Auf der Bonner Afghanistan-Konferenz am 5. Dezember 2011 wurde der Übergang von der Phase der Transition, die 2014 offiziell endete, zu einer neuen, bis 2024 laufenden Dekade der Transformation bekräftigt. Die in Bonn versammelte internationale Gemeinschaft lobte das Erreichte und versprach weitere Unterstützung des Landes im Rahmen einer erneuerten Partnerschaft. Seitdem zog die internationale Koalition die meisten ihrer über 100.000 Kampftruppen ab. Lediglich 13.000 Mann blieben vor Ort (davon ca. 10.00 US-Truppen). Ihr Engagement konzentriert sich seitdem vornehmlich auf die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte (ANSF) und auf die Reform des Sicherheitssektors.
Parallel zum Abzug erstarkten die Aufständischen, mit der Folge, dass die USA und ihre Partner ihr militärisches Engagement 2015 wieder etwas verstärken mussten, einschließlich vermehrter Einsätze von Spezialkräften. Die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen (UNAMA) meldet eine Zunahme der Aktivitäten der Aufständischen und eine Rekordhöhe ziviler Opfer. Die Aufständischen errangen unerwartete militärische Erfolge wie z.B. die Eroberung von Kundus Ende September 2015. Die US-Militärs vor Ort konzedierten, dass die ANSF noch nicht in der Lage seien, völlig selbstständig zu operieren. Korruption, hohe Verluste und eine unfähige Regierung zehren an der Moral der ANSF.
Legt man US-amerikanische Erfolgsindikatoren der bisherigen Aufstandsbekämpfung zugrunde, so sieht die Lage ziemlich trostlos aus:
Der allgemeine Trend im Bereich "gute Regierungsführung" ist weiterhin negativ. Auch die neue, 2014 gebildete Regierung der nationalen Einheit wird der Korruption nicht Herr, die staatlichen Institutionen funktionieren immer noch nicht wie erhofft.
Der Aufbau verlässlicher Sicherheitsstrukturen ist mit vielen Fragezeichen behaftet. Sie reichen von der mangelhaften Leistungsfähigkeit und Verlässlichkeit der Sicherheitskräfte bis hin zu Zweifeln an der Finanzierbarkeit und der demokratischen Kontrolle eines großen Teils des Sicherheitsapparats.
Die Unterstützung der Aufständischen durch externe Kräfte (v.a. Pakistan) hält an. Mittlerweile ist auch der sogenannte Islamische Staat in Afghanistan präsent. Es scheint kaum möglich, diese Aktivitäten dauerhaft zu unterbinden.
Das Gleiche gilt für die Verfügbarkeit und Nutzung eines sicheren Rückzugsraums für die Aufständischen, der insbesondere durch Pakistan bereitgestellt wird.
Henry Kissingers Erkenntnis, dass eine Guerilla, die nicht verliert, letztlich gewinnt, bestätigt sich einmal mehr. Daraus folgt, dass der Ansatz des militärisch gestützten Staatsaufbaus in Afghanistan selbst bei Anwendung immanenter Erfolgskriterien zum Scheitern verurteilt ist. Ein militärischer Sieg-Frieden ist wegen der Stärke der Aufständischen und der Schwäche der afghanischen Armee kein realistisches Szenario. Welche Optionen rbleiben also der internationalen Gemeinschaft?
Ein sofortiger Abzug, auch der Ausbildungsmission, scheint bereits deshalb nicht machbar, weil die Alliierten eigene Interessen in der Region verfolgen. Zudem ist es aus Gründen der Glaubwürdigkeit und des Völkerrechts geboten, dass die internationale Gemeinschaft ein Land, in dem sie militärisch interveniert hat, nicht ohne Nachsorge verlässt. Des Weiteren spielen aus deutscher Sicht vor allem bündnispolitische Erwägungen eine Rolle. Die Ende 2015 beschlossene Aufstockung des deutschen Ausbildungskontingents begründete die Bundesregierung – hauptsächlich aus innenpolitischen Gründen – mit der Flüchtlingskrise in Europa und der Notwenigkeit, die Bedingungen in Afghanistan so zu stabilisieren, dass die Menschen im Land bleiben.
Ein langfristiges Engagement im Bereich der Ausbildung von Militärs und Polizisten ist denkbar, muss aber auch irgendwann einmal beendet werden. Bleibt also nur eine Option: die politische Regelung. Die Probleme Afghanistans sind struktureller Art und können deshalb auch nur durch einen langfristigen Entwicklungsprozess gelöst werden. Voraussetzung dafür ist vor allem eine politische Verständigung der Afghanen untereinander. Von diesen Annahmen ausgehend bieten sich im Wesentlichen drei Handlungsoptionen an:
Die erste Option basiert auf einem Best-Case-Szenario. Demnach einigen sich alle afghanischen Hauptakteure, einschließlich der Taliban, grundsätzlich auf eine politische Regelung des Konflikts. Alle setzen sich an einen Tisch mit dem Ziel, eine wirklich repräsentative Regierung der nationalen Einheit zu bilden. Deren Aufgabe ist es, Fragen der Politikgestaltung und der politischen Ordnung zu regeln. Die gemeinsame Aufarbeitung der Vergangenheit und die Schaffung neuer, afghanisch bestimmter politischer Strukturen werden als parallele Prozesse organisiert. Eine zu bildende Allparteienregierung in Kabul wäre aufgrund ihrer Heterogenität zwar eher schwach, doch verfügte sie über ein hohes Maß an Legitimität, da alle Kräfte und Interessen berücksichtigt würden. Solange alle Akteure sich an die vereinbarten Spielregeln halten, würde eine relative politische Stabilität bei hohem Autonomiegrad der lokalen Akteure ermöglicht. Auf regionaler Ebene engagieren sich alle Nachbarstaaten und andere strategisch relevante Akteure sowie internationale und Regionalorganisationen in einem Konferenzprozess über Sicherheit, wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Angestrebt werden ein politisches Grundlagendokument über die Gestaltung der wechselseitigen Beziehungen und ein regionaler Stabilitätspakt für ein neutrales Afghanistan.
Das der zweiten Option zugrunde liegende Szenario geht davon aus, dass der gewaltsam ausgetragene Konflikt in Afghanistan andauert. Die internationale Gemeinschaft unterstützt weiterhin die Regierung in Kabul. Die Beteiligung an direkten militärischen Einsätzen bleibt auf ein Minimum reduziert, zugleich wird die Reform des Sicherheitssektors und der Verwaltung unterstützt. Ziel ist es, das Kräfteverhältnis zwischen regierungsnahen Kräften und Aufständischen so zu beeinflussen, dass Letztere keine Siegchance mehr haben und früher oder später den Weg zur ersten Option einschlagen. Auch die zweite Option müsste, soweit möglich, durch regionale Strukturen unterstützt werden.
Die dritte Option bestünde darin, dass die internationale Gemeinschaft nur noch die nicht-paschtunischen Kräfte unterstützt und sich aus den südlichen und östlichen Gebieten zurückzuzieht. Diese Variante bietet einerseits die Möglichkeit, den Entwicklungsprozess im Norden und Westen abzusichern und eventuell sogar schneller voranzutreiben. Andererseits birgt sie das Risiko einer Spaltung des Landes in sich. Außerdem würde dadurch das benachbarte Pakistan direkt herausgefordert. Denn eine Spaltung Afghanistans würde unweigerlich auch die Existenz des Staates Pakistan gefährden. In Pakistan leben mehr Paschtunen als in Afghanistan und ein Zusammenschluss der paschtunischen Stämme zu einem "Großpaschtunistan" würde höchstwahrscheinlich das Ende Pakistans in seinen heutigen Grenzen einläuten. Ein zentrales Ziel der pakistanischen Afghanistan-Politik besteht darin, genau dies zu verhindern.
Alle Optionen bedeuten den endgültigen Abschied von der Illusion, Afghanistan könne auf absehbare Zeit nach westlichem Vorbild modernisiert werden. Stattdessen sollte sich die internationale Gemeinschaft damit zufrieden geben, eine erneute alleinige Machtübernahme der Taliban durch dosierte Unterstützung entsprechender lokaler und regionaler Kräfte zu verhindern. Zugleich müsste sie den politischen Prozess für eine Verhandlungslösung unter Einbeziehung der Taliban vorantreiben. Die zeitweise bestehenden Gesprächskontakte zwischen den USA und der politischen Führung der Taliban lassen das oben skizzierte Best-Case-Szenario möglich erscheinen. Ebenso möglich ist allerdings, dass Afghanistan wieder in einen Bürgerkrieg zurückfällt.
Mehr als vierzehn Jahre nach dem Beginn des Engagements muss konstatiert werden, dass die internationale Gemeinschaft mit ihrem Konzept des militärisch gestützten Staatsaufbaus gescheitert ist. Die Gründe dafür sind vielfältig: kulturelle Ignoranz, Unterschätzung der Rolle lokaler Patronagenetzwerke, Überschätzung der Fähigkeiten der ANSF, überzogene und wenig präzisierte Ziele, falsche Prioritätensetzungen und viel Schönfärberei. Die Verantwortlichen unterlagen einer dreifachen Fehlannahme: Sie gingen davon aus, dass
westliche Institutionen in ein Land ohne entsprechende Staatstradition exportiert werden könnten,
die politischen Eliten und die Bevölkerung dieses Landes die westliche Analyse teilen und deren Ziele unterstützen würden sowie
in den NATO-Ländern der politische Wille bestehe, die für die Erreichung dieser ambitionierten Ziele erforderlichen Mittel auch langfristig aufzubringen.
Internationales Engagement in Krisenländern wie Afghanistan ist auch künftig nötig. Dafür müssen die Regierungen in den westlichen Staaten für den nötigen innenpolitischen Rückhalt sorgen. Dazu gehören u.a. realistische Analysen zur Lage in dem Krisenland. Folgt man den letzten Lageanalysen der Bundesregierung, so hat sich in den vergangenen Jahren die Situation in Afghanistan langsam aber stetig verbessert. Im letzten Fortschrittsbericht von 2014 ist sogar davon die Rede, dass sich die afghanischen Sicherheitskräfte (ANSF) nach der Übernahme der Verantwortung von der internationalen Unterstützungstruppe ISAF bewährt hätten. Die Sicherheitslage habe sich nicht entscheidend verändert…
Ebenso dringlich wie eine realistische Analyse der Situation ist eine neue Strategie, die endlich den strukturellen Reformen Priorität beimisst. Sie sollte einer nachhaltigen friedenspolitischen Logik folgen und nicht einer primär sicherheits- und machtpolitischen. Mit anderen Worten: Die Entwicklung des Ziellandes sollte Vorrang haben vor sicherheitspolitischen und militärischen (war on terror), geostrategischen (Kontrolle des Mittleren Ostens und Südasiens), ideologischen (regime change) oder bündnispolitischen Interessen (Rolle und Zukunft der NATO). Letztlich ist es an den Afghanen, selbstständig und souverän zu entscheiden, unter welcher politischen und wirtschaftlichen Ordnung sie in ihrem Land leben wollen.