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Religion im Kontext von Gewaltkonflikten | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Religion im Kontext von Gewaltkonflikten

Claudia Baumgart-Ochse

/ 8 Minuten zu lesen

Auch in Konflikten kann Religion eine Rolle spielen. Sie wird u.a. genutzt, um Kriege zu rechtfertigen und Menschen zu Gewalt anzustacheln. Zugleich stiften religiöse Akteure in vielen Konfliktsituationen Frieden und treten für Versöhnung ein. Wie ist dieser Widerspruch zu erklären?

Patriarch Kirill und der russische Präsident Putin. (© picture-alliance/AP)

Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist aus der Sicht des Patriarchen der Russischen Orthodoxen Kirche, Kirill, „ein Heiliger Krieg, in dem Russland und sein Volk den einheitlichen spirituellen Raum des Heiligen Russlands verteidigen“. So steht es in einem Dokument des Weltrussischen Volksrats, das Kirill mit verfasst und unterzeichnet hat. Die Spannungen zwischen den verschiedenen orthodoxen Kirchen in der Ukraine und Russland reichen weit in die Geschichte zurück; seit der militärischen Invasion Russlands in der Ukraine treten sie jedoch schärfer denn je hervor und prägen den Konflikt (Elsner 2022).

Der Terrorangriff auf Israel am 7. Oktober 2023 wurde maßgeblich von der Hamas geplant und ausgeführt, einer radikal-islamistischen Organisation, die ihren Kampf gegen den Staat Israel seit ihrer Gründung unter anderem religiös begründet (May 2014). In Israel wiederum sind extrem rechte, religiös-zionistische Parteien an der Regierung beteiligt, die den Gaza-Streifen erneut besetzen und dort jüdische Siedlungen errichten sowie das Westjordanland annektieren wollen. Ihr Ziel ist es, die heilige Trias von Volk, Land und Tora – der hebräischen Bibel – in die Tat umzusetzen (Dubnov et al. 2024). Die Wiederwahl Donald Trumps als Präsident der Vereinigten Staaten lässt dieses Ziel in greifbare Nähe rücken. Sein Wahlerfolg verdankt sich nicht zuletzt konservativ-evangelikalen Wählerinnen und Wählern, die der Unterstützung Israels eine große theologische Bedeutung beimessen.

Innerstaatliche Konflikte um religiöse Ansprüche haben zugenommen

Die Aufzählung von Gewaltkonflikten, in denen Religion augenscheinlich eine Rolle spielt, ließe sich fortsetzen. Dass es sich dabei nicht um Einzelerscheinungen handelt, belegen die quantitativen Daten aus der Friedens- und Konfliktforschung zu religiös konnotierten Bürgerkriegen – der mit Abstand häufigsten Form von bewaffneten Konflikten in den vergangenen Jahrzehnten. Der Datensatz RELAC (Religious and Armed Conflict Data) umfasst die Bürgerkriege von 1975 bis 2015 mit mindestens 25 Gefechtstoten pro Jahr, die eine oder mehrere religiöse Dimensionen aufweisen (vgl. Svensson und Nilsson 2018). Der Datensatz enthält sowohl Informationen darüber, ob ein Konflikt über strittige religiöse Themen und Fragen (issues) geführt wurde, als auch darüber, ob sich Konfliktakteure mit unterschiedlichen religiösen Identitäten gegenüberstanden.

Damit spiegelt der Datensatz die gängige Unterscheidung zwischen issue-basierten und identitätsbasierten religiösen Konflikten wider (vgl. Toft 2021) und zeigt zugleich Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Konflikttypen auf. Die RELAC-Daten belegen, dass Gewaltkonflikte, die aufgrund von Gegensätzen in religiösen Fragen geführt werden, massiv zugenommen haben: von 3 % aller Konflikte im Jahr 1975 auf 55 % im Jahr 2015. In Afrika und Asien sind die meisten religiös konnotierten Konflikte aufgetreten, gefolgt vom Mittleren und Nahen Osten. Bei der überwiegenden Mehrheit der Religionskonflikte (75 %) handelt es sich um solche, in denen islamistische Gewaltakteure eine größere Bedeutung des Islams in Staat und Gesellschaft forderten.

Die Anzahl von Bürgerkriegen zwischen Akteuren, die unterschiedlichen Religionen angehören, in denen aber keine religiösen Ansprüche im Zentrum standen, hat dagegen im selben Zeitraum leicht abgenommen. Konflikte, in denen beide Dimensionen – religiöse Identitäten und strittige religiöse Themen und Fragen – die Auseinandersetzung prägten, sind dagegen häufiger aufgetreten (Svensson/Nilsson 2018). Religiös konnotierte Bürgerkriege zeichneten sich zudem durch eine höhere Gewaltintensität und in der Folge durch höhere Opferzahlen aus (vgl. Pearce 2014; Toft 2021). Zudem dauerten sie länger als andere Konflikte.

Die friedensfördernde Wirkung von Religion

Religionen können jedoch auch friedensfördernde Wirkungen entfalten. Seit R. Scott Appleby im Jahr 2000 seine wegweisende Studie über die „Ambivalenz des Heiligen“ (Appleby 2000) publiziert hat, gilt die Annahme, dass Religion sowohl Konflikte auslösen oder verschärfen als auch zu Frieden und Versöhnung führen kann, in der Forschung weitgehend als Konsens. Es gibt zahlreiche gut erforschte Beispiele von zwischen- und innerstaatlichen Kriegen, in denen religiöse Akteure zu Konfliktlösung und Frieden beigetragen haben. In mehreren Bürgerkriegsländern haben sich interreligiöse Formate der Konfliktvermittlung als erfolgreich erwiesen.

Untersuchungen zeigen, dass interreligiöse Friedensinitiativen, die von glaubensbasierten Organisationen verschiedener Seiten ausgehen, die Vereinbarungen zwischen verfeindeten Gruppen erfolgreich vorangebracht haben (Omotosho 2014). So hat z.B. im Bürgerkrieg in Sierra Leone (1991-2002) der Interreligiöse Rat von Sierra Leone (IRCSL) zum Gelingen der Friedensverhandlungen beigetragen – nicht zuletzt aufgrund seiner Neutralität und dank internationaler Unterstützung (Hurd 2016). Neben innerstaatlichen religiösen Friedensinitiativen vermitteln auch externe religiöse Mediatorinnen und Mediatoren in Gewaltkonflikten. Das bekannteste Beispiel ist die katholische Laien-Gemeinschaft Sant’Egidio, die Anfang der 1990er Jahre im Bürgerkrieg in Mosambik einen großen Anteil am Zustandekommen des Friedensvertrags von Rom hatte (Weingardt 2016; Vüllers 2013; Johnstone und Svensson 2013).

Die Politisierung und Instrumentalisierung von Religionen

Um in der Öffentlichkeit Aufmerksamkeit, Akzeptanz und Gefolgschaft zu erreichen, sind politische Eliten darauf angewiesen, ihre Ziele und ihr Handeln normativ zu begründen. Zu diesem Zweck nutzen sie politische Ideologien. Vor allem in den westlichen Gesellschaften setzen diese Ideologien in der Regel auf die Attraktivität säkularer, aufklärerischer Ideen und Werte, wie Freiheit (Liberalismus), soziale Gerechtigkeit (Sozialismus) oder nationale Selbstbestimmung (Nationalismus). Doch auch religiöse Traditionen werden herangezogen, um politische Ziele zu begründen und ihnen ein möglichst großes Maß an Legitimation und Mobilisierungskraft zu verschaffen. Das verfängt insbesondere in Gesellschaften und Gruppen, in denen Religion noch eine hohe Bindungskraft und Bedeutung für die Lebensgestaltung hat.

Ein Beispiel ist der Islamismus. Tilman Seidensticker definiert Islamismus als Bestrebungen zur Umgestaltung von Staat und Gesellschaft anhand von Werten und Normen, die als islamisch angesehen werden (Seidensticker 2023: 9). Dazu greifen politische und religiöse Eliten auf Inhalte der islamischen Religion zurück, die aus ihrer Sicht geeignet erscheinen, ihre politischen Botschaften zu unterstützen und zu legitimieren. Dabei werden nicht selten religiöse Erzählungen, Werte und Regeln aus ihrem Kontext gelöst und in ihrer Aussage und ihrem Sinn verändert.

De Juan und Hasenclever zeigen in ihren Studien, wie die diskursive Rahmung (engl.: framing) religiöser Inhalte von Eliten genutzt wird, um ihre Ziele und ihr Handeln in Konflikten zu legitimieren und ihre Anhänger für die Unterstützung ihrer Politik zu mobilisieren (De Juan/Hasenclever 2009, 2015). Gewalt als mögliche Handlungsoption stößt insbesondere dann auf Resonanz und Zustimmung, wenn es Führungspersönlichkeiten gelingt, die Gemeinschaft der Gläubigen oder als heilig angesehene Institutionen, Güter oder Werte als existenziell bedroht darzustellen.

Angesichts der beschworenen Gefahr für Sicherheit und Überleben wechselt die Gemeinschaft von der Routine in den Ausnahmezustand, in dem auch außergewöhnliche Handlungen, wie Hass, Dämonisierung der Feinde und die Anwendung von Gewalt, als legitim erscheinen (Laustsen/Waever 2003). Wie Untersuchungen zeigen, kann die Rivalität zwischen religiösen und politischen Eliten im eigenen Lager die Wahrscheinlichkeit von Gewalt noch zusätzlich erhöhen. Eine Eskalation droht immer dann, wenn rivalisierende Gruppen und Netzwerke um die Führung konkurrieren und dafür Gewalt als Mittel einsetzen (Breslawski/Ives 2019).

Ob und inwieweit die Legitimation von Gewalt mithilfe religiöser Normen und Narrative gelingt, hängt von einer Reihe von Faktoren ab. Zu nennen sind insbesondere die Autorität und Überzeugungskraft der tonangebenden Eliten sowie die Kohärenz und Glaubwürdigkeit der ideologischen Rahmungen (frames), die sie einsetzen, um ihre Ziele in einem Konflikt zu erreichen. Ein weiterer begünstigender Faktor sind schwache staatliche Institutionen, die nicht in der Lage sind, gewaltsame Konflikte zu verhindern bzw. einzudämmen (z.B. Fearon/Laitin 2003).

Religion: Ein Faktor von vielen in Konfliktsituationen

Die inzwischen sehr nuancierten Forschungen zu Religion, Krieg und Frieden zeigen, dass es „die Religion“ als unabhängige Variable, die aus sich heraus Konflikte auslöst oder Frieden stiftet, nicht gibt. Für eine differenzierte Analyse ist es vielmehr notwendig, die komplexe politische, soziale und ökonomische Situation in den Blick zu nehmen, in der religiöse Narrative und Normen von den Konfliktakteuren herangezogen werden, um entweder ihre Anhänger „gegen den Feind“ zu mobilisieren und Gewalt und Krieg zu legitimieren oder um für Frieden und Versöhnung einzutreten.

Dass es in der Öffentlichkeit und den Medien der westlichen Welt immer noch die vereinfachende Gegenüberstellung von vermeintlich gewaltgeneigten Religionen und einer idealisierten, den Frieden sichernden Säkularität und Aufklärung gibt, hat viel mit der deutschen und europäischen Ideengeschichte zu tun. Darum warnt z.B. die australische Politologin Erin Wilson (2022) davor, allein mit der säkularistischen Brille westlicher, insbesondere europäischer Erfahrungen, religiös konnotierte Konflikte zu analysieren. Denn die dominante Lesart der europäischen Geschichte verknüpft die Entstehung des modernen Staatensystems nach dem Dreißigjährigen Krieg (1618-1648), in dem sich katholische und protestantische Staaten und Fürstentümer gegenüberstanden, mit der pauschalen Diskreditierung von Religionen als Kriegsursache (ebenda).

Als ein aktuelles Beispiel für diese vereinfachte Sichtweise nennt Wilson die im Westen weitverbreitete Wahrnehmung des Islams als Ursache für Irrationalität und Gewalt (Wilson 2022: 37–38). In der Folge erscheinen Religion im Allgemeinen und der Islam im Besonderen als Ursache und Auslöser von gewaltsamen Konflikten. Diese Komplexitätsreduktion verzerrt die Analyse und verhindert die Erarbeitung angemessener politischer und gesellschaftlicher Strategien für die Bearbeitung von Konflikten, in denen Religionen eine Rolle spielen.

Bearbeitungsmöglichkeiten politisch-religiöser Konflikte

Ob Hass und Gewalt schürende Propaganda verfängt, hat mit der weltanschaulichen Pluralität und der rechtsstaatlich garantierten Offenheit des Diskurses in der konkreten Konfliktsituation zu tun. Wenn gesellschaftliche, ideologische und religiöse Vielfalt gewährleistet sind, sinkt das Risiko, dass sich religiöse Stimmen durchsetzen, die zu Hass und Gewalt aufrufen. Hasenclever und De Juan (2007) identifizieren vier Ansatzpunkte, um der Instrumentalisierung von Religionen zur Rechtfertigung von Gewalt und Krieg vorzubeugen und entgegenzuwirken:

  • Religiöse Aufklärung, d.h. eine breite Interpretation der religiösen Traditionen, die ihre innere Vielfalt und Komplexität achtet und so dem selektiven Herausgreifen exkludierender, gewaltlegitimierender Aussagen entgegenwirkt.

  • Strukturelle Differenzierung und Toleranz, d.h. die Stärkung und Verfestigung moderater und differenzierter Interpretationsweisen, z.B. an religiösen Schulen, in der theologischen Ausbildung und in Gemeindestrukturen.

  • Autonomie, d.h. die Gewährleistung der Unabhängigkeit religiöser Gemeinschaften vom Staat, die es ihnen erlaubt, der Vereinnahmung durch politische Akteure zu widerstehen.

  • Lebendige innerreligiöse Öffentlichkeit, die der Abschottung radikaler Gruppen und Interpretationsweisen den Austausch auf lokaler, nationaler und transnationaler Ebene entgegensetzt (Hasenclever/De Juan 2007).

Wie Erfahrungen zeigen, kommt es bei der Bearbeitung von Konflikten, in denen Religion eine Rolle spielt, paradoxerweise darauf an, die religiöse Dimension gerade nicht in den Vordergrund zu rücken. Denn der Streit um die Richtigkeit und Gültigkeit religiöser Lehrsätze und Traditionen ist kaum rational zu entscheiden und birgt ein hohes Eskalationspotenzial. Der Fokus auf die vorgebliche Unvereinbarkeit religiöser Ansprüche wird lediglich genutzt, um von den eigentlichen, tieferliegenden sozialen, wirtschaftlichen und machtpolitischen Ursachen eines Konflikts abzulenken.

Wenn Gewaltkonflikte, wie in Syrien oder Irak, dann auch noch von der Außenwelt vordergründig auf religiöse Differenzen – konkret: zwischen Sunniten, Schiiten, Alewiten und Jesiden – reduziert werden, verschärft das die Gegensätze zwischen den religiösen Gruppen noch zusätzlich (Hurd 2015). In diese Falle dürfen Staaten und internationale Organisationen, die sich in der Konfliktbearbeitung engagieren, auf keinen Fall tappen. Sie sollten vielmehr die Breite und Komplexität der Ursachen in den Blick nehmen, ohne die religiöse Dimension auszublenden.

Weitere Inhalte

Dr. Claudia Baumgart-Ochse, Programmbereichsleiterin am Peace Research Institut Frankfurt (PRIF) – Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung, hat Politikwissenschaft, Religionswissenschaft und Neuere Deutsche Literaturwissenschaft in Frankfurt und London studiert. Ihre Doktorarbeit beschäftigte sich mit dem Einfluss der jüdischen Siedler auf das Scheitern des israelisch-palästinensischen Friedensprozesses in den 1990er Jahren. Sie ist Redakteurin des jährlich erscheinenden Friedensgutachtens (friedensgutachten.de).