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Meinung: Mexiko, Nigeria, Pakistan – Staatszerfall ganz neuen Ausmaßes? | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Meinung: Mexiko, Nigeria, Pakistan – Staatszerfall ganz neuen Ausmaßes?

Jörn Dosch

/ 9 Minuten zu lesen

Zwar gibt es in Mexiko, Nigeria und Pakistan schwerwiegende und zum Teil außer Kontrolle geratene innere Konflikten. Insgesamt steht jedoch keines der drei Länder vor dem Staatszerfall auf ganzer Linie.

Jörn Dosch (© Jörn Dosch)

In der Entwicklungsdiskussion ist es nach wie vor üblich, zwischen Industrie- und Entwicklungsländern zu unterscheiden. Der fortschreitenden Ausdifferenzierung der Staatenwelt wird das Operieren mit solchen Großkategorien längst nicht mehr gerecht. Selbst der Begriff des Schwellenlandes verwässert die erheblichen Unterschiede in den wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, denen Staaten eines mittleren Entwicklungsstandes ausgesetzt sind. Es musste daher als innovativ gelten, als das Investmentbanking- und Aktienhandelsunternehmen Goldman Sachs 2003 mit den BRIC-Staaten eine neue eingängige Begriffskategorie kreierte. Brasilien, Russland, Indien und China standen demnach für die am schnellsten expandierenden und das größte Potenzial aufweisenden Entwicklungsökonomien.

Vietnam und Indonesien sind positive Beispiele

2005 führte Goldman Sachs die BRIC-Nachfolgegeneration, die "Next-11" oder N11 in die Entwicklungsdebatte ein. Ägypten, Bangladesch, Indonesien, Iran, Südkorea, Mexiko, Nigeria, Pakistan, Philippinen, Türkei und Vietnam waren der Prognose zufolge auf dem Sprung, es der BRIC-Gruppe gleichzutun. Neun Jahre später ist festzustellen, dass es einigen dieser Länder tatsächlich gelungen ist, den Anschluss zu finden. So feiert die Weltbank Vietnam als Lehrbuchbeispiel für eine erfolgreiche nationale Entwicklungsstrategie, während Indonesien mit einem durchschnittlichen jährlichen Wirtschaftswachstum von mehr als 5% seit 2000 nicht nur als Wirtschaftswunder, sondern auch als Musterfall für Demokratisierung und politische Stabilität in Asien gilt. Am 9. April 2014 fanden bereits die vierten freien und fairen Parlamentswahlen seit dem Ende des autoritären Suharto-Regimes 1998 statt, wodurch sich Indonesien endgültig als drittgrößte Demokratie der Welt etabliert zu haben scheint. Dass es sich um das größte muslimische Land der Erde handelt, wird zumeist im gleichen Atemzug erwähnt: Indonesien gilt als eindrucksvollster Beweis für die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie, die "westlichen" Ansprüchen genügt und ohne kulturrelativistische Attribute oder Adjektive auskommt.

Mexiko, Nigeria und Pakistan – vom Zerfall bedroht?

Andere Länder der N11 sind hingegen zum Teil deutlich hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Hinsichtlich der drei N11-Kandidaten Mexiko, Nigeria und Pakistan macht sogar das Wort vom drohenden Staatszerfall die Runde. Schlimmer kann es der Außenperzeption eines Landes nicht ergehen, selbst wenn die Terminologie failing/failed states, also zerfallende/ zerfallene Staaten, durchaus kontrovers ist, da die Frage, ob sich ein Staat auf dem Weg des Scheiterns befindet, zentral davon abhängt, welches Verständnis von Staatlichkeit zugrunde gelegt wird. Unabhängig von definitorischen Feinheiten ist inzwischen jedoch unstrittig, dass politische, sicherheitspolitische und gesellschaftliche Faktoren im Entwicklungsprozess eine ebenso wichtige Rolle spielen wie ökonomische Indikatoren.

Zerfallende Staaten sind in der Regel durch mehrere und sich gegenseitig verstärkende Faktoren gekennzeichnet. Hierzu zählen vor allem intransparente, dem Kriterium der Rechenschaftspflicht nicht genügende und häufig autoritäre Regierungsführung, Cliquenwirtschaft, ein hoher Korruptionsgrad, mangelnde Wohlfahrt, erheblich eingeschränkte Rechtsstaatlichkeit und -sicherheit sowie defizitäre Nationenbildung und innerstaatliche Machtkonflikte. Zu diesen endogenen Faktoren gesellen sich häufig exogene Kriterien, wie das Erbe von Kolonialherrschaft oder militärische Interventionen. Nicht alle Charakteristika müssen dabei in gleichem Maße gegeben sein, je schlechter jedoch Staaten hinsichtlich der jeweiligen Kategorien abschneiden, desto größer ist die Gefahr des Scheiterns.

Die umfassendste Bestandsaufnahme bietet die unabhängige Washingtoner Forschungseinrichtung "Fund for Peace", die seit 2005 mit dem "Failed States Index" die Stabilität von Staaten unter Zugrundelegung von insgesamt 50 Indikatoren in sechs Großkategorien bewertet. Weit oben auf der Liste von 2013, in der Kategorie "höchste Alarmstufe", rangieren an 13. bzw. 16. Position (von 178 Staaten) Pakistan und Nigeria. Mexiko befindet sich mit Rang 98 zwar auf einem Mittelfeldplatz, gilt damit aber auch als "hochgradig gefährdet". Es verwundert kaum, dass hohe Positionen auf dem Failed State Index in der Regel mit niedrigen Platzierungen auf dem Human Development Index (HDI) korrelieren. Schwache Staaten können die sozio-ökonomischen Grundbedürfnisse ihrer Bevölkerungen nur unzureichend befriedigen.

Pakistan

Trotz kurzer Phasen wirtschaftlichen Aufschwungs ist es Pakistan bisher nicht gelungen, aus der HDI-Gruppe "niedriger menschlicher Entwicklung" aufzusteigen. Mit 7% jährlichen Zuwächsen des BIP zwischen 2003 und 2007 mehrten sich die Anzeichen eines anhaltenden wirtschaftlichen Aufschwungs, der dann aber seither u.a. durch ausbleibende Direktinvestitionen und Kapitalflucht infolge der anhaltenden massiven Sicherheitsprobleme im Land zunichte gemacht wurde. Seit seiner Unabhängig 1947, die durch die am grünen Tisch erfolgte Teilung Britisch-Indiens herbeigeführt wurde und damit äußerst schwierige Startbedingungen für den weiterhin unvollständigen Prozess der Nationenbildung mit sich brachte, ist es Pakistan nicht gelungen, leistungsfähige staatliche Institutionen zu etablieren. Es dominiert das Militär, das alle politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Sphären durchdringt.

Vor allem aber die Serie von Terroranschlägen durch das militante islamistische Bündnis Tehrik-i-Taliban Pakistan (TTP) und die Eskalation von Gewalt und Gegengewalt brachten die Nuklearmacht in der weltweiten Perzeption an den Rande des Staatszerfalls. TTP entstand 2007 infolge des Zusammenschlusses von mehr als einem Dutzend extremistischer Gruppen, die jedoch eher lose miteinander verbunden sind und im Einzelnen unterschiedliche Agenden verfolgen. Sie eint der gemeinsame Kampf gegen den pakistanischen Staat und dessen Militär, die als Alliierte des Westens betrachteten werden. Es vergeht kaum ein Tag ohne einen Anschlag der pakistanischen Taliban. Betroffen sind dabei vor allem die Stammesgebiete an der Grenze zu Afghanistan (Federally Administered Tribal Areas) sowie die Provinzen Khyber-Pakhtunkhwa (ehemals Nordwestgrenzprovinz) und Belutschistan. Ein am 1. März 2014 von der TPP begonnener vierzigtätige Waffenstillstand konnte die Gewalt zwar offenbar kurzeitig reduzieren, aber nicht stoppen. Das Moratorium war eine Reaktion auf die Wiederbelebung von Friedensverhandlungen mit der Regierung, die Premierminister Nawaz Sharif im September 2013 einleitete. Die Bemühungen sind seither aber im Sande verlaufen. Unabhängig vom Ausgang der jüngsten Gesprächsversuche haben die völkerrechtlich höchst umstrittenen Drohnenangriffe der USA gegen TTP-Stellungen den Eindruck eines in seiner inneren und äußeren Souveränität beschränkten Staates verstärkt.

Interner Link: Zum Konfliktportrait Pakistan

Nigeria

Auch Nigerias Abrutschen auf dem Failed State Index hängt vor allem mit der Intensivierung von Terroraktivitäten zusammen. Seit 2009 haben Anschläge der extremistischen Gruppierung Boko Haram, die Verbindungen zu Al-Qaida und den afghanischen Taliban unterhalten soll, aber auch regelmäßiger Gewaltmissbrauch der Regierungsstreitkräfte, zu einer Gewaltspirale geführt. Betroffen sind vor allem die nordöstlichen Bundesstaaten Adamawa, Borno und Yobe. Die Gewalt hat inzwischen auch die Hauptstadt Abuja erreicht. Boko Haram (übersetzt bedeutet der Name in etwa "Westliche Bildung ist sündhaft") verfolgt das Ziel eines muslimischen Staates in Nord-Nigeria und verübt vornehmlich Anschläge auf Regierungseinrichtungen, Kirchen und Schulen. Christen und moderate Muslime sind die Opfer.

Die Ursachen sitzen tief. Das mit 170 Millionen bevölkerungsreichste Land Afrika ist seit seiner Unabhängigkeit 1960 gespalten zwischen dem mehrheitlich muslimischen Norden und dem christlich geprägten Süden. Darüber hinaus bilden Massenarmut und weitverbreitetes Analphabetentum, Korruption, Polizeigewalt und ein ineffektives Justizwesen gepaart mit Verteilungskämpfen um die Gewinne aus dem Erdölgeschäft den gefährlichen Nährboden für einen schwachen Staat. Schätzungen von Human Rights Watch gehen davon aus, dass seit dem Ende der Militärherrschaft 1999 trotz des seitherigen Demokratisierungsprozesses mehr als 18.000 Menschen infolge von interkommunaler, politischer und sektiererischer Gewalt ihr Leben verloren haben.

Interner Link: Zum Konfliktportrait Nigeria

Mexiko

Zieht man alleine die Zahl der Opfer in Betracht, dann toppt der Drogenkrieg in Mexiko selbst die Gewaltsituationen in Nigeria und Pakistan. Staatliche Versuche zur Bekämpfung der organisierten Drogenkriminalität reichen zurück bis in die 1990er Jahre, als sich mexikanische Drogenbosse anschickten, die ehemals führende Stellung der kolumbianischen Kartelle im internationalen Drogenhandel zu übernehmen. Doch erst der Einsatz des Militärs seit 2006, dem Beginn der Präsidentschaft Felipe Calderóns, der den Kampf gegen die Drogenkartelle zum obersten Regierungsziel ausrief, führte in den jetzigen, außer Kontrolle geratenen Konflikt. Die offizielle Zahl der Todesopfer liegt bei 70.000. Unabhängige Schätzungen gehen jedoch von mehr als 100.000 Morden aus. Die am meisten betroffenen Städte waren zunächst Juárez, Culiacán, Tijuana, Chihuahua und Acapulco de Juárez. Seit 2010 tobt der Drogenkrieg aber auch in der Wirtschafts- und Universitätsmetropole Monterrey. Kaum ein anderes Land ist auf dem Failed States Index in den vergangenen fünf Jahren so stark in den negativen Bereich geraten wie Mexiko.

Heißt dies aber nun, dass wir in Mexiko einen Staatsverfall ganz neuen Ausmaßes beobachten? Wohl kaum. Anders als Pakistan und Nigeria weist Mexiko ein insgesamt positives Entwicklungsprofil auf. Das Land befindet sich in der oberen Hälfte "hoher menschlicher Entwicklung", und die kontinuierliche signifikante Verbesserung der HDI-Werte zeugt von der Fähigkeit des Staates, Wohlfahrtsgewinne zu maximieren und sozio-ökonomische Ungleichheiten zu reduzieren. Auch in Mexiko wird die Funktionsfähigkeit der staatlichen Institutionen allerdings durch einen hohen Korruptionsgrad beeinträchtigt; das politische System insgesamt ist jedoch stabil.

Interner Link: Zum Konfliktportrait Mexiko

Auf nationaler Ebene ist der Staat nach wie vor intakt

Der Fall Mexiko verdeutlicht, dass die Wahrnehmung von Staatszerfall vor allem mit einer Aushöhlung und Begrenzung des staatlichen Gewaltmonopols im Zusammenhang steht. Wenn staatliche Organe ihre ausschließliche Befugnis und Fähigkeit verlieren, innerhalb des eigenen Staatsgebietes physische Gewalt, also körperliche Zwangsgewalt, einzusetzen oder deren Anwendung durch andere zu unterbinden, dann ist ein wesentlicher Teil der inneren staatlichen Souveränität nicht mehr gegeben. Das staatliche Gewaltmonopol ist somit unabdingbare Voraussetzung für das Funktionieren eines Rechtsstaates. Die Herausforderung, Einschränkung und Infragestellung dieser ausschließlichen Autorität des Staates durch terroristische Organisationen, Warlords oder eben Drogenkartelle schwächt den Staat und kann im schlimmsten Fall zu seiner weitgehenden Erosion führen.

Sowohl mit Blick auf Mexiko als auch auf Pakistan und Nigeria ist jedoch festzustellen, dass das jeweilige staatliche Gewaltmonopol zwar regional in einzelnen Provinzen oder Bundesstaaten ausgehebelt ist, auf nationaler Ebene jedoch weiterhin staatliche Handlungskompetenz besteht und auch eine institutionelle Infrastruktur aufrechterhalten wird – dies jedoch in Mexiko in deutlich höherem Maße als in Pakistan und vor allem Nigeria. Alle drei Staaten sehen sich somit mit der Zerstörung ziviler Verwaltungsstrukturen (oder der Unfähigkeit, diese wiederherzustellen) in einzelnen Landesteilen konfrontiert. Trotz der damit einhergehenden massiven Konsequenzen für Sicherheit und Ordnung und letztlich auch der Eintrübung der weiteren Entwicklungschancen, steht aber keiner der drei Staaten vor dem Zerfall auf ganzer Linie.

Es gibt auch positive Entwicklungen

Aus entwicklungspolitischer Perspektive muss das Konzept des Staatszerfalls als problematisch gelten. Im Begriff des Staatszerfalls schwingen Finalität und Irreversibilität mit. Staaten, die nach gängigen Perzeptionskriterien von Zerfall bedroht sind, geraten leicht in die Spirale sich selbsterfüllender Prophezeiungen. Dringend notwendige Investitionen und selbst Entwicklungskooperation bleiben dann häufig aus. Es sind aber auch positive Entwicklungen zu konstatieren. Mit überdurchschnittlichen wirtschaftlichen Wachstumsraten, einer boomenden Exportwirtschaft sowie einer niedrigen Staatsverschuldung auf Bundesebene (ca. 35% des BIP) und einem geringen Haushaltsdefizit steht Mexiko im internationalen Vergleich solide da. In Pakistan haben die erfolgreichen National- und Provinzratswahlen vom Mai 2013 die demokratische Entwicklung Pakistans gestärkt. Der TTP war es nicht gelungen, durch den Anschlag auf moderate Parteien, den ersten demokratischen Machtwechsel in der Geschichte des Landes zu verhindern. Und in Nigeria zeigt z.B. die im Ganzen erfolgreiche, für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung zentrale Konsolidierung des Bankensektors als Teil der strukturellen Reformpolitik der letzten Jahre, dass der Staat nicht völlig machtlos ist. Freilich fällt es derzeit schwer, im Dickicht der Gewalt und Korruption in Nigeria selbst kleinste Entwicklungserfolge auszumachen. Viele Beobachter bleiben jedoch optimistisch.

Der Ökonom Jim O'Neill, Erfinder des Konzeptes der BRIC-Staaten, hat erst unlängst mit dem Label "MINT"-Länder – Mexiko, Indonesien, Nigeria und die Türkei – den Versuch unternommen, die kommende Generation der wirtschaftlichen Boom-Staaten zu gruppieren. Ob solche Initiativen, an den Erfolg der BRIC-Kategorie anzuknüpfen, mehr sind als clevere Marketingstrategien, um das Interesse potenzieller Anleger zu schüren, sei dahingestellt. Zumindest zeigt sich, dass Staaten, wie Mexiko und Nigeria, weiterhin substanzielle Entwicklungspotenziale bescheinigt werden, sofern es denn gelingt, die innerstaatliche Gewalt in den Griff zu bekommen. Von den drei hier betrachteten Ländern zeichnen sich inzwischen in Mexiko die klarsten Tendenzen auf dem Weg zu einer Wiederherstellung weitgehender Staatlichkeit ab. Im Bundestaat Michoacán, einer der Hochburgen des Drogenkrieges, ist es den Sicherheitskräften gemeinsam mit sogenannten Bürgerwehren inzwischen gelungen, die staatliche Kontrolle wieder herzustellen. Begünstigt werden solche Erfolge durch die Tatsache, dass das ehemalige Oligopol der Drogenkartelle längst zerbrochen und in etwa 25 sich gegenseitig bekriegende Gruppierungen zersplittert ist.

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Prof. Dr. Jörn Dosch ist seit September 2013 Professor für Internationale Politik und Entwicklungszusammenarbeit an der Universität Rostock. Zuvor lehrte und forschte er u.a. an der australischen Monash University (Malaysia Campus), der University of Leeds (Großbritannien) und der Stanford University.