Der Nahe Osten ist in den letzten zwölf Monaten noch unübersichtlicher geworden. Im Irak bekämpfen die Amerikaner gemeinsam mit Iran den Islamischen Staat (IS). In Syrien unterstützt Iran gemeinsam mit Russland Assad, während die Amerikaner Assads Gegner unterstützen. Zugleich kämpfen die USA im Rahmen einer breiten Allianz, unter anderem gemeinsam mit der Türkei, gegen den IS in Syrien. Während die USA mit den Kurden in Syrien kooperieren, die auch von Russland unterstützt werden, bekämpft die Türkei die Kurden in der Türkei und in Syrien. Der Westen bekämpft Al-Qaida in Afghanistan. Gleichzeitig unterstützt Saudi-Arabien als wichtiger Partner des Westens in der Region die Al-Nusra-Front, einen Al-Qaida-Ableger in Syrien. Andererseits führt Saudi-Arabien in Jemen Luftschläge gegen die schiitischen Houthi-Rebellen durch, die auch zu den Feinden von Al-Qaida gehören. Außerdem steht in Jemen die Muslimbruderschaft auf der Seite Saudi-Arabiens, das in Ägypten und Libyen den Kampf der Regierungen gegen die Bruderschaft unterstützt.
Die Folge ist eine extrem labile Konstellation verschiedener Allianzen. Vergleichsweise geringfügige Ereignisse in einem Land können Verschiebungen der Kräfteverhältnisse in allen anderen Ländern nach sich ziehen. Zudem erscheint es zunehmend aussichtslos, die Konflikte in einzelnen Ländern bearbeiten und lösen zu wollen. Ein regionaler Ansatz ist gefragt. Insbesondere in Syrien, aber auch in Irak und Jemen, werden bei Verhandlungen zumindest auch die Regionalmächte am Tisch sitzen müssen, wenn ein stabiles Resultat erreicht werden soll.
Hintergründe
Karte der Unruhen in Ägypten
Interner Link: Hier finden Sie die Karte als hochauflösende pdf-Datei. (mr-kartographie) Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
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Nachdem die Tunesier und die Ägypter 2011 ihre Diktatoren erfolgreich gestürzt hatten, kam es auch in Libyen, Syrien und Jemen zu Massendemonstrationen. In Libyen bedurfte es des Eingreifens der NATO, um den Rebellen zum Sieg über Gaddafi zu verhelfen. In Syrien entschieden sich die westlichen Mächte, nicht einzugreifen, und der Konflikt zwischen Opposition und Regierung eskalierte zu einem Bürgerkrieg. Ähnlich dramatisch entwickelte sich die Situation in Jemen. Die Instabilität bot diversen regionalen und internationalen Akteuren günstige Bedingungen, um ihren Einfluss in der Region auszubauen.
Karte der Anschläge 2002-2016 und der Fluchtbewegungen in Tunesien
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Nach dem "Arabischen Frühling" 2011 hatten zunächst Katar und die Türkei versucht, sich als Regionalmächte zu etablieren. Insbesondere Katar engagierte sich stark in Ägypten, Libyen und Syrien. Kurzfristig gelang es der mit Katar alliierten Muslim-Bruderschaft, die Regierungen in Ägypten, Libyen und Tunesien zu stellen bzw. zu kontrollieren. Seit der Machtübernahme Sisis in Ägypten 2013, die von Saudi-Arabien zumindest geduldet und im Nachhinein finanziell abgesichert wurde, konnten Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emiraten den Einfluss Katars wieder zurückdrängen.
Konnten die diversen Konflikte bis 2013 als innerstaatliche Konflikte mit starker externer Einflussnahme analysiert werden, kam es seit Anfang 2013 mit dem Aufstieg und der Expansion des IS zu einer massiven Regionalisierung. Dem IS gelang es, sich im Irak und Syrien auszubreiten. Der daraus folgende Propagandaerfolg motivierte über 60 dschihadistische Gruppen in 30 Ländern der Region und weltweit, sich dem IS anzuschließen. Beispiele sind Ansar Beit al-Maqdis im Sinai in Ägypten und Boko Haram in Nigeria. Der Aufstieg des IS verdeutlicht die Dringlichkeit, Lösungen für die verschiedenen lokalen Konflikte zu finden und die Ausdehnung der islamistischen Milizen zu stoppen.
Karte der Gebiete im Irak 2017
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Karte der Gebiete im Irak 2017
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Gleichzeitig schaltete sich Iran immer massiver in das Geschehen ein. Teheran stützt sowohl die Regierung in Bagdad als auch in Damaskus. Damit der Irak nicht vollständig an den IS fällt, brauchte Bagdad die Unterstützung durch Bodentruppen. Da die Amerikaner erst gerade aus dem Irak abgezogen waren, konnten und wollten sie diese nicht selbst zur Verfügung stellen. Angesichts der Verbesserung des amerikanisch-iranischen Verhältnisses im Zuge der Atomverhandlungen waren das Eingreifen des Irans auf Seiten Bagdads und die Unterstützung der irakischen Kurden mit iranischen Waffen durchaus willkommen. Auch in Bezug auf Syrien hofft Washington, dass sich Teheran konstruktiv an einer Friedenslösung beteiligen wird.
Wichtige Einflussfaktoren
Die Annäherung zwischen dem Westen und Iran stieß auf die erbitterte Opposition Saudi-Arabiens. Riad befürchtet, durch die regionale Stärkung des Iran an Einfluss zu verlieren. Der schiitische Iran wird als der größte machtpolitische Konkurrent im Nahen und Mittleren Osten angesehen. In Syrien fechten beide Länder einen Stellvertreterkrieg aus. Saudi-Arabien unterstützt die sunnitischen Milizen, während sich der Iran als regionale Schutzmacht aller Schiiten auf der Seite des alawitischen Assad-Regimes und der libanesischen Hisbollah engagiert, die zu den wichtigsten regionalen Verbündeten Assads zählt.
Karte des Mehrfrontenkriegs in Jemen
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Karte des Mehrfrontenkriegs in Jemen
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All diese Entwicklungen stehen für die Politisierung und Eskalation des uralten, primär theologischen Konfliktes zwischen Sunniten und Schiiten. In diesem Sinne muss auch die Unterstützung der Houthi-Rebellen im Jemen durch den Iran und das darauffolgende massive Eingreifen Saudi-Arabiens verstanden werden. Um Terrain zurückzugewinnen, versucht Saudi-Arabien nun, eine große sunnitische Allianz gegen den Iran zu schmieden. Dazu ist Riad auch bereit, wieder mit den Muslimbrüdern und sogar mit Al-Qaida zusammenzuarbeiten.
Dieser Kurswechsel geht zum Teil auf König Salman zurück, der seit Beginn seiner Amtszeit im Januar 2015 klar andere Akzente setzt als sein Vorgänger Abdullah. Hatte Abdullah versucht, seine Interessen durch Scheckbuchdiplomatie durchzusetzen, schrickt der neue Monarch nicht davor zurück, die eigene Armee massiv zur Durchsetzung politischer Ziele zu nutzen. Unter Führung seines jüngsten Sohnes und neuen Verteidigungsministers Mohamed bin Salman ist die saudische Armee direkt an den Kämpfen in Jemen beteiligt. Bei den Kämpfen mit Houthi-Rebellen musste sie – wie auch die Armee der Vereinigten Arabischen Emirate – bereits substanzielle Verluste hinnehmen, ohne dafür wirkliche Erfolge vorweisen zu können.
Die vertrackte Lage in Jemen, die Massenpanik während der Pilgerfahrt 2015, die mit über 2.000 Toten als das schlimmste Unglück in der Geschichte des Haddschs gilt, und die schwierige Finanzlage Saudi-Arabiens, die aus gestiegenen Ausgaben seit der Ernennung Salmans, kombiniert mit geringeren Einnahmen aufgrund des sinkenden Ölpreises, resultiert, haben zu ungewöhnlich harscher Kritik aus der Herrscherfamilie an Salman und seiner Politik geführt. Manche Beobachter spekulieren sogar, es könnte zu einem Staatsstreich kommen. Aber selbst wenn dies nicht eintritt, könnte Saudi-Arabien bald einen neuen König krönen. Salman ist bereits 80 Jahre alt und leidet an diversen Gesundheitsproblemen. Dies hätte substanzielle Konsequenzen für die Entwicklung in der Region und insbesondere für die Konflikte in Jemen, Syrien und die Rivalität mit Iran.