Die Suche nach den Ursachen und Gründen für innerstaatliche Konflikte stellt die Forschung noch immer vor große Herausforderungen. Wie in konjunkturellen Wellenbewegungen sind in den letzten Jahren unterschiedliche Ursachen genannt und in vielen Studien untersucht worden. Angefangen bei der Unterschiedlichkeit von Ethnien über die ungleiche Verteilung von Ressourcen (z.B. Wasser und Land) bis hin zur Entstehung von Kriegsökonomien zur Kontrolle und Vermarktung von wertvollen Bodenschätzen (z.B. Rohdiamanten, seltene Erden). Ein Aspekt geriet dabei aber mehr und mehr aus dem Blick: die Frage nach der Bedeutung und dem Einfluss von Ideologie. Materielle und Machtunterschiede können zwar den Grund für einen Konflikt liefern, sie erklären jedoch nur begrenzt das teilweise extrem gewalttätige Verhalten von Menschen in Konflikten, wie es beispielsweise während des Genozids in Ruanda zu beobachten war. Der Text zielt auf die Klärung von drei Fragen: Was ist unter Ideologie-Konflikten zu verstehen? Warum haben Ideologie-Konflikte eine so starke Bedeutung? Und: Sind Konflikte, die um und über Ideologie geführt werden, gewaltanfälliger als andere Konflikte?
Was sind Ideologie-Konflikte?
Der Begriff des "Ideologie-Konfliktes" findet sich vor allem in theoretischen Betrachtungen über grundlegende gesellschaftliche Auseinandersetzungen im 20. Jahrhundert. Erst in den letzten Jahren mehren sich Arbeiten, die sich explizit mit der Rolle von Ideologie und ihrem Einfluss auf die Organisationsstruktur, das Kampfverhalten und Durchhaltevermögen der Parteien in aktuellen innerstaatlichen Konflikten auseinandersetzen. Dabei liegt der Fokus speziell auf Rebellenorganisationen (z.B. Gutiérrez Sanín and Wood 2014; Kalyvas and Balcells 2010; Weinstein 2007; Wucherpfennig et al. 2012). In der quantitativ empirischen Konfliktforschung wird der Begriff aufgrund bislang fehlender Daten hingegen noch kaum verwendet. Eine Ausnahme bildet der Heidelberger CONIAS Datensatz (Schwank 2012; Schwank, Trinn, and Wencker 2013), bei dem zu jedem Konflikt die betroffenen Konfliktgegenstände, darunter auch Ideologie, erfasst werden.
Als Ideologie-Konflikte werden – vereinfacht gesprochen – solche Konflikte bezeichnet, die grundlegende Werte und Normen einer Gesellschaft berühren. Als "Ideologie- oder Systemkonflikte" werden Konflikte codiert, bei denen ein Konfliktakteur die ideologische, religiöse, sozioökonomische oder juristische Ausrichtung eines politischen Systems verändern oder komplett ersetzen will. Der Begriff "Ideologie-" oder "Systemkonflikt" hat in den letzten Jahren im Heidelberger Ansatz eine inhaltliche Umdeutung erfahren. Wurden während der Ära des Ost-West Konfliktes vor allem Konflikte um eine eher westliche/kapitalistische oder eine eher östliche/marxistische Ausrichtung des politischen Systems erfasst, wird heute eine deutlich größere Bandbreite von ideologischen Orientierungen abgedeckt. So werden auch Konflikte um Nationalismen oder um die spezifischen Forderungen von "Ethnien" bezeichnet, also von Gruppen, die sich aufgrund ihrer Sprache, ihrer Religion oder ihrer Vergangenheit als eigenständige Akteure verstehen und ihre Ziele und Forderungen aus ihrer Gruppenidentität heraus ableiten. Die derzeit häufigste Form des Ideologie-Konfliktes dürfte jene sein, in der um die religiöse Ausrichtung eines Staatssystems gekämpft wird.
Ein bekanntes Beispiel hierfür ist der Konflikt in Nigeria zwischen der Regierung und der islamistischen Gruppe "Boko Haram". Die Gruppe kämpft für die Einführung der Scharia und gegen ein westlich orientiertes Bildungssystem. Ähnliche Konflikte, bei denen ebenfalls islamistische Rebellengruppierungen gegen das bestehende politische System und für eine stärkere islamische Ausrichtung des Staates kämpfen, findet man weltweit: In Asien, z.B. in Bangladesch und Pakistan, auf Sri Lanka oder den Philippinen. In der Region Vorderer und Mittlerer Orient sind Staaten wie Ägypten, Syrien, Marokko, Mauretanien oder Saudi Arabien betroffen. Aber auch an den Rändern Europas lassen sich solche Konflikte beobachten, z.B. in den ehemaligen Sowjetrepubliken Tschetschenien, Dagestan und Inguschetien.
In vielen Ländern Mittel- und Südamerikas, z.B. in Mexiko, Bolivien oder Chile, findet sich auf der Heidelberger Konfliktliste dagegen noch eine eher klassische Form des Ideologiekonfliktes: Hier fordern Oppositionsgruppen – meist aus den ländlichen Gebieten – vorrangig eine Veränderung des Wirtschaftssystems. Diesen Gruppen geht es um eine stärkere Berücksichtigung der ärmeren Bevölkerungsgruppen und um höhere Einkommen für diese.
Die Häufigkeit und Bedeutung von Ideologiekonflikten
Die Daten des jährlich aktualisierten Heidelberger Konfliktbarometers zeigen, dass im Vergleich zu den dort erfassten zehn Konfliktgegenständen tatsächlich derzeit die meisten gewaltsamen Konflikte um Ideologie/ Systemveränderungen geführt werden. Dies steht im Gegensatz zu den Erwartungen, die in der empirischen Konfliktforschung formuliert wurden (Collier and Hoeffler 2004; Le Billon 2005; Ross 2003, 2006). Danach müssten ökonomische Anreize, wie beispielsweise der zu erwartende Gewinn aus der Kontrolle über natürliche Ressourcen, der wichtigste Faktor für die Eskalation von Konflikten sein.
Erst in jüngerer Zeit beginnen Wissenschaftler, die Gründe für die fehlgeschlagene Prognose und die Dominanz von Ideologiekonflikten zu erforschen. Ein erster Hinweis findet sich in der Analyse zur Konfliktdauer: Forscher fanden heraus, dass Konflikte, in denen Ethnien, die selbst von einer Regierungsbeteiligung ausgeschlossen sind, gegen den Staat kämpfen, eine längere Dauer haben als die restlichen Konflikte (Wucherpfennig et al. 2012). Dies könnte daran liegen, dass diese Gruppen mit einer einfachen ideologischen Botschaft ("Auch wir haben das Recht auf Regierungsbeteiligung") ihre Anhänger sehr gut motivieren können.
Derzeit werden fünf Faktoren diskutiert, die den Einfluss von Ideologie auf den Konflikt erklären sollen (vgl. Gutiérrez Sanín and Wood 2014; Weinstein 2007):
Eine gemeinsame Ideologie kann Menschen mit zunächst unterschiedlicher Motivation für den Kampf disziplinieren und die Grundlage für eine Hierarchie innerhalb der Gruppe schaffen.
Ideologien können "sinnstiftend" wirken – die in der Gruppe eingenommenen Rollen werden besser akzeptiert als bei anderen Gruppen. Ideologie-basierte Gruppen sind deshalb stabiler als bei anderen Formen der Motivation.
Diese Gruppen können deshalb auch eine größere Kampfkraft entwickeln als Akteure, die beispielsweise nur über Geld motiviert werden.
Ideologien können die Wirklichkeit und die Vielzahl von Handlungsoptionen stark vereinfachen bzw. einschränken. In Krisen führt dies dazu, dass Führer sehr schnelle Entscheidungen treffen können, ohne dabei große Rücksicht auf mögliche Opfer innerhalb der Gruppe nehmen zu müssen.
Ideologisch gerechtfertigte Operationen und Maßnahmen von Rebellengruppierungen werden von außen anders wahrgenommen. Eine nach außen kommunizierte Ideologie kann Verständnis für die Handlungen wecken und zur Rekrutierung weiterer Kämpfer führen.
Bleibt noch zu klären, warum Ideologie-Konflikte besonders in den letzten Jahren einen so starken Zuwachs erfahren haben: Die Auswertungen der CONIAS Datenbank, die Konfliktdaten seit 1945 erfasst und analysiert, weisen erst seit etwa 20 Jahren einen raschen Zuwachs dieses Konfliktgegenstandes nach. Unter Zugrundelegung der oben beschriebenen Umdeutung des Ideologie-Begriffs in der Konflikterfassung haben in den letzten Jahren insbesondere Konflikte um religiöse Werte deutlich zugenommen. Dies bestätigt auch eine getrennte Untersuchung, die nach der Bedeutung von kulturellen Konflikten fragt (Croissant et al. 2009). Danach haben seit 2001 Konflikte stark zugenommen, bei denen religiöse Symbole eine Rolle spielen.
Auf den ersten Blick scheint sich so die äußerst umstrittene These von Samuel Huntingtons "Kampf der Kulturen" (Huntington 1993) zu bestätigen. Allerdings ist Huntington hier von komplett anderen Annahmen ausgegangen; er hat sich allein auf zwischenstaatliche Konflikte und Konstellationen bezogen. Bei Religions- und anderen Ideologie-Konflikte handelt es sich dagegen fast ausschließlich um innerstaatliche Auseinandersetzungen.
Eine Ursache für den starken Anstieg könnte darin liegen, dass etliche Gesellschaften nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes ihre Identität erst genauer finden und bestimmen müssen. Daraus erwachsen Rivalitäten und Abgrenzungsprozesse. Hinzu kommt der gleichzeitig stark dynamisierte Globalisierungsprozess. Immer mehr Staaten stehen vor der Herausforderung, durch Liberalisierung und Öffnung ihres Wirtschaftssystems und durch möglichst niedrige Lohn- und Sozialstandards Anschluss an die Weltwirtschaft zu halten bzw. erst zu erreichen. Nicht zuletzt scheint das militärische Eingreifen der USA in Afghanistan und Irak zu einer starken Mobilisierung religiöser Gruppen in dieser Region beigetragen zu haben.
Die besondere Gewaltanfälligkeit ideologischer Konflikte
Die dritte Leitfrage dieses Artikels fokussiert auf die Gefährlichkeit bzw. Gewaltanfälligkeit ideologischer Konflikte. Nicht selten findet sich selbst in der wissenschaftlichen Literatur Argumente, die ideologischen Gruppierungen insgesamt oder einzelnen Gruppen eine besondere Gewaltneigung unterstellen. Wie beispielsweise die These, dass der Islam seine Grenzen bevorzugt mit Gewalt verteidige (Huntington 1993). Bislang konnte eine solche These weder argumentativ bestätigt, noch durch statistische Auswertungen untermauert werden (Müller 2003; Schwank 2004). Zwar lässt sich gerade unter Verweis auf den vorangegangenen Abschnitt nicht verneinen, dass Ideologien eine wichtige Funktion für Konfliktparteien haben und deshalb auch instrumentalisiert werden können. Offensichtlich eignen sich gerade Religionen besonders gut für eine Rechtfertigung von Gewaltanwendung. Dennoch wäre ein Pauschalverdacht voreilig, ja falsch. Empirische Auswertungen aus der CONIAS Datenbank zeigen, dass Ideologie-Konflikte über einen längerfristigen Zeitraum (1945 – 2008) in Vergleich zu anderen Konfliktgegenständen nur zu einem relativ moderaten Anteil eskalierten.
Eskalationsanfälligkeit von Konfliktgegenständen 1945-2008 Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Eskalationsanfälligkeit von Konfliktgegenständen 1945-2008 Lizenz: cc by-nc-nd/3.0/de/
Ideologische Konflikte müssen also nicht zwangsläufig zu Eskalation und grenzenloser Gewalt führen. Vielmehr kann auch genau das Gegenteil der Fall sein. Ein Beispiel: Nach der Regensburger Rede von Papst Benedikt XVI im September 2006, bei der ein Zitat der Rede für Protestaufrufe seitens islamistischer Kreise sorgte, befürchteten Beobachter bereits eine ähnliche Entwicklung wie beim Karikaturenstreit. Doch konnten Aufrufe von islamischen Gelehrten zum Gewaltverzicht und zum Dialog die Situation entspannen. In Einzelfallstudien wurde herausgearbeitet, dass bestimmte Gruppierungen aufgrund ihrer ideologischen Ausrichtung zu weniger gewaltsamen Mitteln greifen als etwa staatliche Akteure, wie z.B. die FMLN in El Salvador (Hoover Green 2011). Es gibt auch Gruppen, die aufgrund ihrer Ideologie und Werteüberzeugungen auf bestimmte Gewaltformen verzichten. Ein Beispiel dafür ist die tamilische LTTE (Liberation Tigers of Tamil Eelam), die im Bürgerkrieg auf Sri Lanka ausdrücklich Vergewaltigungen ausschloss (Wood 2009). Diese Fälle zeigen auf, dass an Wirkungsmechanismen von Ideologien im Konflikt noch mehr geforscht werden muss.