1861 erschien in der niederländischen Zeitschrift "Humoristisches Album" folgendes Spottgedicht auf die niederländische Regierung:
Siehe Niederlande!
Da Euer Traum, ein Netz von eisernen Wegen,
geflochten aus dem Gold
vom indischen Überschuss.
Aber drüben, aus der Gegend von Solo, donnert Euch der Bergstrom entgegen,
dessen brausende, klatschende Wellen
Euer Ideal verspotten.
1830 führte der niederländische Generalgouverneur in Niederländisch-Indien (heute Indonesien) das sogenannte Kultursystem ein. Die Bevölkerung auf Java wurde gezwungen, für die Niederlande Exportprodukte anzubauen. Die Gewinne aus deren Verkauf (im Gedicht der indische Überschuss) flossen zum großen Teil in die niederländische Staatskasse. Von 1831-77 waren es insgesamt 823 Millionen Gulden. Das Geld wurde gebraucht, um den Ausbau des Eisenbahnnetzes und den Bau von Kanälen für einen verbesserten Meeranschluss von Amsterdam und Rotterdam zu finanzieren. Die Regierung vernachlässigte jedoch nötig gewordene Investitionen auf Java, was bei den großen Überschwemmungen in Surakarta (Solo) von 1861 tragisch zum Vorschein kam.
Der Spottvers stellt einerseits die finanzielle Ausbeutung der Kolonie an den Pranger. Andererseits verweist er auf eine Verletzung der Ideale: Nach der damals gängigen Auffassung käme der Kolonialismus den Kolonisierten zugute und sei gewissermaßen eine Kulturmission.
Heute ist die koloniale Vergangenheit in den ehemaligen Zentren der Kolonialreiche allgegenwärtig.
Diese Diskussionen spiegeln sich in der historischen Forschung zum Thema Kolonialismus und Imperialismus. Eine erste Generation von Imperialismus-Historikern schrieb ihre Geschichte noch aus einer gänzlich europäischen Warte und weitgehend unkritisch.
Die 1990er brachten das Thema ‚Globalisierung’ in den Mittelpunkt der politischen Debatte und damit Fragen nach ihrer Vorgeschichte. Gleichzeitig begannen Migranten aus den ehemaligen Kolonien ihren Platz in der Gesellschaft einzufordern und problematisierten koloniale Traditionen. Die ‚postcolonial studies’, aufbauend auf Texten von Intellektuellen aus dem globalen Süden
Veränderte Warenströme und Konsumgewohnheiten
Der Kolonialismus bewirkte unter anderem eine grundlegende Veränderung der globalen Warenströme. Baumwolle war die Grundlage für die erste industrielle Revolution, Kautschuk und das daraus hergestellte Gummi spielten eine zentrale Rolle in der zweiten.
In Meyers Lexikon von 1851 hieß es: „Seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts trat das Bedürfnis nach Kolonialwaaren als ein herrschendes in Europa auf und gab dem Kolonialhandel eine außerordentliche Wichtigkeit. Durch ihn trat die ganze Welt in eine früher in solchem Maße nie gekannte Wechselverbindung, die wiederum auf die Geistesbildung der Völker und die Verhältnisse ihrer staatlichen Stellung vom größten Einfluss wurde. Die alte Herrschaft des Bedürfnisses erhielt einen neuen Thron auf dem Fundament von Genüssen, die, früher nur zum Luxus der Reichen gehörend, jetzt in die Massen gedrungen waren und deren Befriedigung vom Aermsten in Anspruch genommen wurde."
Menschen aus den Kolonien in Europa
Als in den 1870er Jahren der "Scramble for Africa", also die Aufteilung Afrikas durch die Kolonialmächte begann und die Begeisterung für den kolonialen Gedanken in Europa wuchs, hatten die meisten Europäer noch nie Menschen aus Afrika mit eigenen Augen gesehen. Das Bild des Kontinents war vor allem durch Entdeckungs- und Reiseliteratur geprägt, die ein ambivalentes Bild vermittelte: einerseits ein Interesse an alternativen Regionen menschlicher Erfahrung und gleichzeitig der Wunsch nach Expansion und die europäische Rivalität.
Eine der ersten Gelegenheiten für Durchschnittseuropäer, außereuropäischen Menschen zu begegnen, waren Völkerschauen.
Die "anthropologisch-zoologischen Schauen" waren beim Publikum sehr beliebt. Die Hagenbecks boten auf der einen Seite ein Spektakel, sprachen auf der anderen Seite durch Vorführungen in ethnologischen Gesellschaften auch ein wissenschaftliches Publikum an. Die Demonstration der Überlegenheit der "weißen Rasse" war jedoch nur ein Aspekt der Schauen. Hagenbeck war ein geschickter Geschäftsmann, der sich für seine Inszenierungen aus dem ganzen Arsenal an exotisierenden Bildern aus der Literatur und Kunst bediente.
Die exotischen Völker im Zoo wurden dem Publikum bewusst entrückt und entsprachen deshalb den weitverbreitenden Vorstellungen einer fundamentalen Andersartigkeit der Nicht-Europäer. Im Gegensatz dazu stellte der Einsatz von afrikanischen und indischen Truppen auf der Seite der Entente im Ersten Weltkrieg einen Tabubruch dar, denn diese standen den Europäern gewissermaßen auf gleicher Ebene gegenüber. Die Franzosen hatten schon vor dem Krieg koloniale Truppenkontingente für den Einsatz in den Kolonien aufgebaut, oft durch Zwangsrekrutierung. Sie setzten die maghrebinischen und senegalesischen Truppen später gegen die Deutschen als besonders furchterregende Einheiten ein. Bis zu 500.000 Soldaten aus den Kolonien kamen im Ersten Weltkrieg zum Einsatz, ebenso viele wie später bei der Besetzung des Rheinlands. In Deutschland entstand darauf eine Propagandaschlacht, die der rechtlichen und moralischen Legitimation dieses Einsatzes dienen sollte. Unter dem Schlagwort „die schwarze Schmach am Rhein“ führten rechtkonservative Kreise eine internationale rassistische Kampagne.
Anti-imperialistische Aktivisten in den Großstädten
Während die kolonialen Truppen meist eine ländliche und ärmere Herkunft hatten, wuchs in den Großstädten und Universitäten die Zahl von Studenten und Intellektuellen aus den Kolonien. Sie stammten mehrheitlich aus der wohlhabenden Oberschicht und bildeten später den Kern des anti-kolonialen Widerstands. Als eines der frühen Beispiele mag hier der philippinische Nationalheld José Rizal dienen, der in Madrid, Paris und Heidelberg Medizin studierte und zugleich zwei einflussreiche Romane verfasste, welche die spanische Kolonialherrschaft kritisierten.
Rizal wurde in Europa nur am Rande wahrgenommen. Ganz anders der indische Widerstand: Gewisse bürgerliche Kreise sahen Europa um 1900 in einer kulturellen und geistigen Krise. Sie sahen indische Spiritualität als Heilmittel. In diesem Geiste schrieb Hermann Hesse seinen Roman Siddhartha und begannen Lebensreformer für eine vegetarische Ernährung zu werben. Indische Aktivisten verschiedener Couleur fanden in diesen Kreisen Unterstützung für ihre antiimperiale Agenda.
Auch afrikanische Intellektuelle fanden in Europa ein Spielfeld, wo sie ihre Ideen entwickeln und sich mit anderen Aktivisten austauschen konnten. Auf die Entscheidungen der Politik hatten sie zwar wenig Einfluss, doch konnten sie hier Netzwerke aufbauen und Alternativen formulieren, was später den antikolonialen Bewegungen in den Ländern Afrikas zugutekam.
Migration nach der Unabhängigkeit
Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Zahl von Migranten aus den Kolonien nach Europa an.
Als in den frühen 1960ern die meisten Kolonien ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, migrierten zahlreiche Menschen aus den Kolonien nach Europa. Es waren Arbeitsmigranten und solche, die in der Kolonialzeit zwischen den Welten gelebt hatten. Doch in Europa stießen sie auf geringe Akzeptanz. Die Arbeiterschaft lehnte die Schwarze Konkurrenz ab, und die Polizei diskriminierte die Immigranten.
In Großbritannien häuften sich in den 1970ern die rassistischen Attacken, und mit der National Front verzeichnete eine Partei großen Zulauf, welche einen sofortigen Immigrationsstopp und die Ausweisung sogenannter „nicht-weißer“ Immigranten, etwa aus Indien oder der Karibik forderte.
Seit den 1990ern dreht sich der Kampf um Akzeptanz vermehrt um Traditionen oder Symbole, die in der kolonialen Geschichte wurzeln. In England steht das Blackfacing in der Kritik, und in den Niederlanden wehren sich nicht nur Schwarze gegen die Figur des „Zwarte Piet“, der Begleiter des Nikolaus, in dem die Darstellung von Schwarzen Menschen aus der Kolonialzeit fortlebt.
Die neue Geschichte der Imperien
Um solche Fragen der Identität dreht sich auch die neuere historische Forschung. Eine wegbereitende Rolle kam der „New Imperial History“ in Großbritannien zu. Sie zeigte, dass das, was als typisch Britisch gesehen wird, schon seit dem 18. Jahrhundert mit von den Kolonien geprägt ist. Die britische Kultur und Identität kann nicht ohne die koloniale Welt verstanden werden und Kolonialismus hat sich nie nur außerhalb Europas abgespielt, sondern stets auch in Europa. Das gilt vor allem für Großbritannien.
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