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Ambivalenzen der Modernisierung durch Kolonialismus | (Post)kolonialismus und Globalgeschichte | bpb.de

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Ambivalenzen der Modernisierung durch Kolonialismus

Ursula Lehmkuhl

/ 14 Minuten zu lesen

Kolonialismus und Modernisierung sind untrennbar miteinander verbunden. Die Erfahrungen des Kolonialismus haben Innovationsprozesse ausgelöst – allerdings auch eine Modernisierung ohne Entwicklung produziert.

Seit den 1960er Jahren wird die These vom Kolonialismus als Medium oder Vehikel der Modernisierung der außereuropäischen Welt diskutiert. In jüngeren Arbeiten wird argumentiert, dass beide Prozesse – Kolonialismus und Modernisierung – untrennbar zusammengehören. "Colonialism is what modernity was all about", erklärt etwa Nicholas Dirks und bezieht sich dabei insbesondere auf den historischen Umstand, dass sich der europäische Nationalstaat als politisches Signum der Moderne im 18. Jahrhundert im Verlauf der Expansions- und Eroberungsprozesse erst herausbildete und dies vor allem auf Kosten vormoderner Gesellschaften. Von Ann Stoler stammt das Diktum von den Kolonien als "Laboratorien der Moderne", das mittlerweile die Diskussion des Zusammenhangs von Kolonialismus und Modernisierung leitmotivisch charakterisiert. Beide Positionen beziehen sich auf die durch postkoloniale Forschungsperspektiven und die Frage nach der Verflechtung von europäischer und außereuropäischer Geschichte aufgeworfene Problematik von der Interdependenz der Entstehung und globalen Verbreitung der Ideen und Institutionen der europäischen Moderne – durch und mit der Etablierung europäischer Kolonialherrschaft.

Davon zu unterscheiden sind zwei weitere Positionen und Perspektiven, mit denen das Thema "Modernisierung durch Kolonialismus" diskutiert wird: Zum einen untersucht die geschichtswissenschaftliche Forschung, inwiefern europäische Kolonialherrschaft tatsächlich zu einer Modernisierung der Kolonialgesellschaften beigetragen hat. Dabei stehen der Aufbau moderner politischer, wirtschaftlicher und sozialer Strukturen sowie die infrastrukturelle und technologische Entwicklung der Kolonien während der Kolonialherrschaft im Zentrum des Interesses. Zweitens wird aus eher politikwissenschaftlicher Perspektive die Frage aufgeworfen, wie nachhaltig solche Entwicklungen waren und welche Effekte die Modernisierungsanstrengungen des europäischen Kolonialismus auf die betroffenen Gesellschaften nach der Beendigung der Kolonialherrschaft hatten. Welcher Zusammenhang besteht zwischen struktureller Unterentwicklung und Kolonialherrschaft? Wie wirken koloniale wirtschaftliche Strukturen nach der Entkolonialisierung nach und was trägt zu ihrer Perpetuierung bei? Welche Rolle spielen postkoloniale Eliten? Dabei ist auch auf den Imperialismus der Dekolonisation hingewiesen worden. Im Zusammenhang mit der Debatte um gescheiterte Staaten wird schließlich die These einer möglichen Pfadabhängigkeit zwischen kolonialer Erfahrung und Staatsversagen diskutiert.

Ob und in welcher Weise Kolonialismus als Quelle von Fortschritt und Zivilisation betrachtet werden kann, soll im Folgenden entlang dieser drei Perspektiven diskutiert werden. Dabei sollen zunächst Schlüsselkonzepte, welche die Diskussion leiten – Modernisierung/Modernität und Zivilisierung/Zivilisation – umrissen werden.

Zivilisation und Zivilisierung.

Zivilisation bezeichnet die durch Fortschritt von Wissenschaft und Technik ermöglichten und von Politik und Wirtschaft geschaffenen Lebensbedingungen, deren Ausbreitung und Ausdifferenzierung in den europäischen Gesellschaften seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zu beobachten sind. Im Rahmen des europäischen Kolonialismus und Imperialismus erfuhr das Konzept eine semantische Erweiterung und Neubewertung. Hier wird Zivilisation als Gegenbegriff zu Barbarei benutzt. So konnte sich die Vorstellung von "unzivilisierten außereuropäischen" Gesellschaften, denen die "europäische zivilisierte" Gesellschaft gegenübergestellt wurde, etablieren und verfestigen.

In dieser semantischen Erweiterung bezeichnet Zivilisierung auch den Prozess der kulturellen Unterwerfung der Kolonien. Die mit den Zivilisierungsansprüchen einhergehenden Bemühungen um eine umfassende Christianisierung, die Etablierung moderner Kommunikations- und Verkehrsmittel sowie einer modernen Bürokratie, das Vordringen staatlicher Schulbildung und die Erzwingung einheitlicher Rechtssetzung und Rechtsanwendung gehen weit über die Etablierung formaler Kolonialherrschaft hinaus. Zivilisierung bedeutet insofern die umfassende Europäisierung kolonialer Lebenswelten, entlang eines europäischen Selbstverständnisses, das sich über die negative Abgrenzung nach außen, gegenüber dem Fremden, dem "Barbarischen" als zivilisiert, hygienisch und christlich definierte.

Modernität und Modernisierung.

Zivilisation ist im beschriebenen Selbstverständnis des 18. und 19. Jahrhunderts konzeptuell deckungsgleich mit dem Begriff der Modernität. Modernität war gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Europa wie in Asien, Afrika oder auch Russland Synonym für die wissenschaftlich-technischen und politisch-administrativen Leistungen, auf welche die europäischen Großmächte ihre Macht und ihren Reichtum gründeten. Modernisierung wurde entsprechend als Aneignung der Grundlagen westlichen Wohlstands und westlicher Macht verstanden.

Interessant ist, dass dieses insbesondere für die kolonialen Eliten Asiens charakteristische Verständnis von Modernisierung dem Begriff von Modernisierung entspricht, welcher soziologischen Modernisierungstheorien zugrunde liegt. Modernisierungstheorien gehen von der Annahme aus, dass Entwicklungshemmnisse nicht so sehr von wirtschaftlichen Defiziten verursacht würden, sondern Resultat der Eigenarten und Wertvorstellungen traditionaler Gesellschaften seien. Gründe für Unterentwicklung seien somit endogene Faktoren, wie etwa mangelnde Investitionsneigung, Korruption, Misswirtschaft, Mangel an good governance. Grundzüge dieses Gedankenganges finden sich bereits bei Max Weber. Kern der Modernisierungstheorien ist somit der postulierte Gegensatz zwischen "moderner" und "traditioneller" Welt. Modernisierung bezeichnet hier den unumkehrbaren Prozess der Transformation traditionaler Gesellschaften durch technologische und wissenschaftliche Innovation. Zu den zentralen Merkmalen dieses Prozesses zählten unter anderem die Zunahme der industriellen Produktion, anhaltendes wirtschaftliches Wachstum, zunehmende Einbindung in übernationale Zusammenhänge, Bürokratisierung, soziale und politische Mobilisierung, sozio-strukturelle Ausdifferenzierung und Spezialisierung, Erhöhung des Bildungsniveaus oder niedrigere Geburten- und Todesraten.

Ausgehend von diesem positiven Verständnis von Modernisierung wurde das Phänomen des Imperialismus lange Zeit als bedauerliche Begleiterscheinung des a priori positiven Wegs zur Modernisierung über den Kontakt mit dem Westen betrachtet. Dies verstellte den analytischen Blick für die negativen Folgen der durch den Kolonialismus angestoßenen Transformationsprozesse, die häufig in chronischen Krisen mündeten und das Phänomen der "Modernisierung ohne Entwicklung" bedingten. Denn unter den Kolonialsystemen wurde häufig eine sehr einseitige Wirtschaftsstruktur entwickelt. Moderne Extraktions- und Exportwirtschaften wurden aufgebaut, ohne die Territorialwirtschaft als Ganzes zu modernisieren.

Hier setzen modernisierungskritische Ansätze wie beispielsweise die in lateinamerikanischen Wissenschaftsdiskursen in den 1960er Jahren entwickelte Dependenztheorie an. Es wurde argumentiert, dass äußere Faktoren, die historisch auf die europäische Kolonialherrschaft zurückzuführen seien, den Entwicklungsländern dauerhaft eine strukturell stabile nachrangige Position in der Weltwirtschaft zuweisen. Die europäische Kolonialherrschaft habe die Wirtschaft der betroffenen Gesellschaften einseitig auf die Bedürfnisse der Kolonialmächte ausgerichtet und damit auch ihre Entwicklungsmöglichkeiten blockiert.

Dieses ungünstige Machtverhältnis bestehe auch nach der Dekolonialisierung weiter, sodass die ehemaligen Kolonialregionen weiterhin nur als wirtschaftliche Peripherie der als Metropolen fungierenden klassischen Industrieländer aufträten. Die Einbindung in den Weltmarkt, die Aktivität multinationaler Unternehmen und die fortgesetzte Heranziehung als bloße Rohstoffexporteure verfestigten die abhängige Position der Entwicklungsländer in der Peripherie der Weltwirtschaft, statt sie – wie von den Modernisierungstheorien angenommen – zu verbessern. Die ökonomische Binnenstruktur der Entwicklungsländer sei dadurch und durch kulturell überformte einheimische Eliten, die den Interessen der Metropolen weiter dienten oder über die Etablierung autokratischer Herrschaftsstrukturen die wirtschaftliche Ausbeutung zum Zwecke der eigenen Bereicherung fortsetzten, dauerhaft deformiert und verzerrt worden.

Auch die Folgen der politischen Modernisierung durch den Export des europäischen Staatsmodells werden kritisch diskutiert und für strukturelle politische Krisen und deren Folgen historisch verantwortlich gemacht.

Postkoloniale Kritik am Modernisierungsparadigma

Die Idee der Moderne beziehungsweise der Modernisierung und ihre Stellung in der soziologischen Theoriebildung ist im Rahmen der Debatten, die unter dem Stichwort des Postkolonialismus geführt werden, einer fundamentalen Kritik unterzogen worden. Sozialwissenschaftliche Theorien der Moderne beziehungsweise der Modernisierung seien fundamental eurozentristisch und beruhten auf mindestens zwei falschen Annahmen, nämlich des fundamentalen Bruchs der Moderne mit früheren, traditionalen Organisationsformen und der Differenz Europas zum Rest der Welt.

Diese Kritik hat den analytischen Blick auf koloniale Widerständigkeiten gegen europäische Modernisierungsversuche geöffnet und darauf aufmerksam gemacht, dass Impulse aus dem Westen in der nicht-westlichen Welt nicht allein zu bloßen Imitaten einer hegemonialen Zivilisation geführt haben, sondern als Ausfluss jeweils spezifischer Aneignungs- und Abwehrprozesse auch zu spezifischen Ausprägungen von Modernität in den unterschiedlichen Kolonialregionen.

Schließlich wurden auch Modernisierungsprozesse in den Blick genommen, die unabhängig von der europäischen kolonialen Präsenz gleichsam als indigene Form der Modernisierung ausgelöst durch nicht-koloniale Formen des Kulturkontakts verliefen. So wurden etwa in den asiatischen Gesellschaften die Natur- und Ingenieurwissenschaften des Westens nicht nur als Instrumente der Fremdherrschaft betrachtet, sondern als universale kognitive Werkzeuge adaptiert.

Während sich Forschungsarbeiten in den 1970er Jahren insbesondere auf die ökonomischen Folgen der Modernisierung von Industrie, Finanzwesen und Handel konzentrierten, widmeten sich die Forschungsbeiträge der 1990er und 2000er Jahre vor allem kulturellen Themen. Ohne dass dies hier in der notwendigen Differenziertheit ausgebreitet werden kann, bleibt festzuhalten, dass die gegenwärtige kolonialgeschichtliche Forschung durch konkurrierende Vorstellungen von Modernität geprägt ist. Zum einen erscheint Modernität in traditioneller Weise als Ergebnis objektiver, universaler Prozesse.

Demgegenüber hat sich insbesondere im Kontext der kulturwissenschaftlich geprägten Forschung ein Verständnis von Modernität etabliert, welches diese im Bereich des Imaginären ansiedelt. Ein solcher politik- und ökonomiefreier Begriff von Modernität läuft allerdings Gefahr, zentrale Aspekte der kolonialen Lebenswelt auszublenden. Gerade auch die auf Zivilisierung und Modernisierung zielenden Interventionen europäischer Kolonialmächte waren durchzogen von Machtfragen, von Fragen des Rechts und der Verteilung materieller Lebenschancen in den kolonialen Gesellschaften.

Modernisierung ohne Kolonialismus

Kolonialismus bezeichnet ein System der wirtschaftlichen und politischen Herrschaft eines Staates über Regionen außerhalb seiner eigenen Grenzen. Kolonialismus ist geprägt durch das Bemühen der Kolonialmächte, neue Siedlungs- und Wirtschaftsräume zu erschließen und ihre Machtbasis auszuweiten. Kolonialismus stellt insofern eine erste Stufe der Globalisierung unter europäischen Vorzeichen dar. Europa, so lautet die zentrale These von Jürgen Osterhammel, war für zwei oder drei Jahrhunderte in einem wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Sinne die primäre weltordnende Kraft. Es war das Zentrum globaler Ordnung. Spätestens um 1900 war Europa als "Westen" oder "westliche Zivilisation" im Bewusstsein nicht-europäischer Eliten omnipräsent.

Europa, der Westen oder westliche Zivilisation entwickelten sich so – auch unabhängig von den Ambitionen und Interventionen europäischer Kolonialmächte – in vielerlei Hinsicht zum Vorbild. Wir können im 19. Jahrhundert insbesondere in Indien, Japan und China, aber auch in Russland eine Europäisierung der elitären Lebenswelten beobachten. China und Japan stehen dabei als Beispiele für Modernisierung außereuropäischer Kulturstaaten ohne Kolonialismus, einfach durch Übernahme und Weiterverarbeitung der westlichen Technik, westlicher materieller und intellektueller Errungenschaften. Wesentliche Impulse zur Modernisierung gingen von den Asiaten und Afrikanern selbst aus. In allen Fällen führte die Europäisierung elitärer Lebenswelten zu einer Vergrößerung der kulturellen Kluft zwischen den Besitzenden und Gebildeten und dem niederen Volk. Sinnstiftungsangebote ließen sich in den dörflichen beziehungsweise bäuerlichen Alltag nicht integrieren und führten zu Widerstand gegen die Zumutungen der Moderne.

In einem Punkt waren sich die Reformer, die eine Modernisierung der bestehenden Sozialordnungen anstrebten, allerdings relativ einig. Europa beziehungsweise der Westen hatten Vorbildcharakter im Hinblick auf die verhältnismäßig günstige Stellung der Frau in der Familie. Der Westen wurde zum Maßstab für den Kampf gegen Misshandlung, Frauenhandel, Zwangsverheiratung oder die chinesische Sitte des Fußbindens. Auch das öffentliche Unterrichtswesen vor allem Deutschlands und Frankreichs fand Anerkennung und Nachahmung im Asien der Jahrhundertwende, insbesondere in Japan.

Japan ist ohne Zweifel als ein Sonderfall der Europäisierung elitärer Lebenswelten herauszustellen. Die Triebkräfte der Meiji-Restauration (ab 1868) spielten gekonnt mit dem Modernisierungsbaukasten und wählten aus der vorhandenen Musterkollektion von Modernitätselementen jene Elemente aus, die dem politischen Ziel der Integration Japans in den Westen am zuträglichsten waren, unabhängig davon, ob diese Elemente gesellschaftlich vermittelbar waren. Während Japan dabei auch auf die USA blickte, orientierten sich Indiens Modernisierungsbestrebungen ganz am britischen Vorbild.

Die Südasienforschung hat seit den 1960er Jahren auf die Dialektik der Modernisierung traditionaler Gesellschaften hingewiesen. Dabei wurde herausgearbeitet, dass die Grenzen zwischen modernen und traditionellen Gesellschaften weniger eindeutig sind, als gewöhnlich angenommen. So hat etwa Christopher Bayly in seiner Untersuchung sozialer Kommunikation in Indien gezeigt, dass die vorkoloniale gesellschaftliche Kommunikation in vielerlei Hinsicht bereits modern gewesen sei. Öffentliche Debatten wurden durch die Herausgabe und Nutzung von Zeitungen angeregt und gesteuert. Es gab Bibliotheken und Archive, die als einheimische Informationssysteme öffentliches Handeln strukturierten. Konfrontiert mit der Fremdherrschaft, die zur Rechtfertigung des Kolonialismus auf europäische Errungenschaften in Wissenschaft und Technik rekurrierten, waren die Inder allerdings gezwungen, ihre eigene Modernität zu konstruieren. Südasiatische Modernität war ein komplexes Produkt der Interaktion zwischen einheimischen und europäischen Informationssystemen. Anders als in Japan und China, trat Modernität in Indien nicht primär als technologische Entwicklung in Erscheinung, sondern übersetzte sich hier in eine teilweise militante Züge annehmende zivilisatorische Weltanschauung.

Die Einführung moderner Elemente wie etwa Straßen, Eisenbahnen, Häfen, Kanalisation war in Afrika hingegen häufig nur Nebenprodukt der wirtschaftlichen Ausbeutung oder unumgänglicher Schutz der herrschenden weißen Kolonialoligarchie (wie Krankenhäuser, Seuchenbekämpfung). Ansätze zur eigenständigen Modernisierung wurden in Afrika von Kolonialmächten häufig im Keim erstickt.

Modernisierung und kolonialer Widerstand

Um 1900 übte Europa in Asien und Afrika "in einem beispiellosen Maße koloniale Herrschaft, quasi-kolonialen Einfluss und eine Art von Hegemonie über die modernen Sektoren der Wirtschaft aus". Allerdings gab es überall auch resistente Zonen und residuale Widerständigkeiten bis hin zum tatkräftig praktizierten Widerstand, der den Europäern insbesondere in Asien entgegengebracht wurde. Eine besondere Rolle spielten dabei die Gelehrten oder Intellektuellen als sich öffentlich artikulierende Meinungsführer ihrer jeweiligen Gesellschaften. Viele befürworteten und unterstützten den durch die Kolonialherrschaft angestoßenen Modernisierungsprozess. Aber es gab auch Widerstand gegen die Kräfte der Verwestlichung – Widerstand, der auch zur Erfindung eigener Traditionen als Instrument der Selbstbehauptung gegen die Kräfte des europäischen Kolonialismus führte. Dabei empfanden es chinesische Intellektuelle nicht als Widerspruch, gegen den westlichen Imperialismus zu agitieren und gleichzeitig die Übernahme westlicher Wissenschaft auf allen Gebieten zu empfehlen.

Indische Gelehrte und Intellektuelle deckten in ihrem Selbstbehauptungskampf offensiv die Widersprüchlichkeiten der europäischen Zivilisationsrhetorik auf. Während die Kolonialmächte im Sinne der Ideen der europäischen Aufklärung die Gleichheit menschlicher Rechte und Pflichten postulierten, bestanden sie in ihrer Herrschaftspraxis auf der Institutionalisierung der Differenz. Vertreter der afrikanischen Bildungselite gingen – wie Kirsten Rüther in ihrem Beitrag "Globale Interaktion und regionale Differenzierung – gegenseitige Wahrnehmung zwischen ‚Europa‘ und ‚Afrika‘" auf dem Historikertag 2012 gezeigt hat – häufig mit subversiven und ironisierenden Strategien mit solchen Widersprüchen um.

Innovation und Entwicklung durch kulturellen Transfer

Bis in die 1990er Jahre hinein stand die Frage nach dem weltweiten Export europäischer Kultur im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Diese Perspektive hat sich unter dem Einfluss von Stimmen aus den ehemals kolonisierten Ländern und den Perspektiven der Postcolonial Studies verschoben. Auch das Bemühen um die Etablierung des neuen Ansatzes einer transnationalen Gesellschaftsgeschichte ging einher mit dem Postulat, die Geschichte Europas zu provinzialisieren. In dem Maße wie transfergeschichtliche Fragestellungen an Bedeutung gewonnen haben, rückte die Frage nach den Interaktionen zwischen Kolonisierten und Kolonisierenden ins Blickfeld der Geschichtsschreibung. Das exportorientierte Einbahnstraßen-Modell wurde dabei zunächst durch eine Perspektive des fremden Blicks auf Europa abgelöst.

Heute weisen Arbeiten zu Prozessen kultureller Übersetzung den Weg für die historische Erforschung der komplexen globalen Interaktions- und Austauschprozesse, die zu historischem Wandel der sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Kontextbedingungen aller Beteiligten beigetragen haben. Dabei wird auch die machtpolitische Durchsetzung von Aneignungs- und Abwehrprozessen zwischen Gesellschaften und Kulturen in den Blick genommen.

Die Verbreitung und der Transfer von Wissen (Ideen, Erfahrungen) zwischen unterschiedlichen räumlichen Einheiten bestimmt die Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Entwicklung und Innovation ist nur durch ständigen kulturellen Kontakt und Austausch denkbar. Innovation ist im Wesentlichen das Resultat von Transfer-, Disseminations- und Übersetzungsprozessen. Die Zirkulation von Ideen, die Konstituierung epistemischer Gemeinschaften, die internationale Verbreitung von Rechtsordnungen oder ideologischen Referenzsystemen, hierarchische oder horizontale, eher spontan organisierte Kommunikationslinien, Interpretationen, Re-Interpretationen, Missverständnisse und Mythen gehören zu den Mechanismen, die Wandel und Innovation auslösen und Gesellschaften transformieren.

Für die Analyse der Komplexität dieser Bewegungen und der sie begleitenden Lern- und Transferprozesse gilt es, die Perspektiven des interkulturellen Transfers und des interkulturellen Vergleichs sowie Diffusions- und Lerntheorien aufzugreifen und theoretisch weiterzuentwickeln. Anknüpfungspunkte hierfür bietet die Übersetzungsforschung, insbesondere die Konzepte der kulturellen und konzeptuellen Übersetzung. Die Untersuchung der Ambivalenzen und der Dialektik von Kolonialismus und Fortschritt, Zivilisation, Modernisierung bedürfen eines analytischen Zugangs, der Machtasymmetrien, Missverständnisse, gescheiterte Kommunikation und fehlgeschlagene Transfers ebenso berücksichtigt wie die Reflexivität kulturellen Austausches und die Verflechtung von europäischer Geschichte und Kolonialgeschichte, durch welche die koloniale Erfahrung zu einem unhintergehbaren Element westlicher Alltagswelt geworden ist.

Dieser Artikel erschien erstmalig in Interner Link: "Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 44–45/2012): Kolonialismus".

Fussnoten

Fußnoten

  1. Vgl. Paul Gillen/Devleena Ghosh, Colonialism and Modernity, Sydney 2007.

  2. Vgl. Nicholas B. Dirks, Castes of Mind: Colonialism and the Making of Modern India, Princeton 2001.

  3. Vgl. Ann L. Stoler/Frederick Cooper (eds.), Tensions of Empire: Colonial Cultures in a Bourgeois World, Berkeley 1997.

  4. Vgl. W. Roger Louis/Ronald Robinson, The Imperialism of Decolonization, in: Journal of Imperial and Commonwealth History, 22 (1994) 3, S. 462–511.

  5. Vgl. Andrew Burton/Michael Jennings, The Emperor’s New Clothes?, in: International Journal of African Historical Studies, 40 (2007) 1, S. 1–25. Vgl. hierzu auch das Forschungsprogramm des SFB 700: Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit: Externer Link: http://www.sfb-governance.de (1.10.2012).

  6. Vgl. Niels P. Petersson, Imperialismus und Modernisierung: Siam, China und die europäischen Mächte 1895–1914, München 2000, S. 20; Jörg Baberowski, Auf der Suche nach Eindeutigkeit: Kolonialismus und zivilisatorische Mission im Zarenreich und in der Sowjetunion, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, 47 (1999) 4, S. 482–504; Frederick Cooper, Africa since 1940: The Past of the Present, Cambridge, MA 2002.

  7. Vgl. Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Tübingen 1934.

  8. Vgl. Mustafa O. Attir et al. (eds.), Directions of Change: Modernization Theory, Research, and Realities, Boulder 1981; Bret L. Billet, Modernization Theory and Economic Development: Discontent in the Developing World, Westport 1993; Nils Gilman, Mandarins of the Future: Modernization Theory in Cold War America, Baltimore 2003.

  9. Vgl. N.P. Petersson (Anm. 6), S. 21.

  10. Vgl. Fuabeh Paul Fonge, Modernization without Development in Africa: Patterns of Change and Continuity in Post-independence Cameroonian Public Service, Trenton 1997; Norman Jacobs, Modernization without Development: Thailand as an Asian Case Study, New York 1971.

  11. Vgl. Dudley Seers (ed.), Dependency Theory: A Critical Reassessment, London 1981; Catherine V. Scott, Gender and Development: Rethinking Modernization and Dependency Theory, Boulder 1995.

  12. Vgl. Jost Dülffer/Marc Frey (eds.), Elites and Decolonization in the Twentieth Century, New York 2011.

  13. Vgl. Wolfgang Reinhard/Elisabeth Müller-Luckner (Hrsg.), Verstaatlichung der Welt? Europäische Staatsmodelle und außereuropäische Machtprozesse, München 1999.

  14. Vgl. Gurminder K. Bhambra, Rethinking Modernity: Postcolonialism and the Sociological Imagination, New York 2007.

  15. Vgl. Jürgen Osterhammel, Ex-zentrische Geschichte. Außenansichten europäischer Modernität, in: Jahrbuch des Wissenschaftskollegs zu Berlin, Berlin 2002, S. 297.

  16. Vgl. ders./Niels P. Petersson, Geschichte der Globalisierung. Dimensionen, Prozesse, Epochen, München 2003.

  17. Vgl. Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt: Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009.

  18. Vgl. ders., Fremdbeschreibungen: Spuren von "Okzidentalismus" vor 1930, in: Lutz Raphael (Hrsg.), Theorien und Experimente der Moderne, Köln–Weimar–Wien 2012, S. 303.

  19. Vgl. ders./Niels P. Petersson, Ostasiens Jahrhundertwende. Unterwerfung und Erneuerung in west-östlichen Sichtweisen, in: Geschichte und Gesellschaft, 18 (2000), Sonderheft: Das Neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, S. 265–306.

  20. Vgl. J. Osterhammel (Anm. 15), S. 313.

  21. Vgl. Lloyd I. Rudolph/Susanne Hoeber Rudolph, The Modernity of Tradition: Political Development in India, Chicago 1967.

  22. Vgl. Christopher A. Bayly, Empire and Information: Intelligence Gathering and Social Communication in India, 1780–1870, Cambridge, MA–New York 1996.

  23. Vgl. Lynn Zastoupil, Englische Erziehung und indische Modernität, in: Geschichte und Gesellschaft, 28 (2002) 1, S. 12.

  24. Vgl. J. Osterhammel (Anm. 15), S. 312.

  25. Vgl. Julia Tischler, Resisting Modernisation?, in: Comparativ, 21 (2011) 1, S. 60–75.

  26. J. Osterhammel/N. P. Petersson (Anm. 19), S. 267.

  27. Vgl. N.P. Petersson (Anm. 6).

  28. Vgl. Eric Hobsbawm/Terence O. Ranger (eds.), The Invention of Tradition, Cambridge, MA 1983.

  29. Vgl. J. Osterhammel/N. P. Petersson (Anm. 19), S. 274f.

  30. Vgl. Bill Ashcroft et al. (eds.), The Empire Writes Back: Theory and Practice in Post-Colonial Literatures, London–New York 2002.

  31. Vgl. hierzu die Beiträge zum Themenheft "Übersetzung" der Zeitschrift "Geschichte und Gesellschaft", 38 (2012) 2.

  32. Vgl. Doris Bachmann-Medick, Übersetzung als Medium interkultureller Kommunikation und Auseinandersetzung, in: Friedrich Jaeger/Jürgen Straub (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 2: Paradigmen und Disziplinen, Stuttgart–Weimar 2004, S. 449–465; dies., Introduction: The Translational Turn, in: Translation Studies, 2 (2009) 1, S. 2–16.

  33. Vgl. Rudolf Stichweh, Kultur, Wissen und die Theorien soziokultureller Evolution, in: Soziale Welt, 50 (1999), S. 459–470; Nico Stehr, The Fragility of Modern Societies: Knowledge and Risk in the Information Age, London 2001.

  34. Vgl. Simone Lässig, Übersetzungen in der Geschichte – Geschichte als Übersetzung?, in: Geschichte und Gesellschaft, 38 (2012) 2, S. 189–216; Doris Bachmann-Medick, Menschenrechte als Übersetzungsproblem, in: ebd., S. 331–359.

Dr. phil., geb. 1962; Professorin für Internationale Geschichte, FB III, Universität Trier, 54286 Trier. E-Mail Link: lehmkuhl@uni-trier.de