Seit den 1960er Jahren wird die These vom Kolonialismus als Medium oder Vehikel der Modernisierung der außereuropäischen Welt diskutiert. In jüngeren Arbeiten wird argumentiert, dass beide Prozesse – Kolonialismus und Modernisierung – untrennbar zusammengehören.
Davon zu unterscheiden sind zwei weitere Positionen und Perspektiven, mit denen das Thema "Modernisierung durch Kolonialismus" diskutiert wird: Zum einen untersucht die geschichtswissenschaftliche Forschung, inwiefern europäische Kolonialherrschaft tatsächlich zu einer Modernisierung der Kolonialgesellschaften beigetragen hat. Dabei stehen der Aufbau moderner politischer, wirtschaftlicher und sozialer Strukturen sowie die infrastrukturelle und technologische Entwicklung der Kolonien während der Kolonialherrschaft im Zentrum des Interesses. Zweitens wird aus eher politikwissenschaftlicher Perspektive die Frage aufgeworfen, wie nachhaltig solche Entwicklungen waren und welche Effekte die Modernisierungsanstrengungen des europäischen Kolonialismus auf die betroffenen Gesellschaften nach der Beendigung der Kolonialherrschaft hatten. Welcher Zusammenhang besteht zwischen struktureller Unterentwicklung und Kolonialherrschaft? Wie wirken koloniale wirtschaftliche Strukturen nach der Entkolonialisierung nach und was trägt zu ihrer Perpetuierung bei? Welche Rolle spielen postkoloniale Eliten? Dabei ist auch auf den Imperialismus der Dekolonisation hingewiesen worden.
Ob und in welcher Weise Kolonialismus als Quelle von Fortschritt und Zivilisation betrachtet werden kann, soll im Folgenden entlang dieser drei Perspektiven diskutiert werden. Dabei sollen zunächst Schlüsselkonzepte, welche die Diskussion leiten – Modernisierung/Modernität und Zivilisierung/Zivilisation – umrissen werden.
Zivilisation und Zivilisierung.
Zivilisation bezeichnet die durch Fortschritt von Wissenschaft und Technik ermöglichten und von Politik und Wirtschaft geschaffenen Lebensbedingungen, deren Ausbreitung und Ausdifferenzierung in den europäischen Gesellschaften seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert zu beobachten sind. Im Rahmen des europäischen Kolonialismus und Imperialismus erfuhr das Konzept eine semantische Erweiterung und Neubewertung. Hier wird Zivilisation als Gegenbegriff zu Barbarei benutzt. So konnte sich die Vorstellung von "unzivilisierten außereuropäischen" Gesellschaften, denen die "europäische zivilisierte" Gesellschaft gegenübergestellt wurde, etablieren und verfestigen.
In dieser semantischen Erweiterung bezeichnet Zivilisierung auch den Prozess der kulturellen Unterwerfung der Kolonien. Die mit den Zivilisierungsansprüchen einhergehenden Bemühungen um eine umfassende Christianisierung, die Etablierung moderner Kommunikations- und Verkehrsmittel sowie einer modernen Bürokratie, das Vordringen staatlicher Schulbildung und die Erzwingung einheitlicher Rechtssetzung und Rechtsanwendung gehen weit über die Etablierung formaler Kolonialherrschaft hinaus. Zivilisierung bedeutet insofern die umfassende Europäisierung kolonialer Lebenswelten, entlang eines europäischen Selbstverständnisses, das sich über die negative Abgrenzung nach außen, gegenüber dem Fremden, dem "Barbarischen" als zivilisiert, hygienisch und christlich definierte.
Modernität und Modernisierung.
Zivilisation ist im beschriebenen Selbstverständnis des 18. und 19. Jahrhunderts konzeptuell deckungsgleich mit dem Begriff der Modernität. Modernität war gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Europa wie in Asien, Afrika oder auch Russland Synonym für die wissenschaftlich-technischen und politisch-administrativen Leistungen, auf welche die europäischen Großmächte ihre Macht und ihren Reichtum gründeten. Modernisierung wurde entsprechend als Aneignung der Grundlagen westlichen Wohlstands und westlicher Macht verstanden.
Interessant ist, dass dieses insbesondere für die kolonialen Eliten Asiens charakteristische Verständnis von Modernisierung dem Begriff von Modernisierung entspricht, welcher soziologischen Modernisierungstheorien zugrunde liegt. Modernisierungstheorien gehen von der Annahme aus, dass Entwicklungshemmnisse nicht so sehr von wirtschaftlichen Defiziten verursacht würden, sondern Resultat der Eigenarten und Wertvorstellungen traditionaler Gesellschaften seien. Gründe für Unterentwicklung seien somit endogene Faktoren, wie etwa mangelnde Investitionsneigung, Korruption, Misswirtschaft, Mangel an good governance. Grundzüge dieses Gedankenganges finden sich bereits bei Max Weber.
Ausgehend von diesem positiven Verständnis von Modernisierung wurde das Phänomen des Imperialismus lange Zeit als bedauerliche Begleiterscheinung des a priori positiven Wegs zur Modernisierung über den Kontakt mit dem Westen betrachtet.
Hier setzen modernisierungskritische Ansätze wie beispielsweise die in lateinamerikanischen Wissenschaftsdiskursen in den 1960er Jahren entwickelte Dependenztheorie an. Es wurde argumentiert, dass äußere Faktoren, die historisch auf die europäische Kolonialherrschaft zurückzuführen seien, den Entwicklungsländern dauerhaft eine strukturell stabile nachrangige Position in der Weltwirtschaft zuweisen. Die europäische Kolonialherrschaft habe die Wirtschaft der betroffenen Gesellschaften einseitig auf die Bedürfnisse der Kolonialmächte ausgerichtet und damit auch ihre Entwicklungsmöglichkeiten blockiert.
Dieses ungünstige Machtverhältnis bestehe auch nach der Dekolonialisierung weiter, sodass die ehemaligen Kolonialregionen weiterhin nur als wirtschaftliche Peripherie der als Metropolen fungierenden klassischen Industrieländer aufträten.
Auch die Folgen der politischen Modernisierung durch den Export des europäischen Staatsmodells werden kritisch diskutiert und für strukturelle politische Krisen und deren Folgen historisch verantwortlich gemacht.
Postkoloniale Kritik am Modernisierungsparadigma
Die Idee der Moderne beziehungsweise der Modernisierung und ihre Stellung in der soziologischen Theoriebildung ist im Rahmen der Debatten, die unter dem Stichwort des Postkolonialismus geführt werden, einer fundamentalen Kritik unterzogen worden. Sozialwissenschaftliche Theorien der Moderne beziehungsweise der Modernisierung seien fundamental eurozentristisch und beruhten auf mindestens zwei falschen Annahmen, nämlich des fundamentalen Bruchs der Moderne mit früheren, traditionalen Organisationsformen und der Differenz Europas zum Rest der Welt.
Diese Kritik hat den analytischen Blick auf koloniale Widerständigkeiten gegen europäische Modernisierungsversuche geöffnet und darauf aufmerksam gemacht, dass Impulse aus dem Westen in der nicht-westlichen Welt nicht allein zu bloßen Imitaten einer hegemonialen Zivilisation geführt haben, sondern als Ausfluss jeweils spezifischer Aneignungs- und Abwehrprozesse auch zu spezifischen Ausprägungen von Modernität in den unterschiedlichen Kolonialregionen.
Schließlich wurden auch Modernisierungsprozesse in den Blick genommen, die unabhängig von der europäischen kolonialen Präsenz gleichsam als indigene Form der Modernisierung ausgelöst durch nicht-koloniale Formen des Kulturkontakts verliefen. So wurden etwa in den asiatischen Gesellschaften die Natur- und Ingenieurwissenschaften des Westens nicht nur als Instrumente der Fremdherrschaft betrachtet, sondern als universale kognitive Werkzeuge adaptiert.
Während sich Forschungsarbeiten in den 1970er Jahren insbesondere auf die ökonomischen Folgen der Modernisierung von Industrie, Finanzwesen und Handel konzentrierten, widmeten sich die Forschungsbeiträge der 1990er und 2000er Jahre vor allem kulturellen Themen. Ohne dass dies hier in der notwendigen Differenziertheit ausgebreitet werden kann, bleibt festzuhalten, dass die gegenwärtige kolonialgeschichtliche Forschung durch konkurrierende Vorstellungen von Modernität geprägt ist. Zum einen erscheint Modernität in traditioneller Weise als Ergebnis objektiver, universaler Prozesse.
Demgegenüber hat sich insbesondere im Kontext der kulturwissenschaftlich geprägten Forschung ein Verständnis von Modernität etabliert, welches diese im Bereich des Imaginären ansiedelt. Ein solcher politik- und ökonomiefreier Begriff von Modernität läuft allerdings Gefahr, zentrale Aspekte der kolonialen Lebenswelt auszublenden. Gerade auch die auf Zivilisierung und Modernisierung zielenden Interventionen europäischer Kolonialmächte waren durchzogen von Machtfragen, von Fragen des Rechts und der Verteilung materieller Lebenschancen in den kolonialen Gesellschaften.
Modernisierung ohne Kolonialismus
Kolonialismus bezeichnet ein System der wirtschaftlichen und politischen Herrschaft eines Staates über Regionen außerhalb seiner eigenen Grenzen. Kolonialismus ist geprägt durch das Bemühen der Kolonialmächte, neue Siedlungs- und Wirtschaftsräume zu erschließen und ihre Machtbasis auszuweiten. Kolonialismus stellt insofern eine erste Stufe der Globalisierung unter europäischen Vorzeichen dar.
Europa, der Westen oder westliche Zivilisation entwickelten sich so – auch unabhängig von den Ambitionen und Interventionen europäischer Kolonialmächte – in vielerlei Hinsicht zum Vorbild. Wir können im 19. Jahrhundert insbesondere in Indien, Japan und China, aber auch in Russland eine Europäisierung der elitären Lebenswelten beobachten. China und Japan stehen dabei als Beispiele für Modernisierung außereuropäischer Kulturstaaten ohne Kolonialismus, einfach durch Übernahme und Weiterverarbeitung der westlichen Technik, westlicher materieller und intellektueller Errungenschaften. Wesentliche Impulse zur Modernisierung gingen von den Asiaten und Afrikanern selbst aus. In allen Fällen führte die Europäisierung elitärer Lebenswelten zu einer Vergrößerung der kulturellen Kluft zwischen den Besitzenden und Gebildeten und dem niederen Volk. Sinnstiftungsangebote ließen sich in den dörflichen beziehungsweise bäuerlichen Alltag nicht integrieren und führten zu Widerstand gegen die Zumutungen der Moderne.
In einem Punkt waren sich die Reformer, die eine Modernisierung der bestehenden Sozialordnungen anstrebten, allerdings relativ einig. Europa beziehungsweise der Westen hatten Vorbildcharakter im Hinblick auf die verhältnismäßig günstige Stellung der Frau in der Familie. Der Westen wurde zum Maßstab für den Kampf gegen Misshandlung, Frauenhandel, Zwangsverheiratung oder die chinesische Sitte des Fußbindens. Auch das öffentliche Unterrichtswesen vor allem Deutschlands und Frankreichs fand Anerkennung und Nachahmung im Asien der Jahrhundertwende, insbesondere in Japan.
Japan ist ohne Zweifel als ein Sonderfall der Europäisierung elitärer Lebenswelten herauszustellen. Die Triebkräfte der Meiji-Restauration (ab 1868) spielten gekonnt mit dem Modernisierungsbaukasten und wählten aus der vorhandenen Musterkollektion von Modernitätselementen jene Elemente aus, die dem politischen Ziel der Integration Japans in den Westen am zuträglichsten waren, unabhängig davon, ob diese Elemente gesellschaftlich vermittelbar waren. Während Japan dabei auch auf die USA blickte, orientierten sich Indiens Modernisierungsbestrebungen ganz am britischen Vorbild.
Die Südasienforschung hat seit den 1960er Jahren auf die Dialektik der Modernisierung traditionaler Gesellschaften hingewiesen. Dabei wurde herausgearbeitet, dass die Grenzen zwischen modernen und traditionellen Gesellschaften weniger eindeutig sind, als gewöhnlich angenommen.
Die Einführung moderner Elemente wie etwa Straßen, Eisenbahnen, Häfen, Kanalisation war in Afrika hingegen häufig nur Nebenprodukt der wirtschaftlichen Ausbeutung oder unumgänglicher Schutz der herrschenden weißen Kolonialoligarchie (wie Krankenhäuser, Seuchenbekämpfung). Ansätze zur eigenständigen Modernisierung wurden in Afrika von Kolonialmächten häufig im Keim erstickt.
Modernisierung und kolonialer Widerstand
Um 1900 übte Europa in Asien und Afrika "in einem beispiellosen Maße koloniale Herrschaft, quasi-kolonialen Einfluss und eine Art von Hegemonie über die modernen Sektoren der Wirtschaft aus".
Indische Gelehrte und Intellektuelle deckten in ihrem Selbstbehauptungskampf offensiv die Widersprüchlichkeiten der europäischen Zivilisationsrhetorik auf. Während die Kolonialmächte im Sinne der Ideen der europäischen Aufklärung die Gleichheit menschlicher Rechte und Pflichten postulierten, bestanden sie in ihrer Herrschaftspraxis auf der Institutionalisierung der Differenz. Vertreter der afrikanischen Bildungselite gingen – wie Kirsten Rüther in ihrem Beitrag "Globale Interaktion und regionale Differenzierung – gegenseitige Wahrnehmung zwischen ‚Europa‘ und ‚Afrika‘" auf dem Historikertag 2012 gezeigt hat – häufig mit subversiven und ironisierenden Strategien mit solchen Widersprüchen um.
Innovation und Entwicklung durch kulturellen Transfer
Bis in die 1990er Jahre hinein stand die Frage nach dem weltweiten Export europäischer Kultur im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Diese Perspektive hat sich unter dem Einfluss von Stimmen aus den ehemals kolonisierten Ländern und den Perspektiven der Postcolonial Studies verschoben. Auch das Bemühen um die Etablierung des neuen Ansatzes einer transnationalen Gesellschaftsgeschichte ging einher mit dem Postulat, die Geschichte Europas zu provinzialisieren. In dem Maße wie transfergeschichtliche Fragestellungen an Bedeutung gewonnen haben, rückte die Frage nach den Interaktionen zwischen Kolonisierten und Kolonisierenden ins Blickfeld der Geschichtsschreibung. Das exportorientierte Einbahnstraßen-Modell wurde dabei zunächst durch eine Perspektive des fremden Blicks auf Europa abgelöst.
Heute weisen Arbeiten zu Prozessen kultureller Übersetzung den Weg für die historische Erforschung der komplexen globalen Interaktions- und Austauschprozesse, die zu historischem Wandel der sozialen, kulturellen, ökonomischen und politischen Kontextbedingungen aller Beteiligten beigetragen haben.
Die Verbreitung und der Transfer von Wissen (Ideen, Erfahrungen) zwischen unterschiedlichen räumlichen Einheiten bestimmt die Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Entwicklung und Innovation ist nur durch ständigen kulturellen Kontakt und Austausch denkbar. Innovation ist im Wesentlichen das Resultat von Transfer-, Disseminations- und Übersetzungsprozessen.
Für die Analyse der Komplexität dieser Bewegungen und der sie begleitenden Lern- und Transferprozesse gilt es, die Perspektiven des interkulturellen Transfers und des interkulturellen Vergleichs sowie Diffusions- und Lerntheorien aufzugreifen und theoretisch weiterzuentwickeln. Anknüpfungspunkte hierfür bietet die Übersetzungsforschung, insbesondere die Konzepte der kulturellen und konzeptuellen Übersetzung.
Dieser Artikel erschien erstmalig in Interner Link: "Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ 44–45/2012): Kolonialismus".