"Neue Türkei" – neue Außen- und Nahost-Politik?
Orientiert sich Ankara erneut nach Europa und dem Westen?
Yaşar Aydın
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Sicherheitsorientierung und Demokratieabbau haben die Kluft zwischen der Türkei und dem Westen vergrößert. Der Annäherung an Moskau und der Orientierung auf den Nahen und Mittleren Osten liegen langfristige Erwägungen und Interessen zugrunde. Eine Abkehr vom Westen bleibt trotzdem unwahrscheinlich, meint Yaşar Aydın.
Die Türkei befindet sich in einem tiefgreifenden Strukturwandel. Staat und Gesellschaft entfernen sich immer mehr von ihrer einstigen kemalistischen und laizistischen Prägung. Mit der bevorstehenden Einführung des Präsidialsystems nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2019 wird die Machtkonzentration bei der Exekutive mit einem starken Präsidenten endgültig besiegelt. Der Wandel, der von Staatspräsident Erdoğan mit dem Label "Neue Türkei" versehen wurde, geht auch mit einer Wende in der Außen- und Sicherheitspolitik einher, und er hat zu wachsenden Spannungen mit dem Westen geführt. In der westlichen Welt war von einer Achsenverschiebung der türkischen Außenpolitik vom atlantischen Bündnis zu einer eurasischen Allianz die Rede.
Ideologisierung der Außenpolitik
Ankara orientierte sich bis zum Jahr 2010 an Europa und am transatlantischen Bündnis. Die türkische Außenpolitik war im Wesentlichen an drei Leitlinien ausgerichtet (vgl. Davutoğlu 2005, 2013; Kalın 2011):
Proaktivität in Bezug auf die schnelle Einhegung und Lösung aufkeimender Konflikte;
Multidimensionalität im Sinne der Nutzung und Kombination unterschiedlicher Instrumente (z.B. Entwicklungshilfe, Public Diplomacy, Soft Power) sowie einer neuen konstruktiven Rolle innerhalb globaler und regionaler Organisationen;
Äquidistanz gegenüber den Staaten und Konfliktparteien des Nahen Ostens, wodurch Ankara z.B. zum Vermittler zwischen Konfliktparteien (Palästina-Frage, Iran-Krise um Urananreicherung usw.) avancieren konnte.
Auch das auf ein friedliches geopolitisches Umfeld abzielende Motto "Null Probleme mit den Nachbarn" trug zur Entspannung mit Nachbarstaaten bei, nicht zuletzt, weil es in den Hauptstädten der Region eine politisch-psychologische Entkrampfung bewirkte.
Ab 2010 setzte jedoch eine sich stetig verschärfende Ideologisierung der Außenpolitik ein. An die Stelle des Pragmatismus trat eine islamistische Orientierung – zentriert um die Idee einer islamischen Zivilisation. Dies wurde in Deutschland und Westeuropa mit dem Begriff des "Neo-Osmanismus" etikettiert. Also die Rückbesinnung auf die ehemaligen Einflusssphären des Osmanischen Reiches, insbesondere im Nahen Osten, die Wiederbelebung von Einflussdenken sowie eine politische Rhetorik, welche die "gemeinsame historische und kulturelle Erbe" demonstrativ hervorhebt. In der Palästina-Frage positionierte sich Ankara nun eindeutig zugunsten von Hamas und scheute auch nicht vor einem offenen Affront gegen Israel zurück (Davos-Krise 2010).
Drei Gründe waren für die Kurswende entscheidend: Erstens, die Enttäuschung über den Verlauf der Beitrittsverhandlungen mit der EU, insbesondere, weil mehrere Verhandlungskapitel von Frankreich und Republik Zypern blockiert wurden. Zweitens führten die Zerfallserscheinungen in der EU im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise (2007/08) in Ankara zu der verfehlten Annahme, dass sich Europa als Gestaltungsmacht vom internationalen Parkett verabschiede. Drittens bewirkten die Protestwellen und Wandlungsprozesse in den arabischen Staaten in Folge des "Arabischen Frühlings", dass sich die Türkei ihren Fokus darauf richtete, sich als ein Modell-Land für arabisch-muslimische Staaten in Stellung zu bringen. Doch die neuen, ehrgeizigen türkischen Gestaltungsambitionen stießen schnell an ihre Grenzen.
Comeback des Sicherheitsparadigmas und Pragmatismus
An die Stelle des Einvernehmens zwischen dem Westen und der Türkei im Umgang mit den arabischen Protesten und der Opposition traten zunehmend Differenzen, die sich mit dem Aufstieg des sogenannten Islamischen Staates (IS) zu substanziellen Interessengegensätzen zuspitzten. Nach der Einnahme der irakischen Stadt Mosul durch den IS im Juni 2014 ging es den USA und der EU primär um die Bekämpfung der dschihadistischen Terrormiliz, während die Türkei am Regimewechsel in Syrien als dem primären Ziel festhielt. Wegen ihrer ambivalenten Haltung gegenüber dem IS geriet die Türkei regional und international in die Kritik (MEMRI 2016).
Ankara war gleichzeitig extrem besorgt darüber, dass in Syrien die kurdische Partei der Demokratischen Union (Partiya Yekitîya Demokrat – PYD), der Ableger der Arbeiterpartei Kurdistans (Partiya Karkerên Kurdistanê – PKK), zum "Bündnispartner des Westens" avancierte: Gleichzeitig versuchte die PKK, die von der Türkei und den westlichen Staaten als terroristische Vereinigung eingestuft wird, in der Südosttürkei durch Graben- und Straßenkämpfe in mehrheitlich kurdisch besiedelten Städten einen Autonomiestatus zu erzwingen. Die Beziehungen der EU und der USA zur Türkei erreichten einen Tiefpunkt, als sich Ankara weigerte, bei der Belagerung der nordsyrischen Stadt Ayn al-Arab (Kobane) durch den IS zugunsten der Volksverteidigungseinheiten (Yekîneyên Parastina Gel – YPG), des militärischen Arms der PYD, einzugreifen.
Auch wenn die Türkei auf internationalen Druck schließlich doch noch erlaubte, dass Peschmerga-Einheiten aus der Autonomieregion Irakisch-Kurdistan über türkisches Territorium den Verbänden der YPG im Kampf gegen den IS zu Hilfe eilen, wurde der Riss im NATO-Bündnis erkennbar. Offenkundig drifteten die Türkei und die westlichen Staaten in der Bewertung dessen, was für die Sicherheit der Türkei und der gesamten Region gut und richtig ist, immer weiter auseinander.
Die Abkehr der türkischen Außenpolitik von einer normativ, islamistisch und neo-osmanisch orientierten Einflusspolitik und Rückkehr zu einem pragmatischen Sicherheitsparadigma ging nach dem Rücktritt von Ministerpräsident Davutoğlu mit einer zunehmenden Konzentration der außenpolitischen Entscheidungskompetenzen bei Staatspräsident Erdoğan einher. Damit verringerte sich auch der Einfluss von Think Tanks und zivilgesellschaftlichen Organisationen auf die türkische Außen- und Sicherheitspolitik (vgl. Balcı 2017: 348 ff.).
Beziehungen der Türkei zu Russland und Iran
Die türkische Regierung reagierte auf die neue Bedrohungsanalyse, indem sie einerseits versuchte, im Spätsommer 2015 die Kooperation mit der NATO (wieder) zu beleben und andererseits neue Bündnisse mit Russland und Iran anzubahnen. Im Juni 2016 begann die gegenseitige Annäherung zwischen Ankara und Moskau, nachdem die bilateralen Beziehungen nach Abschuss eines russischen Kampfjets durch die türkische Luftwaffe an einem Tiefpunkt angelangt waren. Russland, Iran und die Türkei verpflichteten sich in der Moskauer Erklärung (20.12.2016) dazu, die Souveränität und die territoriale Integrität Syriens zu garantieren.
Am 24. Januar 2017 starteten Russland, die Türkei und Iran in der kasachischen Hauptstadt Astana eine Initiative zur Befriedung Syriens und erklärten, künftig gemeinsam gegen die Terrormilizen IS und Al-Nusra kämpfen zu wollen. Zuvor akzeptierte Russland die türkische Militäroperation "Schutzschild Euphrat" (24.8.2016), mit der die Türkei westlich des Euphrats ein Gebiet besetzte, um einen möglichen Zusammenschluss der von der PYD verwalteten kurdischen Kantone Kobane und Afrin zu verhindern. Moskau gab im Januar 2018 schließlich auch grünes Licht für den völkerrechtswidrigen Einmarsch türkischer Verbände in die von der PYD verwaltete Enklave Afrin.
Ob die Spannungen der Türkei und Russlands mit dem Westen als Grundlage für ein langfristiges politisch-militärisches Bündnis ausreichen werden, erscheint aus heutiger Sicht zweifelhaft. Trotz der aktuellen diplomatischen und militärischen Kooperation werden die strukturellen Interessengegensätze fortbestehen. Diese betreffen insbesondere die von der Türkei nicht anerkannte Annexion der Krim, die Präsenz der russischen Flotte im Schwarzen Meer und im östlichen Mittelmeer sowie die Stationierung der russischen Luftwaffe und Raketenabwehrsysteme in Armenien und Syrien. Hinzu kommt der Wettbewerb um politischen Einfluss auf dem Balkan, im Kaukasus und in Zentralasien. Für Unmut in Ankara sorgt auch die Abhängigkeit von russischen Erdgaslieferungen. Gleichwohl scheint bei den aktuell dominierenden Elitefraktionen beider Staaten ein hinreichend stabiler Konsens zu bestehen, sich über die geostrategischen Differenzen hinwegzusetzen und die bilateralen Beziehungen zu vertiefen.
Iran entwickelt sich bereits seit den 2000er Jahren zu einem wichtigen Handelspartner der Türkei, insbesondere zum größten Erdgas- und zweitgrößten Erdöllieferanten. Beide Länder verbinden zudem gemeinsame sicherheitspolitische und strategische Interessen, wie etwa die Sorge vor den kurdischen Autonomie- und Unabhängigkeitsbestrebungen. Seit einigen Jahren verstärkt sich auch die außenpolitische Zusammenarbeit. So stimmte die Türkei im Juni 2010 im UN-Sicherheitsrat gegen eine von den USA gegen Iran initiierte Resolution.
Die türkisch-iranische Annäherung geriet allerdings ins Stocken, als die Türkei der Stationierung eines NATO-Radarsystems in der Osttürkei zustimmte. Iran erklärte, die Radarstation werde im Falle eines Konflikts Ziel eines iranischen militärischen Vergeltungsschlages sein. Auch im syrischen Bürgerkrieg standen Iran und die Türkei lange auf unterschiedlichen Seiten. Teheran unterstützt den syrischen Staatspräsidenten Assad auch militärisch, während Ankara alles auf einen Regimewechsel in Syrien setzte.
Schließlich kam mit der russisch-türkischen Annäherung auch Bewegung in die bilateralen Beziehungen zwischen Ankara und Teheran. Während europäische Staaten zögerten, gaben Moskau und Teheran der türkischen Staatsführung gegenüber dem Putschversuch am 15. Juli 2016 volle Unterstützung. In der diplomatischen Krise zwischen Katar und Saudi-Arabien standen Türkei und Iran gemeinsam hinter Katar. Auch in Bezug auf die Ablehnung des Referendums in der Autonomieregion Kurdistan im Nordirak verhielten sie sich betont einvernehmlich.
Türkische Interessen in der Nahost-Region
Die Türkei interessiert sich nicht erst seit der Amtszeit der AKP-Regierung für die Nahostregion, sondern bereits seit den Anfängen der Republik (1923). Mit der Gründung der Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) 1969 gewannen die Beziehungen zu den Staaten der Nahost-Region eine neue Bedeutung und vertieften sich ab 1980 im Zuge der exportorientierten Wirtschaftspolitik immens. Von 2002 an bemühte sich die Türkei um eine tiefere wirtschaftliche Integration des Nahen Ostens. Im Zuge der Umbrüche und Krisen in Syrien, Ägypten und Irak verlor die Region dann jedoch deutlich an wirtschaftlichem Gewicht. Eine erneute Annäherung an Syrien scheint nicht ausgeschlossen, zumal die Autonomiebestrebungen der syrischen Kurden Ankara und Damaskus gleichermaßen beunruhigen.
Die Beziehungen zu Ägypten sind aufgrund der türkischen Unterstützung für die Muslimbrüder und der Verurteilung des Putsches des ägyptischen Militärs gegen Präsident Mursi (2013) angespannt. Ankara sieht auch das enge Bündnis zwischen Ägypten und Saudi-Arabien sehr kritisch. Zudem hat sich die Türkei im Konflikt zwischen Saudi-Arabien, den meisten Golfstaaten und Ägypten auf der einen Seite und Iran und Katar auf der anderen Seite für Letztere entschieden. Ausschlaggebend hierfür waren primär wirtschaftliche und militärische Interessen. Der bilaterale Handel mit Katar weist eine positive Bilanz zugunsten der Türkei auf (Export 400 Mio., Import 300 Mio. US-Dollar). Bauprojekte türkischer Firmen in Katar erreichen einen Wert von 18 Mrd. US-Dollar, während katarische Investoren Anteile an großen türkischen Unternehmen und Immobilien erworben haben. Die türkische Rüstungsindustrie erhielt einen Großauftrag von der katarischen Armee (1.000 gepanzerte Fahrzeuge). Schließlich unterhält das türkische Militär seit Sommer 2016 einen Militärstützpunkt in Katar.
Ausblick
Ohne die NATO-Mitgliedschaft ernsthaft infrage zu stellen und die EU-Beitrittsverhandlungen abzubrechen, wird Ankara langfristig auf die Vertiefung seiner Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zu den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens sowie Asiens setzen. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Annäherung an Russland. Bei der strategischen Neuausrichtung geht es nicht nur um die Erschließung neuer Absatzmärkte, sondern auch um die Sicherung der territorialen Integrität der Türkei, die Errichtung eines "Sicherheitsgürtels" in ihrem geostrategischen Umfeld und um die Erzielung von Macht- und Autonomiegewinnen gegenüber dem Westen. Ein vollständiger Bruch mit dem Westen und Austritt aus der NATO sind aus heutiger Sicht jedoch wenig wahrscheinlich. Dies würde die Machtposition der Türkei, unter anderem gegenüber Russland und Iran, signifikant schwächen. Die Türkei scheint vielmehr entschlossen, die aus ihrer geographischen Mittellage resultierenden wirtschaftlichen, politischen und militärischen Chancen zu nutzen. Wenn der Balanceakt gelingt, könnten sich die West- und die Südost-Orientierung in der türkischen Außen- und Sicherheitspolitik gegenseitig ergänzen.
Dr. Yasar Aydin lehrt an der Evangelischen Hochschule in Hamburg und schreibt Kommentare zu tagespolitischen Entwicklungen in deutschen und türkischen Zeitungen. Zu seinen Forschungsgebieten gehören die Türkei, Internationale Beziehungen und Migration. Zuletzt erschien von ihm das Buch Türkei (2017), zuvor "Transnational" statt "nicht integriert": Abwanderung türkeistämmiger Hochqualifizierter aus Deutschland und die Studie The Germany-Turkey Migration Corridor: Refitting Policies for a Transnational Age.
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