Leben wir in Deutschland aufgrund der historischen Errungenschaften der europäischen Aufklärung und des westlichen Universalismus in einer säkularisierten, von Irrationalität und ideologischen Zwangsvorstellungen weitgehend befreiten Gesellschaft? Wie die jüngste Vergabe des Friedensnobelpreises an die Europäische Union zeigt, hat dieses Selbstbild die eigendynamische Tendenz sich als self-fulfilling prophecy in einem surrealen Zwischenraum zwischen dem imaginierten und dem ersehnten Selbst zu verselbstständigen. Es ist ein selbstreferenzieller Diskurs, der an der komplexeren Realität mit seinen uneindeutigen Grenzen zu scheitern droht.
Auffällig ist auch, dass mithilfe orientalistischer, rassistischer oder antiziganistischer Zerrbilder und Stereotypen die "Anderen" als binäre Opposition zum vernunftbegabten westlich-demokratischen Subjekt kreiert werden. Umso größer war daher die Überraschung für das "westliche Expertentum" als das unerwartet große Verlangen nach Freiheit, Demokratie und Menschenrechten der "arabischen Massen" zum nicht möglich gehaltenen Ausbruch des "Arabischen Frühlings" führte. Die aus innerem Antrieb in Gang gesetzte "Arabellion" kann auch als Krise dualistisch geprägter Welt- und Menschenbilder gelesen werden. Das dahinterstehende Motiv, universalistische Werte und die Fähigkeit zur Selbstkritik und Aufklärung vor allem als westliche Attribute zu monopolisieren, steht im Konflikt mit komplexeren und realistischeren Analysen.
Auch innenpolitisch spielt diese grundlegende und oftmals als nicht überbrückbar gedachte Grenzziehung in der Frage der Zugehörigkeit zum "gesellschaftlichen Wir" in Sinne eines Foucaultschen Dispositivs eine ausgesprochen fundamentale Rolle:
Diese diskriminatorisch kodierte Binarität, die Menschen entlang historisch etablierter Machtdynamiken und ethnisch-kultureller Identitätsmodelle in "Zugehörige" und "Fremde" aufspaltet, reartikuliert in Gesellschaften mit latenter kolonialer Prägung meines Erachtens nach die Grenzziehungen des colonial divide.
Die mangelnde Bereitschaft, die undemokratische Norm rassifizierter Privilegien wie Marginalisierungen etwa durch eine aktive Anti-Diskriminierungspolitik infrage zu stellen, steht in einem engen Zusammenhang mit der verdrängten und unsichtbar gemachten kolonialen Erfahrung der deutschen Gesellschaft und ihrem verborgenen Nachleben in der politischen Kultur. Wiederholt haben unterschiedliche empirische Untersuchungen attestiert, dass etwa ein Viertel der deutschen Bevölkerung über latent rechtsextreme und rassistische Einstellungen verfügt, die auf entsprechend wirkungsmächtigen Weltbildern basieren.
Wie stark ein biologistisches Verständnis von gesellschaftlicher Zugehörigkeit im deutschen Kontext präsent ist, lässt sich an einem Klassiker des Desintegrationsdiskurses im Alltag ablesen.
Die nach wie vor nicht aufgearbeitete koloniale Geschichte Deutschlands und ihre kulturellen Präsenzen sind meiner Meinung nach ein Kernproblem auf dem Weg zu einer Einwanderungsgesellschaft, die sich tatsächlich ihrer historischen Dimensionen und strukturellen Machtkonstellationen bewusst ist. Die Bewusstmachung und der Abbau kolonialer Altlasten und Strukturen im kulturellen und institutionellen Gefüge der Gesellschaft sind von elementarer Bedeutung, wenn wir tatsächlich alle gemeinsam mit unseren unendlichen Differenzen und trotz unserer unterschiedlichen geschichtlichen Ausgangsbedingungen gleichberechtigt in einer Rassismus abbauenden Gesellschaft leben wollen.
Blinde Flecken
Nach Einschätzungen mancher Fachexperten produzierte die DDR-Geschichtswissenschaft erstaunlicherweise gerade in diesem Arbeitsbereich trotz politischer Instrumentalisierung "eine Vielzahl origineller Untersuchungen",
Für eine selbstkritische Analyse der tradierten politischen Kultur und der wissenschaftlich bestimmenden Leitorientierungen in der früheren Bundesrepublik kann eine vergleichende Perspektive durchaus erhellend sein. Gerade im Vergleich mit der politischen Kultur der DDR, die nicht gerade für ihre Selbstreflexivität bekannt ist, treten ideologische Defizite und blinde Flecken umso deutlicher in Erscheinung. Die vergleichsweise fortgeschrittene Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit Deutschlands in der DDR-Geschichtswissenschaft resultierte vor allem aus der weitgehenden Verdrängung in Westdeutschland. Die politische wie wissenschaftliche Diskussion in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft befand sich in einem lähmenden Vakuum. Nicht nur der Holocaust, sondern auch Begriffe wie Rassismus und Kolonialismus waren tabuisiert, da sie die Ideologie und Praktiken der Nationalsozialisten wachriefen.
Erst die zunehmenden studentischen Proteste gegen den als neokolonial wahrgenommenen Vietnamkrieg der USA und ihrer Verbündeten sowie die allmähliche Thematisierung und Aufarbeitung des deutschen Genozids an den europäischen Jüdinnen und Juden bewirkte eine kurzzeitige Horizontöffnung. In der Bundesrepublik kam eine kritisch intendierte Aufarbeitung des Imperialismus erst Ende der 1960er Jahre in einem größeren Umfang auf. Die kurze akademische Modewelle der westdeutschen Kolonialforschung flaute jedoch parallel zur Krise der Neuen Linken bereits Mitte der 1970er Jahre ab.
Umkämpfte Räume und Perspektiven
Seit Ende der 1990er Jahre erfährt die interdisziplinäre Erforschung der kolonialen Geschichte Deutschlands im Rahmen imperialer Weltsysteme ein Revival. Obwohl auch andere Fachrichtungen wie die Soziologie, Kulturwissenschaft und Ethnologie in Deutschland Interesse zeigten, wird dieser Themenkomplex vor allem von der Geschichtswissenschaft bearbeitet. Die Anzahl von Publikationen, Konferenzen und Forschungsprojekten ist in den vergangenen Jahren spürbar gestiegen. Obwohl diese Entwicklung grundsätzlich positiv ist, stellt die relative Dominanz der Geschichtswissenschaft auch ein Problem dar, da sie auch unwillentlich das politische Interesse an einer Historisierung verstärkt und andere Zugänge in der gesellschaftlichen Wahrnehmung marginalisiert. Auch lassen sich Defizite und problematische Trends in der Aufarbeitung ausmachen.
So beschäftigt sich ein Großteil der Forschung mit der Kolonialisierung außereuropäischer Gebiete. Das hat jedoch zur Folge, dass der wechselseitige Prozess von äußerer Fremd- und innerer Selbst-Kolonialisierung aufgespalten wird. Auf diese Weise bleibt die Produktion entgrenzter Räume mit ihren weitreichenden sozioökonomischen, kulturellen, politischen und juristischen Effekten im Prozess der Kolonialisierung unterbelichtet. Solche Ansätze laufen Gefahr neue Blindstellen zu schaffen, da sie ein einseitiges Bild der Kolonialisierung entwerfen. Vielversprechender sind dagegen Ansätze, die davon ausgehen, dass die Kolonialisierung ein wechselseitiger Prozess ist, der sowohl die kolonialisierenden als auch die kolonialisierten Länder mit unterschiedlichen Auswirkungen verändert. Studien, welche die Kontinuität und Transformation kolonialer Denkweisen, Bilder und Strukturen bis in die Gegenwart analysieren, sind immer noch recht selten. Solange die Überlagerung ineinanderlaufender Zeit- und Gesellschaftssedimente kein relevantes Thema ist und die wissenschaftliche Aufarbeitung rein historisch verbleibt, können die Einflüsse kolonialer Effekte auf die rassistischen Konditionen der deutschen Gegenwartsgesellschaft nicht in den Blick genommen werden.
Im Prozess der Aufarbeitung stoßen wir unvermeidlich auf eine Vielzahl neuer Fragestellungen und Problemlagen, die auf die Unabgeschlossenheit postkolonialer Räume, Verhältnisse und Interessenkonflikte hinweisen. Sie schließt nichts ab, sondern eröffnet eine Vielzahl neuer Baustellen, die ihre eigenen Abgründe offenbaren. Deutlich wird das bei manchen Formen, die sich nach den Interessen eines Weißen Massenpublikums richten, wie etwa bei den mit großem Aufwand hergestellten ZDF-Dokumentationsfilmen. Den Anfang machte die dreiteilige Serie "Deutsche Kolonien" (2005), die unter der wissenschaftlichen Mitarbeit eines bekannten Kolonialhistorikers hergestellt wurde.
Was diese Filmbeispiele im Verhältnis von Repräsentation und Perspektivität offenbaren, wiederholt sich in subtileren und weniger offensichtlichen Formen auch in anderen Prozessen und Ebenen der Aufarbeitung. Die Prozesse der Aufarbeitung sind nicht jenseits der gesellschaftlichen Machtverhältnisse verortet, die rassistische und koloniale Logiken begünstigen können. Ein zentraler Punkt ist daher die grundlegende Frage, wie beim Versuch der Aufarbeitung diskriminierende Prozeduren, eurozentristische Standards und rassistische Effekte vermieden werden können. Diese Frage ist auch beim heutigen Umgang mit dem deutschen Genozid an den Herero und Nama präsent und lässt sich auch nicht von der Kontroverse über eine angemessene Gedenk- und Reparationspolitik abkoppeln. Auch in anderen Kontexten stellt sich diese Grundfrage: so etwa in der Auseinandersetzung um die ethnologischen Sammlungen und ihre musealen Arbeitskonzepte. Es bestehen unterschiedliche Vorstellungen über die Thematisierung der Kolonialgeschichte von Institutionen und die Aneignung außereuropäischer Kulturgüter, die sich mit der richtigen oder angemessenen Form der Repräsentation und Kontextualisierung beschäftigen. Ähnliches lässt sich über die langwierige Diskussion über Sinn und Unsinn des Berliner Humboldt-Forums oder von den verschiedenen postkolonialen Aktionsgruppen sagen, die Straßenumbenennungen, Umwidmung öffentlicher Räume und einen kritischen Umgang mit Kolonialdenkmälern einfordern.
Im Kern geht es um eine viel weiter reichende Streitfrage: Wollen wir koloniale Aufarbeitung oder wollen wir Deutschlands Kultur dekolonialisieren? Wenn ja, welche Wege und Mittel sind gangbar und zielführend? Natürlich hängt die Antwort auch von der Struktur der deutschen Kultur- und Wissenschaftslandschaft ab. Solange ihre Institutionen noch am Anfang interkultureller Öffnungsprozesse stehen, ist die Antwort absehbar. Gegenwärtig haben wir eine Struktur, in der die Perspektiven von People of Color im Regelfall nur Amateur- oder Betroffenenstatus erhalten.
Für die weitere Entwicklung ist die Frage wesentlich, ob kritische Forschungsansätze an deutschen Universitäten Raum erhalten. Das wird auch Einfluss darauf haben, welche Perspektiven in den wissenschaftlichen und kulturpolitischen Deutungskämpfen vertreten sind. Wünschenswert wäre es, wenn in diesem Rahmen ein Prozess der kulturellen und epistemologischen Dekolonialisierung eingeleitet werden könnte, der sich auch auf andere Bereiche überträgt.
Dieser Artikel erschien erstmalig in Interner Link: "Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 44–45/2012): Kolonialismus".