Kolonialisierungsprozesse hatten in nahezu all ihren Erscheinungsformen eine wirtschaftliche Dimension. Die Warenketten von Silber, Zucker, Tee, Baumwolle und Getreide verdeutlichen zentrale Aspekte des Kolonialismus und der Globalgeschichte zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert.
Eine Geschichte des Kolonialismus kann es sich nicht leisten, die materiellen Aspekte der globalen Verflechtungen seit dem 16. Jahrhunderts zu ignorieren. Kolonialisierungsprozesse hatten in nahezu all ihren Erscheinungsformen eine wirtschaftliche Dimension. So waren schon für die "Entdeckung" der Westindischen Inseln und die anschließende Sicherung eines Seeweges nach Asien Handelsinteressen von zentraler Bedeutung. Und selbst die sogenannte Grenzkolonisation – etwa die Landeroberung Nordamerikas oder die "Besiedelung" Australiens und Sibiriens – war entscheidend von der Suche nach neuen Ressourcen geprägt. Die genauere Betrachtung wirtschaftlicher Aspekte erlaubt zudem einen Blick in die inneren Mechanismen etablierter Kolonialsysteme.
Dieser Text versucht durch die Stärken einer Warenkettengeschichte einige wichtige Aspekte des (Post)Kolonialismus und der Globalgeschichte zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert herauszuarbeiten. Die Diskussion der Warenketten und des strukturellen Kontextes, der ihren Handel erlaubt und unterstützt hat, beginnt mit Silber aus Lateinamerika, sowie dem Handel von Zucker, Tee, Kaffee und Kakao. Nach der Erörterung der erweiterten Warenkette von Baumwolle und Textilien werden auch Rohstoffe und sekundäre Waren eingeführt, die eine wichtige Rolle für die Industrialisierung von Kerngebieten oder für den Welthandel selbst hatten. Dazu zählen fossile Energieträger wie Kohle und Öl, aber auch Jute und Kautschuk, welche für den Warentransport benötigt wurden. Die zuletzt skizzierte Entstehungsgeschichte des Weltmarkts für Getreide nimmt neue Finanz- und Handelsinstrumente in den Blick.
Silber
Die Geschichte des silbernen Pesos, bezeichnet als real de a ocho, mit einem Gewicht von einer Unze (ungefähr 28 Gramm) und produziert ab der Mitte des 16. Jahrhunderts im spanischen Kolonialreich, ist das wichtigste historische Beispiel eines Amalgams von Ware und Geld. Im Vergleich zu anderen Geldformen war Silber während der Periode des ancien régimes – die Periode zwischen dem 15. und dem späten 18. Jahrhundert – im Großteil der kommerzialisierten Gesellschaften am höchsten geschätzt. Der Grund dafür war die wirksame Erfüllung der drei Funktionen des Geldes – Silber diente als Zahlungsmittel, zur Wertaufbewahrung und als Wertmess- bzw. Recheneinheit.
So war die Beziehung zwischen Menge und Gewicht – mit einer relativ kleinen Menge konnte man relativ viel von anderen Waren erwerben – und die Haltbarkeit entscheidend für die Benutzung des Silbers als Zahlungsmittel in und zwischen Kontinenten. Die Dauerhaftigkeit des Metalls bei dem Welthandel implizierte und ermöglichte zudem die Konservierung des Werts über längere Perioden. Und schließlich erlaubte die universelle Einführung und Akzeptanz des Silbers (und Goldes), dass es als Wertmaßstab diente.
Obwohl bis Mitte des 16. Jahrhunderts schon etablierte Handelsrouten zwischen Europa, Asien und Afrika existierten, herrscht in den Geschichtswissenschaften Konsens, dass erst durch die Etablierung des Silbers und die neuen transatlantischen und transpazifischen Routen zum ersten Mal ein echter Welthandel entstanden ist. In diesem Sinne waren die moderne Weltwirtschaft und das Handelssystem mit einem silver spoon geboren.
Der Peso hat seinen Status als Welthandelswährung bis zum Ende des 18. Jahrhundert bewahrt. Zwischen etwa 1530 und 1750 wurden Münzanstalten in Mexiko, Santo Domingo, Lima, Potosí, Bogota, Guatemala und Santiago de Chile gegründet. Nach konservativer Schätzung wurden rund 150.000 Tonnen Silber zwischen 1500 und 1800 aus lateinamerikanischen Minen gewonnen und als Pesos gemünzt. Diese wuchtige Menge macht mehr als 80% der Silber-Weltproduktion dieser Periode aus. Dieses Silber ist als Steuer nach Europa und von dort durch Händler nach Asien transportiert worden. Besonders wichtig als "Endstationen" für Silber haben sich die Märkte in Ost- und Südasien erwiesen. Wachsende Exporte von China nach Europa, unter anderem von roher und verarbeiteter Seide, Tee, Metallen und Edelsteinen sowie auch Porzellan (auf Englisch nicht zufällig als china bezeichnet), wurden durch das Einströmen von silbernen Pesos ermöglicht. Obwohl die Silberkette Amerika-Europa-Asien von größter Bedeutung für die Entwicklung einer modernen Weltökonomie war, ist Silber auch direkt von Meso- und Lateinamerika nach Asien gekommen und hat Süd- und Südostasien sowie Regionen in ganzen Asien verbunden.
Man muss nebst der glänzenden Seite der Geschichte des Silbers, die vom Zusammenbringen von Kontinenten erzählt, auch die dunklen Schatten der Patina sehen. Obwohl die oben erwähnten Münzanstalten ein komplexes System von Kapitalinvestitionen, Unternehmergeist und geografischen Ressourcen darstellten, war oft die Hälfte der Bergarbeiter zur Zwangsarbeit verpflichtet. Dies zeigt, dass die Entstehung einer Weltwirtschaft in der Frühmoderne durch ein von Ungleichheit und Abhängigkeiten geprägtes Kolonialsystems ermöglicht wurde.
Wenn die Silberproduktion vom 16. bis 18. Jahrhundert in Lateinamerika konzentriert war, ist die Kolonialgeschichte des Zuckers eine Geschichte der Karibik. Zuckerplantagen wurden schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in französischen und englischen Kolonien in der Karibik gegründet. Die Zuckerproduktion aus Zuckerrohr war durch Zwangsarbeit gezeichnet. Zuckerproduktion war kapital- und arbeitsintensiv. Die Warenkette von der Karibik nach Europa war ein kritischer Teil des sogenannten Atlantischen Dreieckshandels – Manufakturwaren, Feuerwaffen und Rum (Teilprodukt der Zuckerindustrie) gingen von Europa nach Westafrika; Sklaven wurden von Westafrika in die Karibik transportiert und die überwiegende Mehrheit von ihnen musste auf Zuckerplantagen arbeiten. Dieser Zucker wurde wiederum von der Karibik nach Europa geliefert. Europäisches Kapital stützte dieses System und europäische Händler führten es. Obwohl keine klaren Statistiken von dieser Zeit existieren, ist manchen Schätzungen zufolge der Zuckerkonsum in den 150 Jahren zwischen 1650 und 1800 z.B. in England um 2500% gestiegen. Gleichzeitig wurde fast die ganze Weltproduktion von Europäern oder Nordamerikanern europäischer Herkunft konsumiert.
Obwohl die neuen Methoden beim Anbau, der Sammlung und Raffinierung des Zuckers bereits einen Stand hatten, den andere industriellen Wirtschaften erst viel später entwickelte, waren die Arbeitskräfte auf den Zuckerplantagen und in den Fabriken bis zum 19. Jahrhundert überwiegend Sklaven und im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem Vertragsknechte. Die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse waren jedoch nicht die einzige dramatische Transformation in zuckerproduzierenden Regionen. Durch die Einführung von Monokulturen beschränkte sich die regionale Wirtschaft auf die Zuckerproduktion und andere Waren und Nahrungsmittel mussten importiert werden.
Allein zwischen 1840 und 1940 hatte sich die Zuckerproduktion (inklusive Rübenzucker) von 1.150.000 auf 30.499.462 metrische Tonnen und damit das 25-Fache vergrößert. Dieses wuchtige Wachstum der Produktion und des Konsums beinhaltete technologische Innovationen sowie auch Transformationen im Produktionsprozess. Zudem bietet diese hundertjährige Periode auch ein hervorragendes Beispiel für die Diskussion des Übergangs vom Kolonialismus zum Neokolonialismus: Kubanische Zuckerunternehmen gehörten Ende des 19. Jahrhunderts zu den größten Produzenten der Welt. Der Anbau, das Raffinerien und die Fabriken wurden fast ausschließlich mit spanischen Kapital finanziert.
1898 wurde Kuba offiziell von Spanien an die Vereinigten Staaten von Amerika übergeben und obwohl Kuba 1902 formell unabhängig wurde, behielten sich die Vereinigten Staaten das Recht vor, sich in Bezug auf Finanzen und internationalen Beziehungen einzuschalten. Zudem hatte sich auch die Zuckerindustrie radikal transformiert. Neue und viel größere Zuckerfabriken sind entstanden. Durch technologische Entwicklungen, wie etwa größere Zentrifugen, die die Saccharose von der Melasse trennten, konnten diese Fabriken in der gleichen Zeit viel mehr Zuckerrohr bearbeiten. Zudem wurden neue Fabriken oft direkt mit dem neu entstandenen Bahnnetz verbunden. Solchen großen Mühlen gelang es daher praktisch ein Nachfragemonopol über die kleineren Plantagen auszuüben. Diese Entwicklungen wurden von US-amerikanischem Kapital induziert und förderten starke Prozesse der Zentralisierung. In den 1920er Jahren besaßen etwa 180 Zuckerfabriken 23.000 Quadratkilometer Plantagen und damit etwa 20% des kubanischen Territoriums. Zudem wurde ein enormer Teil der Produktion (1913 beinahe 80%) nach Nordamerika exportiert.
Der astronomische Anstieg des Zuckerkonsums wurde vor allem durch den süßen Zahn für Getränke der Konsumgesellschaften, die in der Frühmoderne und Moderne entstanden, ermöglicht. Die drei wichtigsten Waren, die als Getränke konsumiert wurden, waren Tee, Kaffee und Kakao (Schokolade in Tafelform wurde erst ab Mitte des 19. Jahrhundert entwickelt). Deren Einfluss auf die Weltökonomie und das soziale Leben in industriellen Gesellschaften war zentral, dabei waren sie vor 500 Jahren in Europa praktisch unbekannt.
Etymologisch ist das in beinahe allen europäischen Sprachen zu erkennen. Das Wort Tee stammt von der alten sinotibetischen Sprache und ist durch Min Nan und das Holländische in den europäischen Sprachgebrauch aufgenommen worden. Ebenso stammt das Wort Chai – das in Südasien ein sehr süßes und gewürztes Getränk auf der Basis von schwarzem Tee bezeichnet und womit heutzutage in Zentral- und Westeuropa ein solcher "indischer Tee" gemeint ist, auf Türkisch und in den slawischen Sprachen jedoch einfach Tee bedeutet – aus dem Mandarin. Kaffee stammt aus dem Arabischen und Türkischen und verbreitete sich ebenso durch das Holländische in den europäischen Sprachen. Bernal Diaz, ein Konquistador der Hernán Cortés begleitete, berichtete von der Kultur der Azteken in Tenochtitlán und der Sitte des Herrschers Montezuma dem Zweiten, Unmengen mit Chili gewürztes Xocolatl zu trinken.
Solche etymologischen Überlegungen können jenseits ihrer Eigenschaft als Einzelberichte gesehen werden, indem sie auch die relativen Machtpositionen, nämlich die führende Rolle Spaniens und Hollands, in der frühen Phase des Kolonialismus (16. bis 18. Jahrhundert) aufzeigen. Obwohl der Handel, die Produktion und der Konsum der drei Waren sehr unterschiedlichen Mustern folgte und in unterschiedlichen Perioden blühte, ist es die enge Verbindung zum Kolonialismus, welche Tee, Kaffee und Kakao verbindet.
Zudem ist es wichtig das Potenzial des Kolonialismus zu berücksichtigen, durch diese stimulierenden Getränke die Welt zu verändern. Die Regionen, die bis heute zu den größten Produzenten dieser Waren gehören, sind nicht die Ursprungsorte der Tee-, Kaffee- und Kakaopflanze. Koloniale Unternehmen, als zum Beispiel die Niederländische Ostindien-Kompanie (VOC), haben Kaffee aus der Arabischen Halbinsel zur Kultivierung nach Latein- und Zentralamerika gebracht und führten ihn in Java ein. Kakao aus Amerika wurde in Westafrika angebaut. Tee, der lange unter Chinesischem Monopol stand, wurde erst ab 1840 in Plantagen in Assam, Ceylon und Darjeeling von der mit britischem Kapital finanzierten Britischen Ostindien-Kompanie (EIC) angebaut.
Baumwolle
Die am weitesten verbreitete Vorstellung der Industriellen Revolution basiert auf Bildern hoher Schornsteine, die Ruß ausspucken, Darstellungen der Stahlproduktion und des Kohleabbaus sowie Illustrationen der Eisenbahn. Zweifellos waren alle diesen Komponenten und deren Zusammenspiel wichtige Faktoren, welche die moderne Industrie ermöglichten. Betrachtet man die Industrierevolution jedoch durch einen Fokus auf Waren, stellt sich die Baumwolle unumgänglich in den Vordergrund.
Die Industrielle Revolution war nicht nur mit Baumwolle eingekleidet, sondern stand durch die Lancashire Textilproduktion des frühen 19. Jahrhundert im Kern der Transformationen der Wirtschaft – sie war sozusagen behilflich bei der Geburt der modernen Welt. Ähnlich zu den im vorherigen Abschnitt diskutierten Getränken, blieb Baumwolle bis spät in der Geschichte Europas sehr ungewöhnlich. Das erste, größere Zentrum einer auf Baumwolle basierten Textilproduktion in Europa befand sich um 1300 in Norditalien. Der Aufstieg und Untergang unterschiedlicher Regionen Europas war in den nächsten vier Jahrhunderten entscheidend davon geprägt, inwiefern diese Zugang zu roher Baumwolle hatten. Schließlich gelang es aber erst britischen Unternehmern gegen Ende des 18. Jahrhunderts, durch die Kombination von beispiellosen technologischen Entwicklungen sowie einem bis dahin noch nie dagewesenen Zugang zum Rohstoff und zu Arbeitskraft ein weltübergreifendes "Imperium aus Baumwolle" zu schaffen.
Im Gegensatz zu der Zuckerproduktion, die oft in einem Nexus von Plantage und Fabrik stattfand, wurden nun die beiden arbeitsintensiven Prozesse der Produktion von Textilien räumlich und zeitlich zerlegt. Sklaven und Zwangsarbeiter im 18. und im größten Teil des 19. Jahrhunderts etwa in den Vereinigten Staaten oder auf den Westindischen Inseln haben auf Plantagen Baumwollkapseln gepflückt, gesäubert und für den Transport zu Baumwollballen verpackt. Die zweite Phase der Produktion wurde zur selben Zeit durch eine wachsende Anzahl Lohnarbeiter ermöglicht, die in die neuentstandenen Industriezentren Großbritanniens strömten. Baumwollspinnereien produzierten das Garn, welches dann mithilfe von Webmaschinen zu Gewebe verarbeitet wurde. Diese fundamental neue Wirtschaftlichkeit durch Massenproduktion war jedoch noch weiter mit dem Kolonialsystem verknüpft.
Das letzte Glied in der Warenkette – die Erschaffung eines Weltmarktes für die fertigen Produkte, in diesem Fall Kleider – wurde nicht primär durch Angebot und Nachfrage bestimmt, sondern entscheidend durch koloniale Machtstrukturen. Die Schaffung eines Absatzmarktes – etwa in Britisch Indien – war vor allem durch imperiale Tarife und den Zugang zu Kapital bedingt und führte zum Untergang der regionalen Textilindustrien in den Kolonien.
Industriewaren
Die Industrielle Revolution bezog die Nachfrage nach einer Reihe von Waren mit ein, welche die Industrie selbst oder den Handel förderten. Kautschuk wurde als Rohstoff in Südamerika bereits vor der spanischen Kolonisation benutzt. Das 19. Jahrhundert war aber geprägt von der modernen, industriellen Entwicklung des Kautschuks und dessen allmählicher Verbreitung in vielen Sphären des alltäglichen Lebens. Vulkanisation – ein chemischer Prozess, der Kautschuk viel beständiger macht – wurde von Charles Goodyear 1840 entdeckt. Um dieselbe Zeit hat man mit den ersten Fahrzeugen experimentiert – die Draisine und ihr Nachfolger, das Veloziped, wurden zwischen 1820 und 1870 entwickelt. Ende des Jahrhunderts führte Michelin (auswechselbare) Reifen für Autos ein – bis dahin hatten nur Fahrräder Kautschukreifen. Seitdem ist das Wachstum des Konsums und der Produktion kaum zu kontrollieren. Gleichwohl gehört aber die Kautschukproduktion zu den dunkelsten Seiten der Kolonialgeschichte.
Insbesondere im belgischen Kongo wurde Kautschuk um 1900 durch ungeheure Gewalt und Zwangsarbeit extrahiert. Im Gegensatz zu anderen Produzenten aus Lateinamerika haben Gummiexporteure aus dem État indépendant du Congo den Rohstoff aus Gummiwein und nicht aus dem Kautschukbaum gewonnen. Zwischen 1885 und 1908 war der Belgische König Leopold II. persönlicher Eigentümer des Kongo-Freistaats. Kurz vor 1908, das Jahr in dem die Belgische Regierung durch internationale Kritik Kongo von Leopold übernahm, erreichte der Kautschukpreis durch steigende Weltnachfrage aufgrund dieser Autoreifen sowie Dichtungen für Telegraphen und Maschinen einen Höhepunkt. Die Produktion in dieser Periode wird auf Englisch als red rubber bezeichnet, mit Bezug auf das Blut der kongolesischen Arbeiterinnen und Arbeiter. Schätzungen zufolge wurden Millionen von Menschen durch das brutale Produktionssystem verstümmelt, vergewaltigt oder sind ums Leben gekommen.
Die Jutepflanze, welche sich zur Fasergewinnnung für die Textilproduktion als geeignet erwies, stammte zwar aus Europa, wurde aber nach Südasien gebracht. Die Juteindustrie in Bengalen bietet ein interessantes Beispiel, welches aufzeigt wie die Wirtschaftlichkeit durch Massenproduktion in Übersee eine europäische Industrie überholte. Die erste Jutefabrik in Bengalen wurde in 1856 geöffnet. Die Region bat eine vorteilhafte Kombination von Faktoren, unter anderen leichten Zugang zum Rohstoff (Jutepflanze), niedrige Tageslöhne und vorhandene Handelsverbindungen durch die Hafenstadt Kolkata, an. Um 1900 kann man sogar von einer Produktionsverlagerung sprechen – als die Juteindustrie in Dundee in Schottland unterging sind viele Jutefabrikanten nach Bengalen umgezogen und haben dort frisch angefangen. Während des Ersten Weltkrieges wurden über eine Milliarde Sandsäcke aus Bengalen zu den Schützengraben Europas gebracht.
Obwohl die Getreidepreise in Europa schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gesunken sind – ein Indiz dafür, dass sich langsam ein konvergierender Weltmarkt für Getreide entwickelte – war es erst die Abschaffung der britischen Corn Laws 1846, die eine neue Epoche im Getreidewelthandel signalisierte. Die Corn Laws haben Einfuhrzölle und allgemein Beschränkungen auf Agrarimporte – Maßnahmen die in der Wirtschaftslehre als Protektionismus heimischer Produktion bezeichnet werden – in England gesetzt. Als das am weitesten industrialisierte Land der Welt diese Gesetze abschaffte und anfing, Getreide zu importieren, erfuhr der Weltgetreidehandel einen starken Auftrieb. Die Getreideproduktion ist in den nächsten hundert Jahren gewaltig gewachsen. Der Weizenanbau war dadurch charakterisiert, dass Weizen jetzt in dünn besiedelten Regionen mithilfe wachsender Mechanisierung geerntet wurde. Billiges Getreide wurde in den kanadischen und nordamerikanischen Prärien, in Russland (auch der heutigen Ukraine) und Rumänien, in den Pampas in Argentinien, aber auch in kolonialen Schauplätzen wie Indien und Australien produziert.
Hierbei müssen zwei Arten von Innovationen erwähnt werden: In erster Linie fand eine biologische Innovation statt – das aus Osteuropa stammende Getreide war die Basis für die Kultivierung neuer, widerstandsfähigerer Getreidesorten. Gleichzeitig kulminierte die technische Innovation mit der Erfindung des Mähdreschers Ende des 19. Jahrhunderts und des Traktors Anfang des 20. Jahrhunderts. Diese Innovationen trugen zum Wachstum und der Entstehung eines Weltmarktes sowie der allmählichen Preiskonvergenz bei. Während 1870 der Getreidepreisunterschied zwischen Getreide welches in London respektive New York gehandelt wurde, bei 50 % lag, sank in den nächsten 40 Jahren der Preisunterschied auf null und die Importe in Großbritannien stiegen bis 1914 auf 80 % des totalen Getreidekonsums.
Dieses Wachstum und die Entstehung eines Getreideweltmarkts sind für die weitere territoriale Erschließung von Land für den Getreideanbau überall auf der Welt von größter Bedeutung. Kanada ist das Paradebeispiel dafür. Dort stieg zwischen 1890 und 1916 die Zahl der Farmen in der Prärien von 31.000 auf 218.000. Dennoch wurde aber Getreide nicht überall zum Grundnahrungsmittel. Zwar wuchs der Weizenkonsum relativ zu anderen Nutzpflanzen wie z.B. Perlhirse oder Hafer, Reis blieb jedoch das übliche Nahrungsmittel in vielen Regionen der Welt.
Der Getreidemarkt (zusammen mit der Baumwollbörse) ist aber insbesondere auch von entscheidender historischer Bedeutung, weil durch den weltweiten Handel mit Getreide auch zum ersten Mal ein Terminmarkt entstand. Der Telegraf konnte Informationen zur Produktion, Logistik und Meteorologie in Echtzeit um die Welt verteilen. Ein Terminmarkt und die Schaffung neuer Finanz- und Wareninstrumente konnte die Preisvolatilität auf dem Getreidemarkt ausgleichen. Es wurden Wertpapiere angeboten, die dessen Verkäufer rechtsverbindlich zur Lieferung der Ware zu einem späteren Datum ("Termin") verpflichtet haben. Dieser Terminmarkt (auf Englisch futures, forward oder derivatives market) und insbesondere der Markt für Getreide leiteten die Geburt des Finanzsystems des 20. Jahrhunderts ein. Chicago war die Pionierstadt, die schon in den 1850er Jahren einen Getreideterminmarkt hatte. Bis 1908 sind aber auch neue wichtige Terminmärkte in Liverpool und Buenos Aires entstanden. Obwohl die ursprüngliche Idee dieser neuen Finanzinstrumente die Verhinderung von Preisoszillationen und Spekulation war, entstand parallel dazu eine spekulative Händlerklasse. Durch den Zugang zu Informationen und Kapital konnten diese Händler Risiken eingehen, die davor für lokale Spekulanten unmöglich waren. Um das Ganze in Perspektive zu setzen, reicht es hier anzumerken, dass schon in den 1880er Jahren das Warentermingeschäft in Chicago mit dem bis zu 20-fachen Volumen der realen Menge der Waren in Wertpapieren handelte.
Die Entstehung des Terminmarkts hat also eine implizite Beziehung zum Kolonialismus, jedoch eine umso deutlichere zum Neokolonialismus. Waren- und Aktienbörsen – nahliegend an den Orten an welchen sich das Kapital und die Nachfrage konzentrieren – üben einen enormen Einfluss auf die Produzenten von Rohstoffen und Waren aus. Zur Illustration genügt es, uns den Petroleummarkt vorzustellen. Der Weltpreis für Erdöl wird nicht etwa in Riyad, Lagos, Caracas oder Moskau bestimmt, sondern der Bezugswert ist der Preis des so-genannten Brent Crude in US-Dollars auf dem New York und dem London Stock Exchange.
Fazit
Dieser Text hat die historische Beziehung zwischen Kolonialismus und globalem Handel skizziert. Zu diesem Zweck wurde eine Auswahl wichtiger Warenketten diskutiert. Die Warenproduktion und deren Welthandel, unter anderen von Silber, Zucker, Tee, Getreide oder auch, wie diskutiert, Jute, sind innerhalb eines kolonialen Kontexts entstanden und gewachsen, hatten aber gleichzeitig einen profunden Effekt auf den Kolonialismus und die Entwicklung des ökonomischen Weltsystems. Die Periode der formellen Dekolonisierung im 20. Jahrhundert bewirkte auch neue Entwicklungen in der Weltwirtschaft, einschließlich des Anstiegs von Produktion und Konsum neuer Waren und die Etablierung neuer Warenketten. Neue Finanzinstrumente sowie auch der Handel mit Erdöl waren im Kern der Schaffung eines neuen Systems. Doch auch dieses ist durch Machtverhältnisse und neue Formen von Ungleichheit charakterisiert. Viele dieser als Neokolonialismus bezeichneten Beziehungen haben ihre Wurzeln in der Geschichte der Handels- und Warenverflechtungen der letzten 500 Jahre.
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promoviert im Bereich Geschichte der modernen Welt an der ETH Zürich.
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