Lang herrschte in Deutschland die Meinung vor, der syrische Konflikt sei zu kompliziert, als dass man ihn verstehen, geschweige denn eine Rolle bei seiner Lösung spielen könne. Aber je länger der Krieg andauert, desto mehr betreffen uns auch seine Folgen. Mit Sorge wurde auch hierzulande verfolgt, wie im Sommer 2014 eine bis dahin wenig beachtete Terrorgruppe große Teile Syriens und des Irak unter seine Kontrolle bringen konnte. 2015 verübte der "Islamische Staat" auch in Europa zahlreiche Anschläge – den verheerendsten mit 130 Todesopfern am 13.11.2015 in Paris. Nicht zuletzt hat uns die Flüchtlingswelle schmerzlich vor Augen führt, wohin es führen kann, wenn versucht wird, Konflikte auszusitzen, anstatt sie ebenso entschlossen wie lösungsorientiert anzugehen.
Halbherzige Unterstützung des Westens
Die revolutionäre Bewegung gegen das Assad-Regime, die im März 2011 vom südsyrischen Deraa aus ihren Anfang nahm, hätte durchaus Erfolg haben können, wenn sie von Anfang an ausreichend von außen, und insbesondere vom Westen, unterstützt worden wäre. Dagegen wurde dem Regime eine stringente und umfangreiche politische, finanzielle und militärische Unterstützung seitens Russlands und des Iran zuteil.
Die Revolutionsbewegung und die Oppositionellen, die versuchten, in den USA und Europa Unterstützung zu mobilisieren, erhielten zwar rhetorischen Beistand – militärische und finanzielle Hilfe kam aber immer nur so viel, dass das Assad-Regime in Schach gehalten, aber niemals sein Sturz erreicht werden konnte. Das hat vor allem zwei Gründe:
Der erste Grund liegt darin, dass das Regime von Beginn an eine sehr professionelle Öffentlichkeitsarbeit gemacht hat, die darin besteht, sowohl im Inland als auch im Ausland massiv Desinformation zu betreiben. So gelang es ihm, den friedlichen Aufstand, der sich insbesondere gegen die korrupte Elite und die Willkür der Sicherheitsapparate wandte, als bewaffneten Umsturzversuch radikaler Islamisten zu denunzieren. In der Folge konnte es sich als Schutzmacht der konfessionellen Minderheiten im Land präsentieren und große Teile zum Rückzug aus der Protestbewegung bewegen. Die Propaganda verfehlte auch im Westen nicht ihre Wirkung. Entscheidungsträger wurden in ihrer Haltung zur Revolutionsbewegung verunsichert und so von substanzieller, konkret: militärischer Hilfe, abgehalten.
Das Regime schreckte auch nicht davor zurück, seinen eigenen Lügen zweifelhafte Glaubwürdigkeit zu verleihen, indem es gewaltbereite Dschihadisten, die seit Jahren in syrischen Hochsicherheitsgefängnissen einsaßen, auf freien Fuß setzte. Gleichzeitig wurden Aktivisten, die sich für eine demokratische und pluralistische Ordnung in Syrien einsetzten, zu Tausenden inhaftiert oder umgebracht. Von vielen fehlt seit Jahren jede Spur. Die Brutalität, mit der das Regime gegen aufständische Städte und Dörfer vorging, tat das Übrige, um die Bewegung in die Radikalisierung und Militarisierung zu treiben.
Ein zweiter Grund liegt in den Verschiebungen, die sich zeitgleich mit dem Arabischen Frühling in der internationalen Ordnung vollzogen: Die USA unter Präsident Obama waren nach zwei desaströsen Militärinterventionen in Afghanistan und Irak nicht mehr bereit, sich militärisch in der Region zu engagieren, und zogen sich auf sich selbst zurück. Dies spielte dem russischen Präsidenten Putin in die Hände, der danach trachtet, Russland wieder zu alter Größe zurückzuführen und sich politisch wie militärisch dort ausbreitet, wo die USA wenig Willen erkennen lassen, eine gestaltende Rolle zu spielen.
Die Zurückhaltung des Westens setzte in Syrien eine Spirale in Gang, die die Entwicklung bis heute prägt: Das Ausbleiben substanzieller Hilfe aus dem Westen führte dazu, dass die Aufständischen Hilfe von Staaten und privaten Gebern annahmen, die ihre eigene Agenda in Syrien verfolgen: von der Türkei und Katar. Beiden Staaten ging es darum, die Muslimbruderschaft an die Macht zu bringen. Gleichzeitig nutzten international operierende dschihadistische Netzwerke das entstehende Machtvakuum, um sich in Syrien festzusetzen und die Revolution zu unterwandern. Dies verstärkte wiederum die im Westen bestehenden Unsicherheiten und Vorurteile, weshalb eine ausreichende Hilfe für die – bis heute sehr heterogene – Opposition ausblieb.
Das Grundproblem ist Assad, nicht der IS
Auch die offenkundige Brutalität des Assad-Regimes, die den westlichen Regierungen sehr wohl bekannt war und ist, stellt bis heute offenbar keinen ausreichenden Grund dar, um sich stärker für die Beendigung des Krieges zu engagieren. Das Regime begeht in großem Umfang Verbrechen gegen die Menschlichkeit, es bombardiert Zivilisten und hungert sie aus. Jährlich werden hunderte Gefangene zu Tode gefoltert. Wie das Syrische Netzwerk für Menschenrechte dokumentiert hat, waren das syrische Regime und seine Verbündeten im Jahr 2015 für 78% der über 12.000 zivilen Opfer verantwortlich. Die Oppositionskräfte, einschließlich der Nusra-Front, hingegen für 7% und selbst der IS "nur" für 8%.
Durch die Berichterstattung in westlichen Medien entsteht allerdings bei uns das Bild, der IS sei das größere Problem in Syrien und nicht etwa das Regime. Das wiederum liegt daran, dass der IS seine Untaten medial inszeniert und dafür sorgt, dass die Schreckensmeldungen in den Medien Verbreitung finden. Dagegen versucht das Regime, die Weltöffentlichkeit außen vor zu halten, indem es Berichte selbst über gut dokumentierte Menschenrechtsverbrechen, wie zum Beispiel zuletzt das Aushungern von Madaya, hartnäckig dementiert.
Mit dieser Taktik des Leugnens und Tatsachenverdrehens kommt das Regime durch, weil Syrien mit Russland eine Großmacht an seiner Seite hat, die im UN-Sicherheitsrat dafür sorgt, dass es für sein Verhalten zwar getadelt wird, aber keine Konsequenzen zu befürchten hat. Russland hat seit Beginn im Sicherheitsrat jede Resolution mit einem Veto belegt, die ein UN-Mandat für ein militärisches Eingreifen impliziert hätte. Zugestimmt hat es nur solchen Resolutionen, die es vorher im Verhandlungsprozess soweit verwässert hatte, dass sie dem Regime nicht mehr gefährlich werden konnten. Russland war es auch, das nach dem Chemiewaffenangriff auf Vororte von Damaskus im August 2013 das Regime vor einer militärischen Strafaktion der USA und ihrer Verbündeten bewahrt hat, indem es Assad in letzter Sekunde davon überzeugte, sein Chemiewaffenarsenal abzugeben.
Das ist aber nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist die, dass die USA Russland im internationalen Kräftespiel gewähren lassen. Per UN-Resolution 2139 vom 22.02.2014 wurden alle kriegführende Parteien, und explizit die syrischen Behörden, dazu aufgefordert, die Entsendung humanitärer Hilfe in alle Landesteile zu ermöglichen. Dass zwei Jahre später zum wiederholten Mal Menschen in vom Regime belagerten Gebieten verhungern, ist ein Ausdruck dafür, wie halbherzig der Westen die Umsetzung dieser Beschlüsse verfolgt.
Militärische Intervention ja – aber nicht durch Bomben
Westliche Entscheidungsträger, die von der syrischen Opposition, die sich seit 2011 ins Ausland retten konnte, und von internationalen Menschenrechtsorganisationen zur Durchsetzung humanitärer Hilfe und vor allem zur Einrichtung einer Flugverbotszone aufgefordert wurden, äußerten sich meist dahingehend, dass es ohne eine Einigung im UN-Sicherheitsrat kein Mandat für einen militärischen Einsatz in Syrien gebe. Gleichzeitig sieht man sich jetzt aber verpflichtet, auch ohne UN-Mandat Luftangriffe gegen den IS in Syrien zu fliegen. Selbst die deutsche Regierung, die jahrelang jeglichen Militäreinsatz in Syrien ohne UN-Mandat kategorisch ausgeschlossen hat, sah sich nach den Terroranschlägen von Paris in der Pflicht, sich auf Bitten Frankreichs an den Luftschlägen gegen den IS zu beteiligen.
Begründet wurde dies mit der Bündnissolidarität zu Frankreich. Man darf sich die Frage stellen, warum die Bündnissolidarität dann greift, wenn es darum geht, Frankreich in einer Strategie zu unterstützen, die das Problem langfristig nur weiter verschärfen wird und warum es nicht möglich war, mit Frankreich an einem Strang zu ziehen, als Paris versuchte, politische Unterstützung für die Einrichtung einer Flugverbotszone in Syrien zu mobilisieren. Die vom IS gehaltenen Gebiete zu bombardieren und dadurch das Leid der Zivilbevölkerung noch zu vergrößern, wird genau das befördern, was wir zu bekämpfen suchen: Dieser Aktionismus wird noch mehr Flüchtlinge produzieren, dem IS noch mehr Kämpfer in die Arme treiben und Deutschland zu einem primären Anschlagsziele machen.
Diese Strategie wird umso weniger aufgehen, je länger der Westen zuschaut, wie Russland seit Ende September 2015 auf Seiten des syrischen Regimes militärisch in den Konflikt eingreift und dabei ganz überwiegend von eher moderaten Rebellengruppen kontrollierte Gebiete bombardiert, aus denen das Regime schon vor Jahren verdrängt worden war und die bisher erfolgreich gegen das Regime und den IS verteidigt wurden. In diesen Gebieten hat sich eine aktive Zivilgesellschaft entwickelt, die versucht, die Infrastruktur durch Selbstverwaltung aufrecht zu erhalten und den Menschen eine Lebensperspektive zu bieten.
Diese Zivilgesellschaft gilt es zu unterstützen, wenn Syrien auf Dauer befriedet werden soll. Das heißt, dass die Rebellengebiete gegen Luftangriffe geschützt werden und die Grundbedürfnisse der Bevölkerung gedeckt werden müssen. Es braucht Nahrungsmittel, medizinische Versorgung und Heizmaterial in ausreichendem Maß, um die Bevölkerung mit dem Nötigsten zu versorgen. Internationale Hilfsorganisationen verweisen auf die Sisyphusarbeit, die sie seit Jahren leisten. Kliniken werden ausgestattet, Schulen hergerichtet, Infrastruktur für Wasser und Strom zur Verfügung gestellt, um dann vom Regime oder von russischen Raketen und Bomben wieder zerstört zu werden.
In einem UN-Bericht heißt es, dass 2015 von 91 beantragten Hilfslieferungen nur 27 vom Regime genehmigt und nur 13 durchgeführt wurden. Man fragt sich, wozu es überhaupt eine Genehmigung für solche Hilfslieferungen braucht, wenn doch der UN-Sicherheitsrat beschlossen hat, dass alle Seiten verpflichtet sind, diese durchzulassen. Die syrische Opposition forderte den UN-Sicherheitsrat deshalb in einem Brief vom 07.01.2016 auf, den Einsatz von Drohnen zu prüfen, um Hilfslieferungen über belagerten Gebieten abzuwerfen.
Das Ende des Konfliktes ist nur durch eine politische Lösung erreichbar. Die Ende Januar 2016 beginnenden Friedensverhandlungen in Genf können ein Schritt in diese Richtung sein. Aber solange der Westen nicht die Entschlossenheit aufbringt, dem Regime und Russland die Stirn zu bieten, wird dieser Friedensprozess keine haltbaren Ergebnisse zustande bringen. Einer von Russland favorisierten Verhandlungslösung, die Assad und seine Entourage an der Macht und die Militär- und Sicherheitsapparate unangetastet lässt, wird die Opposition nicht zustimmen können, weil die Rebellengruppen unter diesen Voraussetzungen niemals die Waffen niederlegen werden.
Kommen keine Verhandlungen zustande, besteht die Gefahr, dass der Krieg sich weiter verstetigt und sich noch mehr Menschen in Syrien aus Enttäuschung über den Westen dem IS oder anderen dschihadistischen Gruppen anschließen – mit allen Folgen auch für die Region und Europa.