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Berg-Karabach | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Berg-Karabach

Tessa Hofmann

/ 10 Minuten zu lesen

Bei den Friedensverhandlungen nach der Rückeroberung Bergkarabachs durch Aserbaidschan im September 2023 geht es um die Grenzziehung zwischen beiden Staaten. Das Rückkehrrecht für die vertriebene armenische Bevölkerung bleibt ungeklärt.

26. September 2023: Im Latschin-Korridor (Gebirgsregion) stauen sich Fahrzeuge fliehender Armenier aus Berg-Karabach. Durch den Korridor führt eine Straße von Bergkarabach nach Armenien. (© picture-alliance/dpa, TASS)

Aktuelle Entwicklung

Nach der militärischen Wiedereingliederung von Bergkarabach in das aserbaidschanische Territorium im September 2023 und der Vertreibung fast der gesamten armenischen Bevölkerung registrierten die Behörden der Republik Armenien innerhalb nur weniger Tage 100.800 Flüchtlinge. Russland nahm 6.400 Vertriebene auf. Für das kleine Armenien (29.800 km²) stellen die Vertriebenen eine erhebliche soziale und politische Herausforderung dar. Es fehlt an Arbeitsplätzen. Wohnraum wird nur an jene vergeben, die die armenische Staatszugehörigkeit annehmen, wovor jedoch die meisten zurückschrecken, um nicht ihre Ansprüche auf Rückkehr und Wiedergutmachung zu verlieren. Angesichts der als demütigend empfundenen Niederlage ist die armenische Gesellschaft tief gespalten. Mitte Mai 2024 forderten erneut tausende Demonstranten den Rücktritt von Regierungschef Nikol Paschinjan. Die Generalstaatsanwaltschaft prüft einen Klageantrag wegen Landesverrats.

In Aserbaidschan fanden dagegen Siegesparaden statt. Außerdem wurde mit der Wiederansiedlung der im Ersten Karabach-Krieg (1991-1994) vertriebenen Aserbaidschaner begonnen. Aserbaidschan hat sich unter Präsident Ilham Alijew, der seit den Erfolgen im Zweiten Karabach-Krieg (Herbst 2020) fest im Sattel sitzt, zu einem autoritären Regime entwickelt. Kritiker und Befürworter einer konstruktiven Friedenslösung und Aussöhnung haben es schwer. Laut Amnesty International wurden „im September und Oktober [2023] mehr als ein Dutzend Aktivisten im Rahmen von Verwaltungsverfahren festgenommen, weil sie die Regierung und ihre militärischen Operationen in Berg-Karabach kritisiert haben.“

Armenien befürchtet, dass auch in Bergkarabach, so wie zuvor in der bis 1921 von Armeniern bewohnten Region Nachitschewan, religiöse Stätten und Kulturgüter umgewidmet oder zerstört werden. Bereits am 7. Dezember 2021 hat der Internationale Gerichtshof (IGH) Aserbaidschan aufgefordert, Hassreden und die Diskriminierung von Personen nationaler oder ethnischer armenischer Herkunft einzustellen, einschließlich seiner Beamten und öffentlichen Einrichtungen, sowie alle erforderlichen Maßnahmen zur Verhütung und Bestrafung von Akten des Vandalismus und der Entweihung armenischer Kulturgüter, einschließlich Kirchen, Denkmälern, Friedhöfen und anderen Stätten, zu ergreifen. Das EU-Parlament verabschiedete am 10. März 2022 eine entsprechende Resolution. Doch Verbesserungen blieben aus. Sanktionen, wie sie Menschenrechtsorganisationen und eine Resolution des Europäischen Parlaments vom Oktober 2023 fordern, wurden bisher nicht gegen Aserbaidschan verhängt.

Angesichts der Militärangriffe Aserbaidschans auf die Republik Armenien warnten bereits seit August 2022 Menschenrechtsorganisationen sowie die International Association of Genocide Scholars (IAGS) vor einer Genozidgefahr für die Armenier im Südkaukasus. Der Völkerrechtler und erste Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Dr. Luis Moreno Ocampo, wertete in seinem Gutachten vom 7. August 2023 die neunmonatige Hungerblockade Aserbaidschans als Genozid entsprechend Artikel II (c) der UN-Völkermordkonvention und schloss in einer weiteren Stellungnahme vom Dezember 2023 die Festnahme von acht politischen und militärischen Führern der Republik Arzach in den Genozidvorwurf ein. Am 18. April 2024 beantragte das Center for Truth and Justice (Montrose/CA, USA) beim Internationalen Strafgerichtshof die Aufnahme von Untersuchungen über den Vorwurf genozidaler Absichten des aserbaidschanischen Präsidenten und anderer Personen.

Eine Aufarbeitung der gewaltträchtigen Konfliktgeschichte hat noch nicht begonnen, weder durch die Zivilgesellschaften und die Behörden beider Länder noch durch internationale Institutionen. Wirksame Schritte zum Abbau des wechselseitigen Misstrauens und Hasses wären dringend nötig. Dazu könnten beispielsweise zivilgesellschaftliche Begegnungen beitragen, etwa im Bereich des grenzübergreifenden Klima- und Umweltschutzes.

Ursachen und Hintergründe

Im Konflikt um Berg-Karabach standen sich Jahrzehnte lang die Positionen der armenischen und der aserbaidschanischen Seite unversöhnlich gegenüber. Während Armenien und die Vertreter Bergkarabachs das Recht der armenischen Mehrheitsbevölkerung in der Enklave Bergkarabach auf nationale Selbstbestimmung im Rahmen der „Republik Arzach" reklamierten, bestand Aserbaidschan auf der Wiederherstellung seiner territorialen Integrität durch die Eingliederung Bergkarabachs in sein Staatsgebiet. Beide Standpunkte berufen sich auf grundlegende völkerrechtliche Prinzipien. [Hier finden Sie die Externer Link: Debatte zum völkerrechtlichen Status von Berg-Karabach]

Um ihre Positionen zu untermauern, wurde der Konflikt von beiden Seiten geschichts- und identitätspolitisch aufgeladen. Laut der offiziellen Geschichtsschreibung Aserbaidschans wurden Armenier erst unter russischer Herrschaft (ab 1804) in Karabach angesiedelt. Mit dieser Begründung hat der gegenwärtige Präsident Alijew die armenische Minderheit seit Jahren aufgefordert, das „besetzte“ Bergkarabach zu verlassen. Die armenische Seite beruft sich dagegen auf ihre zweieinhalb Jahrtausende währende Siedlungsgeschichte in der altarmenischen Grenzprovinz Arzach. Zudem werden die im Zuge des armenisch-aserbaidschanischen Konflikts im 20. Jh. begangenen Massaker an Armeniern sowie der Verlust armenischer Siedlungsgebiete als Fortsetzung der osmanischen Massaker (1894-96, 1909) und vor allem des Genozids während des Ersten Weltkriegs betrachtet.

Nach der Eroberung Bergkarabachs durch Aserbaidschan hat sich der Schwerpunkt des Konflikts verschoben. Im Mittelpunkt stehen jetzt die Streitigkeiten um die Festlegung der armenisch-aserbaidschanischen Grenze, insbesondere in der armenischen Provinz Tawusch, sowie um die Schaffung eines Verbindungskorridors zwischen Aserbaidschan und seiner Exklave Nachitschewan. Die Exklave liegt, durch armenisches Territorium getrennt, zwischen Armenien, dem Iran und der Türkei. Baku versucht, seine militärische Stärke zu nutzen, um Armenien zu einseitigen Zugeständnissen zu zwingen. Seine Position wird auch dadurch gestärkt, dass es als autokratisches Regime mit der Unterstützung der regionalen Führungsmächte Russland, Türkei und Iran rechnen kann. Dagegen sieht sich das prowestliche Armenien in der Region weitgehend isoliert.

Russland, die Türkei und den Iran eint ihre antiwestliche Orientierung. Russland, das bis 2020 als Schutzmacht Armeniens galt und hauptsächlicher Waffenlieferant sowohl für Aserbaidschan als auch Armenien war, unterhält eine „strategische Partnerschaft" mit beiden Ländern. Armenien hat Russland bis 2044 eine Militärbasis mit aktuell 3.000 Soldaten zugestanden, die auch dem Schutz der armenischen Außengrenzen zur Türkei und dem Iran, nicht aber zu Aserbaidschan, dienen soll. Seit dem Beitritt Armeniens zur von Russland geführten Eurasischen Wirtschaftsunion (2014) ist Russland zum wichtigsten Handelspartner Armeniens aufgestiegen. 2023 betrug der Handel über 35 % des armenischen Außenhandels.

Allerdings nehmen seit der verweigerten Unterstützung Russlands für Armenien während des Zweiten Karabach-Krieges die Spannungen zwischen Moskau und Jerewan zu. Im Februar 2024 hat Armenien seine Mitgliedschaft in der von Russland geführten Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) ausgesetzt. Nach aktuellen Meinungsumfragen des International Republican Institute (IRI) betrachten 40 % der Armenier Russland nach der Türkei und Aserbaidschan als die größte politische Bedrohung für ihr Land. Armenien lehnt zudem – wie auch Aserbaidschan – den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine offen ab.

Die Türkei sieht sich als Schutzmacht Aserbaidschans. Über eine enge politische, wirtschaftliche und militärische Unterstützung und Kooperation strebt Ankara die Stärkung seines Einflusses auf die turksprachigen Staaten und Völker des Kaukasus und Zentralasiens an, zu denen neben Aserbaidschan auch Turkmenistan, Kirgisien, Kasachstan und Usbekistan gehören. Der Iran, der über eine starke aserbaidschanische Minderheit (ca. 12 bis 20 Mio.) verfügt, hat sich mehrfach als Vermittler zwischen Baku und Jerewan angeboten. Ein treibendes Motiv ist die Furcht vor Bestrebungen der aserbaidschanischen Führung, einen Zusammenschluss mit der nordiranischen Provinz Aserbaidschan zu erreichen.

Der politische Westen ist zwar an der Zurückdrängung des russischen und iranischen Einflusses im Südkaukasus interessiert, ließ es aber bisher an substanzieller Unterstützung der armenischen Sicherheitsinteressen und für eine tragfähige Friedenslösung fehlen.

Bearbeitungs- und Lösungsansätze

Die Friedensverhandlungen laufen in unterschiedlichen Formaten: unter Beteiligung und Vermittlung westlicher Staaten, wie der USA, der EU und Deutschland, mit Unterstützung der regionalen Führungsmächte Russland, Iran und Türkei sowie als bilaterale Verhandlungen zwischen Jerewan und Baku. Grundsätzlich wurde zu folgenden drei Kernprinzipien eine Einigung erreicht: gegenseitige Anerkennung der territorialen Integrität, Festlegung der gemeinsamen Grenzen und Öffnung von Transportverbindungen zwischen dem aserbaidschanischen Kernland und der Exklave Nachitschewan.

Im Mittelpunkt der Verhandlungen stehen derzeit der Bau der „neuen Verkehrsverbindungen zwischen der Autonomen Republik Nachitschewan sowie den westlichen Gebieten Aserbaidschans“ sowie Grenzziehungsfragen. Die Einrichtung eines Verkehrskorridors wurde im trilateralen Waffenstillstandsabkommen vom November 2020 festgeschrieben. Der dafür vorgesehene armenische Landstreifen ist nur 34 Kilometer breit. In Armenien besteht jedoch die Furcht, dass Aserbaidschan auch die südöstliche Provinz Sjunik erobern könnte, zumal es auch dort Bodenschätze gibt. Iran hat angeboten, die Verbindungsroute nach Nachitschewan alternativ durch sein Staatsgebiet zu führen.

Wiederholte Beschießungen des gemeinsamen Grenzgebiets durch aserbaidschanisches Militär, zuletzt im Februar 2024 mit vier armenischen Todesopfern, erschweren die Friedensverhandlungen zusätzlich. Hinzukommen massive innenpolitische Spannungen in Armenien. Nachdem Ministerpräsident Paschinjan vier unbewohnte Dörfer in der nordöstlichen armenischen Grenzprovinz Tawusch ohne aserbaidschanische Gegenleistungen und ohne Referendum an Aserbaidschan abgetreten hat, brachen dort Proteste aus, die vom dortigen Erzbischof angeführt werden. Die fraglichen Dörfer waren im Ersten Karabach-Krieg unter armenische Kontrolle gekommen. Aserbaidschan seinerseits hält weiterhin 240 km² Territorium der Republik Armenien in den Grenzprovinzen Sjunik, Wajoz Dsor, Gegharkunik und Tawusch sowie die Exklave Arzwaschen besetzt.

Die Geschichte des Konflikts

Die sowjetische Entscheidung zum Anschluss Bergkarabachs an Sowjetaserbaidschan erfolgte 1921 entgegen früheren Zusagen an Sowjetarmenien und ohne Rücksicht auf die damals zu 94,4 % armenische Bevölkerungsmehrheit. Nur ein Drittel des von der armenischen Minderheit beanspruchten historischen Karabach erhielt den Status eines Autonomen Gebiets. Dessen Grenzen wurden 1923 festgelegt.

Die Reformpolitik von Michail Gorbatschow ermutigte die Völker der UdSSR, mit alten, bis dahin für „geregelt“ oder nicht existent erklärten Problemen erneut vorstellig zu werden. Im August 1987 sandten Arzach-Armenier ein Memorandum mit 75.000 Unterschriften an die sowjetische Führung in Moskau, in der sie verlangten, das Autonome Gebiet Bergkarabach aus der aserbaidschanischen Verwaltungszuständigkeit zu entlassen. Doch Moskau und die Regierung Sowjet-Aserbaidschans lehnten dies ab.

Als Reaktion entstand eine armenische National- und Protestbewegung, die unter der Parole „Miazum“ (Vereinigung) bzw. „ein Volk, eine Republik“ 1988 bis zu einer Million Menschen für den Anschluss Berg-Karabachs an Sowjetarmenien mobilisierte. Aus der Bewegung entstand unter der Führung des Wissenschaftlers, Schriftstellers und Karabach-Aktivisten Lewon Ter-Petrosjan die Partei Gesamtarmenische Bewegung (HHsch), die sich in der Auseinandersetzung mit Moskau zunehmend antikommunistisch entwickelte und am 21.09.1991 den Austritt Sowjetarmeniens aus der UdSSR erreichte. Fast zeitgleich erklärte auch die „Republik Arzach“ ihre Unabhängigkeit, nachdem die Republik Armenien eine Vereinigung abgelehnt hatte.

In den bewaffneten Kämpfen und z.T. massiven gewaltsamen Übergriffen gegen die Zivilbevölkerungen im Zeitraum 1988 bis zum Waffenstillstandsabkommen vom 12. Mai 1994 starben auf beiden Seiten zwischen 30.000 bis 50.000 Kämpfer paramilitärischer Verbände, Soldaten und Zivilisten. Mehr als 1,2 Mio. Menschen, davon ca.724.000 Aserbaidschaner, wurden vertrieben. Die sieben an das einstige sowjet-aserbidschanische Autonome Gebiet Berg-Karabach (4.400 km²) angrenzenden Bezirke des historischen Berg-Karabach (12.000 km²), wurden von der karabach-armenischen „Selbstverteidigungsarmee“ besetzt. Sie wurden von armenischen Streitkräften unterstützt, was jedoch von Jerewan offiziell bestritten wurde. Jerewan und Baku unterhalten bis heute weder diplomatische noch formelle kommerzielle Beziehungen.

Nach zahlreichen vergeblichen Verhandlungsversuchen, insbesondere im Rahmen der OSZE, und immer wieder aufflammenden Kämpfen an der Waffenstillstandsline eskalierten die Auseinandersetzungen im September 2020 zu einer großangelegten aserbaidschanischen Offensive gegen Bergkarabach. Dabei konnte Aserbaidschan etwa ein Drittel des Territoriums besetzen. Nach neunmonatiger Belagerung und Aushungerung der noch unbesetzten Teile Bergkarabachs griff die aserbaidschanische Armee am 19. September 2023 erneut an, diesmal unter dem Vorwand der Terrorismusbekämpfung. Nach nur anderthalb Tagen kapitulierte die Führung der karabach-armenischen „Selbstverteidigungsarmee“, um weiteres Blutvergießen im Kampf mit dem weit überlegenden Gegner zu vermeiden.

Weitere Inhalte

Dr. phil. Tessa Hofmann ist Philologin (Slawistik, Armenistik) und Genozidforscherin mit dem Schwerpunkt des osmanischen Genozids an indigenen Christen (1912–1922). Bis März 2015 arbeitete sie in der Abteilung für Soziologie am Osteuropa-Institut der Freien Universität Berlin. Sie veröffentlichte Bücher und zahlreiche Zeitschriftenbeiträge zur Geschichte und Gegenwart Armeniens und engagiert sich menschenrechtlich in der „Gesellschaft für bedrohte Völker“ sowie in der von ihr mitbegründeten Arbeitsgruppe „Anerkennung – Gegen Genozid, für Völkerverständigung“. Sie ist außerdem wissenschaftliche Redakteurin der Webseite Virtual Genocide Memorial.