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Meinung: "Schwellenländer" – Wachstum als Konfliktursache? | Kriege und Konflikte | bpb.de

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Meinung: "Schwellenländer" – Wachstum als Konfliktursache?

Andreas Heinemann-Grüder

/ 8 Minuten zu lesen

Die hohen Wachstumsraten der sogenannten Schwellenländer sind in vielen dieser Länder um die Hälfte eingebrochen. Investoren ziehen ihr Geld ab. Nun gerät auch eine Tatsache stärker in den Fokus internationaler Aufmerksamkeit: Viele Schwellenländer weisen ein hohes Niveau an internen Gewaltkonflikten auf.

Andreas Heinemann-Grüder (© Andreas Heinemann-Grüder)

Der ökonomische Fortschritt der "Schwellenländer" brachte mehr Wohlstand, höhere Löhne und eine neue Mittelklasse hervor. Er beflügelte aber auch politische Forderungen nach Mitsprache, nach Zugang zu Bildung und medizinischer Grundversorgung sowie nach freier Religionsausübung. Und er befeuerte die öffentliche Empörung über den Prunk und die Korruption der Neureichen. Nach der Ankündigung einer strikteren Geldpolitik in den USA (2013) verloren die Währungen von Schwellenländern, wie Indien, Brasilien, der Türkei, aber auch Russlands rapide an Wert.

Einige Konflikte in "Schwellenländern" schwelen seit der staatlichen Unabhängigkeit. Dazu gehören insbesondere die Auseinandersetzungen zwischen dominanten, staatsbildenden Ethnien bzw. Religionen auf der einen Seite und Minderheiten auf der anderen Seite, zwischen Ackerbauern und Viehzüchtern oder zwischen "Einheimischen" und "Zugezogenen". Andere Konflikte, besonders jene um die Kontrolle exportfähiger natürlicher Ressourcen (darunter Edelmetalle, Öl, Gas, seltene Erden, Wasser, Edelholz und Drogen), haben infolge der Integration in den Weltmarkt und der neo-liberalen Wachstumspolitik stark an Bedeutung gewonnen.

Bezogen auf die "Schwellenländer" hebt die neuere Konfliktforschung fünf Makro-Ursachen für das hohe Konfliktpotenzial hervor:

  • das Missverhältnis zwischen mangelhafter Leistungsfähigkeit der politischen Regimes einerseits und den mobilisierten politischen und sozialen Erwartungen andererseits,

  • die neo-liberale Wirtschaftspolitik und das egoistische Verhalten multinationaler Konzerne,

  • die Verschärfung der sozio-ökonomischen Ungleichheit zwischen Zentrum und Peripherie sowie zwischen verschiedenen sozialen, ethnischen und religiösen Gruppen,

  • der Einflussgewinn paramilitärischer Gruppen und Bewegungen, die ihre Ziele und Handlungen mit fundamentalistischen Ideologien rechtfertigen,

  • die politische Vetomacht des Militärs und die Tendenz zur Militarisierung der Innenpolitik.

Mangelnde Leistungsfähigkeit der politischen Systeme

Die mangelnde Leistungsfähigkeit des Staates in "Schwellenländern" ist u.a. an hoher Korruption, Patronage und Klientelismus, an defekter Rechtsstaatlichkeit und an einem defizitären Angebot öffentlicher Dienstleistungen ablesbar. Größere Staaten mit tiefen, sich wechselseitig verstärkenden ethnischen, regionalen, religiösen, ökonomischen und politischen Spaltungslinien scheinen dafür besonders anfällig zu sein. Die Tendenz zur Selbstbereicherung der Eliten wird durch mangelnde "checks and balances" zwischen den Regierungsgewalten und ausgeprägte informelle Entscheidungsprozesse noch zusätzlich befördert. Die Folge sind erhebliche Legitimationsdefizite des Staates.

Formelle Bekenntnisse zum Föderalismus in den Verfassungen werden von der Zentralmacht nur halbherzig umgesetzt. Die zentralstaatlichen Eliten sehen eine wirkliche Dezentralisierung von Kompetenzen und Macht vor allem als Bedrohung für ihre Kontrollmöglichkeiten und Pfründe. Um ihre politische und wirtschaftliche Macht aufrecht zu erhalten und ihre Ineffizienz zu kompensieren, bevorzugen die Regierungseliten politisch loyale Klientelgruppen. In der Folge repräsentieren die politischen Regimes die innere soziale, ethnische und regionale Vielfalt nur unzureichend. Protest und Widerstand benachteiligter ethnischer und religiöser Gemeinschaften werden wiederum zur Rechtfertigung einer weitgehend repressiven Innenpolitik bemüht.

Der entscheidende Grund für das hohe Konfliktpotenzial der "Schwellenländer" dürfte allerdings sein, dass die Rechtsstaatsdefizite und das hohe Maß an Korruption von einem wachsenden Anteil der Bevölkerung nicht mehr stillschweigend in Kauf genommen werden. Das Wirtschaftswachstum führt zur Entstehung neuer Mittelschichten, die nicht mehr bereit sind, die überkommenen Herrschaftsmuster zu akzeptieren. Die wachsende Verbreitung von Internet und Mobilfunk senkt die Koordinationskosten für politische Proteste, die hegemonialen "Parteimaschinen" können Wahlkämpfe, Wählerblöcke und die öffentliche Kommunikation nicht mehr wie in der Vergangenheit kontrollieren.

Die neoliberale Wirtschaftspolitik und ihre Folgen

Unter den innerstaatlichen Gewaltkonflikten, die zu einem Krieg eskalierten, finden sich mehrere Länder, die zu den prominenten Wachstumsökonomien gehören: Mexiko, Türkei, Pakistan, Indien und Nigeria. Dies wirft die Frage auf, ob Wirtschaftswachstum, das neo-liberalen Rezepten folgt, nicht selbst Konflikte generiert. "Schwellenländer" sind in besonderem Maße der wirtschaftlichen Globalisierung und den Schwankungen der internationalen Konjunktur ausgesetzt. Für die führenden OECD-Staaten fungieren sie als Billiglohnländer, als Absatzmärkte und Lieferanten von Rohstoffen bzw. Halbfabrikaten.

In vielen "neuen Ökonomien" sind Konflikte mit multinationalen Konzernen und nationalen Eliten auf der einen und den Bewohnern der wirtschaftlich ausgebeuteten Regionen auf der anderen Seite an der Tagesordnung. Kapitalistische Normen stehen den lokalen Ansprüchen und kulturellen Werten der lokalen Bevölkerung gegenüber (Calvano 2008). Streitpunkte sind die einseitige Ausbeutung natürlicher Ressourcen, die Zerstörung traditioneller Siedlungsgebiete sowie der völlig unzureichende Arbeits- und Umweltschutz. "Multis" geraten meist dann mit lokalen Gemeinschaften in Konflikt, wenn sie meinen, sich von sozialen und ökologischen Unternehmenspflichten freikaufen zu können, indem sie entweder versuchen, örtliche Entscheidungsträger zu übergehen oder mit Provisionszahlungen zu korrumpieren.

Ein weiteres Problem ist in vielen Schwellenländern der sogenannte Ressourcenfluch. So wird in Nigeria aufgrund der Gewinne aus der Erdölförderung die Landentwicklung vernachlässigt. Die Einnahmen werden nicht für die industrielle Modernisierung genutzt. Die Umweltschäden sind gravierend, während die Kluft zwischen Arm und Reich weiter wächst. Charakteristika dieser Staaten sind die Fusion von Business und Staat, grassierender Staatsinterventionismus, eine Klasse von Rentiers, die von den Erträgen aus den Rohstoffexporten lebt, von der Staatsbürokratie kontrollierte Monopole und die Vernachlässigung von Investitionen im Produktionssektor. Der Binnenmarkt wird meist durch protektionistische Maßnahmen – hohe Zölle bzw. Importtarife – abgeschottet.

Extreme soziale Ungleichheit und Entwurzelung

Neben dem niedrigen Lohnniveau und den prekären Beschäftigungsverhältnissen sind es vor allem das hohe Bevölkerungswachstum, die Landflucht und die Aufblähung der Armutszonen in den großen Städten, die zu erheblichen sozialen Verwerfungen führen. Die Akzeptanz der neo-liberalen Marktwirtschaft wird durch die weltwirtschaftlichen und nationalen Wachstumseinbrüche untergraben, die hauptsächlich der extremen Abhängigkeit von den internationalen Rohstoff- und Finanzmärkten geschuldet ist.

Die sozio-ökonomische Entwurzelung großer Bevölkerungsgruppen zieht die Auflösung traditioneller Sozialbeziehungen nach sich. Die Verlierer der wirtschaftlichen Transformation fühlen sich wie Flüchtlinge im eigenen Land, umgeben von materieller Not, moralischer Degradierung, Misstrauen und Neid. Aufgrund des mangelnden Selbstvertrauens in die eigene Handlungsfähigkeit scheuen sie vor den nötigen Anpassungsschritten und Entscheidungen zurück. Sie sind hin- und hergerissen zwischen ganz unterschiedlichen Werten und Erwartungen: zwischen Zukunftshoffnungen und profanem Lebensalltag, zwischen Unternehmergeist und der Unfähigkeit, ihre Familien zu unterhalten, zwischen Konsumidealen und Raubbau an der Natur, zwischen traditionellen Frauenbildern und der Notwendigkeit für Frauen, zum Lebensunterhalt beizutragen, zwischen Familienverehrung und häuslicher Gewalt, zwischen freiem Markt und krimineller Bereicherung.

In einer Welt fundamentaler Entwurzelung und Verunsicherung versprechen fundamentalistische Ideologien normative Orientierung. Fundamentalistische Formen des Nationalismus und der Religion gewinnen vermehrt Zuspruch. Besonders empfänglich sind soziale Milieus, die sich infolge der Migration in die großen Städte und beschleunigter sozialer Mobilität auflösen. Diese Situation machen sich politische Unternehmer zunutze, indem sie der Auflösung traditioneller Identitäten durch eine striktere Auslegung der Religionen und/oder die Verkündung von Heilslehren begegnen. Ihr Ziel ist es, sich der Loyalität ihrer Anhänger zu versichern sowie Einfluss und Wählerstimmen zu gewinnen.

Einflussgewinn paramilitärischer Gruppen und Bewegungen

Wo die Regelungskapazitäten und das Gewaltmonopol des Staates versagen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass politische, sozio-ökonomische und regionale Auseinandersetzungen zu Gewaltkonflikten eskalieren. In Pakistan, Nigeria und Indonesien gibt es mehrere militante Autonomiebewegungen. In Mexiko kontrolliert die Drogenmafia längst ganze Landstriche und Küstenregionen, die insbesondere für den Drogenschmuggel wichtig sind.

Der Zentralstaat übt sein Gewaltmonopol oft nur in Teilen seines Territoriums aus. Nicht-staatliche Gewaltakteure übernehmen die Kontrolle in "Räumen begrenzter Staatlichkeit". Aufgrund der sozialen, ethnischen, religiösen Heterogenität der Bevölkerungen dieser Länder fällt es gewaltbereiten Akteuren vergleichsweise leicht, vor allem junge Männer ohne Einkommen und Zukunftsaussichten für paramilitärische Gruppen zu rekrutieren.

Charakteristisch für diese paramilitärischen Strukturen ist ein Nebeneinander von extremer Gewaltbereitschaft und ideologischem Furor, von erklärtem Engagement für die Rechte der eigenen Gruppe und unverhohlenem Bereicherungsstreben. Paramilitärische Gruppen übernehmen in den von ihnen kontrollierten Gebieten Rechtsprechung, Strafvollzug und örtliche Verwaltung. In Teilgebieten wird die Scharia toleriert oder sogar anerkannt. Bisweilen arrangieren sich staatliche Sicherheitsorgane und Paramilitärs. Sie treffen Absprachen, sich nicht in die Gebiete und Aktivitäten der jeweils anderen Seite einzumischen. Dabei verschwimmen die Grenzen zwischen staatlicher und privatisierter Sicherheit, zwischen staatlicher Erpressung von Schutzgeldern und organisierter Kriminalität. So können nicht-staatliche Paramilitärs durchaus als öffentliche Dienstleister auftreten und staatliche Sicherheitsorgane im Auftrag privater Unternehmen agieren.

Militarisierung der Innenpolitik

Wenn die politischen Systeme mit der Bewältigung der sozialen und politischen Folgen der dynamischen wirtschaftlichen Entwicklung überfordert sind, zieht dies Protestbewegungen nach sich, deren Unterdrückung wiederum zu einem Machtgewinn der Sicherheitsapparate führt. In hoch korrupten Ländern sind die Streitkräfte oft die am besten organisierte Institution. Phasen ziviler Herrschaft wechseln sich immer wieder mit Militärregimen ab.

Forschungen zur Gewaltbereitschaft in der Innenpolitik verweisen nicht nur auf die Vetomacht von Sicherheitsapparaten gegenüber der Politik, sondern auch auf Sozialisationserfahrungen politischer Entscheidungsträger. In Pakistan, Nigeria und Indonesien haben Generäle über längere Phasen die Innenpolitik entscheidend bestimmt, die Karrierepfade wechseln häufig zwischen Militärdienst, ziviler Politik und Verwaltung. Politiker mit einer militärischen Sozialisation tendieren dazu, ihre militärische Prägung auf das innenpolitische Konfliktverhalten zu übertragen.

Die Militarisierung der Innenpolitik lässt sich auch an der wirtschaftlichen Macht des Militärs ablesen. Durch kommerzielle Aktivitäten, insbesondere im Transport- und Bauwesen, werden Einkommen generiert. Hohe Wachstumsraten in "Schwellenländern" gehen nicht zwingend mit überproportionalen Rüstungsausgaben einher. Jedes Land ist einzigartig. Doch versuchen insbesondere führende "Schwellenländer", ihren Status in den internationalen Beziehungen auch durch ambitionierte Rüstungsprojekte und die Fähigkeit zur regionalen militärischen Machtprojektion zu untermauern. Das führt zur Aufblähung ihres militärisch-industriellen Komplexes (Heinemann-Grüder 2008).

Verfehlte Modernisierungspolitik

Die Modernisierungstheorie, an der sich die Mehrheit der "Schwellenländer" orientiert, sieht das Heil in der Nachahmung des westlichen Modells (kapitalistische Industrialisierung und Wahldemokratie). Obschon die Modernisierungstheorie bereits in den 1970er Jahren als obsolet galt, hat sie die politische Agenda nach 1989 erneut für gut 25 Jahre entscheidend geprägt. Die Theorie hat jedoch auf die Frage nach den Erfordernissen von Entwicklungsstaaten keine Antwort. Dies gilt insbesondere für die Verschränkung von wirtschaftlicher und soziopolitischer Entwicklung: Wie kann die soziale und politische Integration hoch dynamischer "Schwellenländer" gewährleistet werden? Wie sind Staat und Verwaltung heterogener Staaten zugleich effektiv und legitim organisierbar? Wie kann Verteilungsgerechtigkeit und möglichst inklusive politische Partizipation und Repräsentation sichergestellt werden?

Bemerkenswert ist, dass die Entwicklungspolitik zwar gute Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie anmahnt, die Wirkungsannahmen des "liberalen Paradigmas" aber außerordentlich schwach sind, wenn Normen- und Wertekonflikte zwischen Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Kultur aufbrechen. Die Wirtschaft setzt auf individuelle Nutzenmaximierung und "Leistungsgerechtigkeit", während die Gesellschaft und Kultur sich an Gruppensolidarität oder Sozialhierarchien (z.B. dem Kastenwesen) orientieren. Ökonomische Entwicklung und soziale Mobilisierung führen zu Frustration, wenn sie nicht durch politische Partizipation und institutionalisierte Entscheidungsprozesse aufgefangen werden (Huntington 1968: 55). Krisen entstehen insbesondere dann, wenn der Veränderungsdruck so hoch ist, dass die traditionellen institutionellen Grundlagen in Frage gestellt werden, gleichzeitig aber kein Konsens über neue institutionelle Arrangements besteht – darunter die Machtteilung zwischen Zentrum und Regionen, die Trennung von Religion und Staat und die zivile Kontrolle über die Sicherheitsapparate.

Auf die Frage, wie mit Konflikten der Ungleichzeitigkeit und Inkongruenz von Werten und Normen umzugehen ist, hat die Entwicklungstheorie bisher keine überzeugende Antwort. Entscheidend für die Stabilität dürfte die Anpassungs- und Reformfähigkeit des politischen Regimes sein. In der Entwicklungspolitik dominieren jedoch immer noch Wirtschafts- und Finanzexperten, die die politische Steuerung und die demokratische Legitimation von makroökonomischer Politik sträflich vernachlässigen. Das Resultat ist die Entkopplung von neo-liberaler Wachstumspolitik und politischen Institutionen, die sich als unzulänglich erweisen, die erforderlichen Integrations- und Steuerungsleistungen zu erbringen. Wer den Krisen in "Schwellenländern" begegnen will, müsste zunächst eine kritische Auseinandersetzung mit der Krise der "Experten", insbesondere in der politischen Ökonomie, einfordern.

Quellen / Literatur

Calvano, Lisa: Multinational Corporations and Local Communities: A Critical Analysis of Conflict, in: Journal of Business Ethics, Vol. 82, No. 4 (2008), S. 793-805.

Heidelberg Institute for International Conflict Research: Conflict Barometer 2012, [online abrufbar unter Externer Link: http://hiik.de/de/konfliktbarometer/pdf/ConflictBarometer_2012.pdf].

Heinemann-Grüder, Andreas: Neue Hochrüstung: Ursachen und Alternativen, in: Friedensgutachten 2008, hrsg. von A. Heinemann-Grüder, J. Hippler, M. Weingardt, R. Mutz, B. Schoch, Münster: Lit-Verlag, 2008, S. 30-41.

Huntington, Samuel: Political Order in Changing Societies, New Haven, London: Yale University Press, 1968.

Menzel, Ulrich: Das Ende der "Dritten Welt" und das Scheitern der großen Theorie. Zur Soziologie einer Disziplin in auch selbstkritischer Sicht, in: Politische Vierteljahresschrift, März 1991, S. 4-33.

United Nations Development Program: Human Development Reports: Externer Link: http://hdr.undp.org/en/data.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Follath, Erich/ Hesse, Martin: Die zweite Welle, Der Spiegel 6/2014, S. 82-84.

  2. Nach den Kriterien der Kriegsforschung gilt ein Gewaltkonflikt dann als Krieg, wenn er innerhalb eines Jahres mehr als 1.000 konfliktbedingte Tote fordert.

  3. Als Rentiers werden Personen bezeichnet, die von mehr oder weniger regelmäßigen Einkünften aus Kapitalanlagen (z.B. Aktien, Obligationen) oder aus der Verfügung über Land bzw. Rohstoffvorkommen profitieren.

Lizenz

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz "CC BY-NC-ND 3.0 DE - Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland" veröffentlicht. Autor/-in: Andreas Heinemann-Grüder für bpb.de

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Dr. phil. habil. Andreas Heinemann-Grüder lehrt an der Universität Bonn Politikwissenschaft und ist Abteilungsleiter am "Georg-Eckert-Institut. Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung" in Braunschweig.