durch nationale und territoriale Obergrenzen ersetzen, um subregionale Truppenkonzentrationen zu verhindern. Die Beitrittsoption für alle Staaten zwischen Atlantik und Ural unterstützte das OSZE-Ziel, einen gemeinsamen Sicherheitsraum einzurichten.
Die Neufassung des Wiener Dokuments und politische Absichtsbekundungen von zehn KSE-Staaten, die in der KSE-Schlussakte zusammengefasst wurden, dienten der weiteren Stabilisierung. So sollte ein zentraleuropäischer Stabilitätsraum von Deutschland bis zur Ukraine mit besonderen Rüstungskontrollverpflichtungen geschaffen und der Abzug russischer Stationierungstruppen aus Georgien und Moldau mithilfe der OSZE und durch bilaterale Vereinbarungen geregelt werden.
Dass diese politische Meisterleistung in den Folgejahren nicht umgesetzt wurde, ist die tiefere Ursache der gegenwärtigen europäischen Sicherheitskrise.
Westlicher Kurswechsel unter der Bush-Administration
Ab 2001 haben die USA die Verbündeten gedrängt, ein Junktim zwischen der Ratifizierung des AKSE und der Erfüllung der russischen "Istanbul-Verpflichtungen" herzustellen. Ihr zeitlicher oder rechtlicher Vorrang gegenüber der Ratifizierungspflicht war jedoch in der Schlussakte nicht verankert. Nachdem Russland die Verpflichtungen zwischen 2000 und 2002 und spätestens mit dem georgisch-russischen Abzugsvertrag von 2006 weitgehend erfüllt hatte, war ihre Interpretation selbst im Bündnis umstritten. Neben einem halbgeräumten Munitionslager in Transnistrien blieb eine Basis russischer Friedenstruppen in Abchasien strittig. Ihr Mandat war im Waffenstillstandsabkommen von 1994 niedergelegt und vom UN-Sicherheitsrat und der OSZE gebilligt worden. Da die NATO-Staaten die Ratifikation weiter verweigerten, trat das KSE-Anpassungsabkommen nicht in Kraft. Nur Russland, die Ukraine, Weißrussland und Kasachstan haben es ratifiziert.
Während die Rüstungskontrolle erodierte, nahm auch die Bedeutung der OSZE für die Gestaltung der europäischen Sicherheit zugunsten einer fortgesetzten exklusiven NATO-Erweiterungspolitik ab. Moskauer Vorschläge (2006-2009), die Rolle der OSZE als inklusive Sicherheitsorganisation durch eine rechtsverbindliche Charta zu stärken oder einen neuen Sicherheitsvertrag zu schließen, wiesen die USA mit Unterstützung von Verbündeten zurück.
Die NATO-Erweiterung von 2004 umfasste im Baltikum erstmals Nachbarstaaten Russlands, die nicht den rechtsverbindlichen KSE-Stationierungsbegrenzungen unterliegen. Zudem rückte die NATO mit den Beitrittsländern Rumänien und Bulgarien an das Schwarze Meer, Transnistrien und die russische Krimflotte heran. Das regionale KSE-Gleichgewicht war somit nicht nur in Mitteleuropa, sondern auch im südöstlichen Flankengebiet ausgehebelt. Dort stationierten die USA im Sommer 2007 rotierende Kampfgruppen.
Die zeitgleichen Vereinbarungen, strategische Raketenabwehrstellungen in Polen und Tschechien zu errichten, sorgten für zusätzliches Misstrauen in Moskau. Schon die Kündigung des ABM-Abkommens durch die Bush-Administration (2001) und der Aufbau einer strategischen Raketenabwehr hatten die Beziehungen zu Russland belastet, zumal die Begründung – die iranische Bedrohung – zweifelhaft blieb. Nach den militärischen Vorwärtsbewegungen der USA in Mittel- und Osteuropa suspendierte Russland Ende 2007 den KSE-Vertrag von 1990.
Auch den Interventionismus der Bush-Regierung betrachtete Russland als Untergrabung der internationalen Ordnung. Nach dem Terrorangriff auf New York am 11. September 2001 hatte Moskau noch Solidarität gezeigt und die NATO-Operationen in Afghanistan unterstützt. Den amerikanischen Angriffskrieg im Irak (2003) stufte es jedoch als Völkerrechtsbruch ein. Mit dieser Bewertung stand es nicht allein. Moskau kritisierte auch die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo durch westliche Staaten im Frühjahr 2008 zu Lasten Serbiens als Völkerrechtsbruch. Es reagierte mit der Intensivierung seiner Kontakte zu Abchasien und Südossetien und bestärkte so die Unabhängigkeitsbestrebungen der beiden Sezessionsgebiete von Georgien.
Mit der Ausbildungs- und Ausrüstungsmission in Georgien hatten die USA 2002 erstmals militärische Präsenz an der russischen Kaukasusgrenze gezeigt. Je mehr Washington die Lösung der Territorialkonflikte mit der Westeinbindung Georgiens verknüpfte, desto mehr unterstützte Moskau die abtrünnigen Republiken. Als die Bush-Administration 2007/08 versuchte, den NATO-Beitritt der Ukraine und Georgien durchzusetzen, überschritten die USA aus russischer Sicht "rote Linien". Damit würden militärische Bündnisgarantien seitens der NATO bis zum Don und den kaukasischen Konfliktgebieten wirksam werden und die Schwarzmeerflotte unter die Kontrolle der Allianz geraten.
Die Beitrittsfrage spaltete die Ukraine mit ihren prowestlichen und prorussischen Tendenzen, denn die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung war gegen den Beitritt. Von einer regionalen Stabilisierung konnte keine Rede sein. Auch in ihrer Regierungsführung entsprachen weder die Ukraine noch Georgien den Beitrittskriterien. Wegen des Widerstands Deutschlands und Frankreichs gab der Bukarester NATO-Gipfel vom April 2008 den beiden Kandidaten zwar eine grundsätzliche Beitrittsperspektive, aber keinen Membership Action Plan.
Der Georgien-Krieg als Zäsur
Der georgische Angriff gegen Zchinvali, die Hauptstadt des abtrünnigen Südossetiens, und russische Peacekeeper im August 2008 hat das Risikokalkül Moskaus grundlegend verändert. Er fand statt, während amerikanische Militärberater im Lande standen und georgische Angriffsverbände ausbildeten. Nach der Seelandung russischer Interventionskräfte in Abchasien drohte der prowestliche ukrainische Präsident Juschtschenko, die Hafenrechte der russischen Schwarzmeerflotte zu beschränken. Dies dürfte der Ausgangspunkt für Eventualfallpläne Moskaus gewesen sein, um notfalls seine strategische Position auf der Krim zu sichern.
Aus Moskauer Sicht hat die Politik der USA Georgien zu dem Angriff gegen russische Truppen ermutigt. Gemeint sind die schrittweise NATO-Erweiterung bis an die russischen Grenzen, die bilateral vereinbarte Militärpräsenz der USA in Georgien sowie ihre Bereitschaft, völkerrechtswidrige Interventionen durchzuführen. Russland sieht sich seither in der strategischen Defensive, will strategische Schlüsselpositionen sichern und bricht dafür selbst das Völkerrecht .
Der Ukraine-Konflikt als Ausdruck einer europäischen Sicherheitskrise
Dass Moskau in der ukrainischen "Maidan-Revolution" vom 21. Februar 2014 eine Gefahr für die Schwarzmeerflotte sah, mag man aus westlicher Sicht als Fehleinschätzung werten. Ein Bündniskonsens für einen baldigen NATO-Beitritt der Ukraine unter einer Revolutionsregierung war nicht in Sicht. Den Außenministern Deutschlands, Frankreichs und Polens war es nicht anzulasten, dass der von ihnen vermittelte Kompromiss zwischen der ukrainischen Regierung und der Opposition am Widerstand einiger Maidan-Kommandeure und der Flucht von Präsident Janukowitsch scheiterte. Die russische Reaktion ist nur aus dem Kontext der vorangegangenen Erosion der europäischen Sicherheitsordnung zu erklären. Die massive, auch öffentliche Unterstützung des "Maidan" durch westliche Diplomaten und Politiker dürfte Moskaus Eindruck verstärkt haben, der Westen steuere den Umsturz.
Die Weichen für die Krise der europäischen Sicherheitsordnung wurden während der Ära George W. Bush gestellt. Die Ukraine ist dabei zwischen die Mühlsteine geraten. Nicht sie war das Ziel der "Freiheitsagenda", sondern die Eindämmung Russlands. Dass die mit Russland getroffenen Vereinbarungen blockiert oder negiert wurden, entsprang einem geopolitischen Kalkül, der Missachtung des inklusiven Sicherheitskonzepts der OSZE, der Abneigung gegen Rüstungskontrolle und der Unterschätzung Russlands als "Regionalmacht", die den Kalten Krieg verloren habe. Andere Weichenstellungen wären möglich gewesen.
Dass der erklärte Neuanfang ("reset") in den amerikanisch-russischen Beziehungen, mit dem sich Präsidenten Obama von seinem Vorgänger absetzen wollte, in Europa ohne Ergebnis blieb, erscheint heute als weitere verpasste Chance. So beschreibt die Lissaboner NATO-Strategie von 2010 unverändert die Bündniserweiterung als bestes Mittel, um die Stabilität Europas zu sichern, ohne die OSZE überhaupt zu erwähnen. Auch der NATO-Russland-Rat hat versagt: Anders als vereinbart, trat die Allianz in wichtigen europäischen Sicherheitsfragen wie der Rüstungskontrolle und der Raketenabwehr mit geschlossenen Blockpositionen gegen Russland auf. In der Krise suspendierte die NATO den Dialog, statt ihn zu suchen.
Die Krise kann nicht durch Säbelrasseln überwunden werden, sondern nur durch die Rückkehr zum offenen Dialog, zur strategischen Zurückhaltung und zu den vereinbarten Normen des Völkerrechts und der europäischen Sicherheitsordnung.