Meine Merkliste Geteilte Merkliste PDF oder EPUB erstellen

Außenpolitik und Imperialismus | Das Deutsche Kaiserreich | bpb.de

Deutsches Kaiserreich Einführung Äußere und innere Reichsgründung Nation und Nationalismus Industrialisierung und moderne Gesellschaft Sozialdemokratie zwischen Ausnahmegesetzen und Sozialreformen Obrigkeitsstaat und Basisdemokratisierung Bürgerliche Kultur und ihre Reformbewegungen Außenpolitik und Imperialismus Quiz Teil I Quiz Teil II Quiz Teil III Redaktion

Außenpolitik und Imperialismus

Dr. Bernd Ulrich

/ 9 Minuten zu lesen

Bismarcks Außenpolitik konzentrierte sich auf die Erhaltung des europäischen Friedens. Ein massiver Kurswechsel erfolgte erst nach seiner erzwungenen Abdankung am 18.3.1890: Bündnisse wurden auf ihre Kriegstauglichkeit hin geprüft. Und Deutschland forderte einen "Platz an der Sonne".

Faktorei in Lomé, Togo, um 1895. (© picture-alliance/akg)

Die Überlebensfähigkeit des mit dem Kaiserreich neu gegründeten Nationalstaats hing nicht allein von den Möglichkeiten und Grenzen einer geschickten Außenpolitik ab. Doch ihre Bedeutung geht schon daraus hervor, dass Bismarck sie immer auch als einen Hebel begriff, um die innenpolitische Stabilisierung des Klassenstaates zu betreiben. Das "Bündnis zwischen Rittergut und Hochofen" (Bismarck) galt es auch durch außenpolitische Erfolge zu zementieren. Gerade angesichts des vorhandenen Umsturzpotentials in den europäischen Monarchien – der Aufstand der Pariser Commune im deutsch-französischen Krieg hatte dies nochmals vor Augen geführt – blieb die Außenpolitik Bismarcks wie seiner Nachfolger daher nicht nur bestimmt vom "Alptraum der Koalitionen" (cauchemar des coalitions), sondern auch vom "Alptraum der Revolution".

QuellentextOtto von Bismarck im "Kissinger Diktat" vom 15. Juni 1877

Ein französisches Blatt sagte neulich von mir, ich hätte ´le cauchemar des coalitions`; diese Art Alp wird für einen deutschen Minister noch lange, und vielleicht immer, ein berechtigter bleiben.

Koalitionen gegen uns können auf westmächtlicher Basis mit Zutritt Österreichs sich bilden, gefährlicher vielleicht noch auf russisch-österreichisch-französischer; eine große Intimität zwischen zweien der drei letztgenannten Mächte würde der dritten unter ihnen jederzeit das Mittel zu einem sehr empfindlichen Drucke auf uns bieten. In der Sorge vor diesen Eventualitäten, nicht sofort, aber im Lauf der Jahre, würde ich als wünschenswerte Ergebnisse der orientalischen Krisis für uns ansehn:

  1. Gravitierung (im Sinne von: Schwerpunktbildung/Ausrichtung) der russischen und der österreichischen Interessen und gegenseitigen Rivalitäten nach Osten hin,

  2. der Anlaß für Rußland, eine starke Defensivstellung im Orient und an seinen Küsten zu nehmen, und unseres Bündnisses zu bedürfen,

  3. für England und Rußland ein befriedigender status quo, der ihnen dasselbe Interesse an Erhaltung des Bestehenden gibt, welches wir haben,

  4. die Loslösung Englands von dem uns feindlich bleibenden Frankreich wegen Ägyptens und des Mittelmeers,

  5. Beziehungen zwischen Rußland und Österreich, welche es beiden schwierig machen, die antideutsche Konspiration gegen uns gemeinsam herzustellen, zu welcher zentralistische oder klerikale Elemente in Österreich etwa geneigt sein möchten.

Wenn ich arbeitsfähig wäre, könnte ich das Bild vervollständigen und feiner ausarbeiten, welches mir vorschwebt: nicht das irgend eines Ländererwerbes, sondern das einer politischen Gesamtsituation, in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen, und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden.

Aus: Institut für Auswärtige Politik in Hamburg (Hg.), Die Auswärtige Politik des Deutschen Reiches 1871-1914, einzige vom Auswärtigen Amt autorisierte gekürzte Ausgabe der amtlichen Großen Aktenpublikation der Deutschen Reichsregierung. Leitung: Albrecht Mendelssohn Bartholdy und Friedrich Thimme, Berlin 1928, Bd. I, S.58/59.

Hegemoniale Konsolidierung unter Bismarck

Den vorläufig sinnfälligsten Ausdruck bekam die Furcht vor einer antideutschen Koalition im September 1872, als sich Zar Alexander II., Kaiser Franz Joseph von Österreich und Kaiser Wilhelm I. zusammenfanden, um sich ihrer monarchischen Verbundenheit für "die Aufrechterhaltung des europäischen Friedens gegen alle Erschütterungen" zu versichern. Das Treffen führte direkt zum so genannten Dreikaiserabkommen vom Juni bzw. Oktober 1873.

Außenpolitisch diente es vor allem der Isolation Frankreichs. Jenem Land, das nach der Niederlage gegen Preußen-Deutschland und der danach erzwungenen Abtretung Elsass-Lothringens sowie einer Reparationszahlung von 5 Milliarden Francs auf Revanche sann. Bereits im Sommer 1871 begannen französische Diplomaten mit der Annäherung an Russland. Vor allem dieser Entwicklung vermochte Bismarck mit dem Dreikaiserabkommen vorerst einen Riegel vorzuschieben. Überhaupt sollte die außenpolitische Isolation des als "Erbfeind" geltenden westlichen Nachbarn ein zentraler Eckpfeiler der Außenpolitik bleiben. Schon das Krisenjahr 1874 zeigte allerdings, dass sich das deutsch-russische Verhältnis wieder abzukühlen begann und Frankreich auch weiterhin den Schulterschluss mit dem östlichen Nachbarn Deutschlands suchte.

Vor diesem Hintergrund versuchte Bismarck, die im Umfeld der Einigungskriege so erfolgreiche Strategie der Kriegsdrohung wieder aufzunehmen, um Frankreich einerseits in seinen Revanchekriegsgelüsten zu disziplinieren und andererseits unter den europäischen Mächten zu isolieren. In der Krieg-in-Sicht-Krise des Jahres 1875 kulminierten diese Versuche – und scheiterten: Nachdem im März 1875 in Frankreich ein Gesetz erlassen worden war, das eine militärische Verstärkung zur Folge hatte, erschien am 8. April in der regierungsnahen Zeitung "Die Post" und wahrscheinlich mit Billigung Bismarcks ein Artikel unter der Schlagzeile "Ist der Krieg in Sicht?" Zwar hegte Bismarck – anders als viele führende Militärs – nicht die Absicht, einen Präventivkrieg gegen Frankreich zu führen. Aber der Fall eignete sich in seinen Augen vorzüglich, um vor allem die Reaktionen Englands und Russlands zu erproben und nebenbei auch Österreich-Ungarn die militärische Entschlossenheit des Reiches zu demonstrieren.

Doch die unmissverständlichen Reaktionen Russlands und Englands, einen ähnlichen Krieg wie den 1870 herbeigeführten keinesfalls zu dulden bzw. durch ihr Nichteingreifen überhaupt erst zu ermöglichen, führten dem Kanzler eines deutlich vor Augen: Die Option Krieg kam nicht in Frage, um die europäischen Machtverhältnisse zu beeinflussen und die Existenz des Deutschen Reiches zu sichern. Was folgte, war eine "Politik der relativen Selbstbescheidung" (Jost Dülffer), ja, die Entdeckung eines "Bewegungsgesetz(es), nämlich durch kontrollierte Benutzung machtpolitischer Rivalitäten Ausgleich zu schaffen und durch gezügelte Pflege internationaler Spannungen Frieden zu stiften". (Klaus Hildebrand) Das mag etwas zu idealistisch formuliert sein, charakterisiert aber den Grundcharakter der hegemonialen Sicherungsversuche in den 1870er und 1880er Jahre recht präzise.

Das Reich ist saturiert

Die neu gewonnenen Erkenntnisse zu erproben, boten die offene orientalische Frage – womit nichts anderes gemeint ist als der allmähliche Verfall des Osmanischen Reiches und die daraus resultierenden Gebietsansprüche der europäischen Mächte – und eine der vielen Balkan-Krisen eine erste Gelegenheit. Seit dem Sommer 1875 hatten Aufstände gegen die türkische Herrschaft auf dem Balkan zugenommen. Direkt betroffen waren hier aber auch die Interessen Russlands und Österreich-Ungarns und – nachdem der Zar am 24. April 1877 einen Krieg gegen die Türkei begonnen und am 3. März 1878 mit einem Diktatfrieden beendet hatte – auch englische Ambitionen zu berücksichtigen. Seit dem Krimkrieg (1853-1856), der ebenfalls als russisch-türkischer Krieg begonnen hatte und in dem schließlich der religiös instrumentalisierte Eroberungswillen Russlands auf den entschiedenen Widerstand Englands und Frankreichs gestoßen war, drohte jeder Konflikt in dieser Region zum europäischen Krieg zu werden.

QuellentextOtto von Bismarck in einer Rede vor dem Reichstag am 19. Februar 1878 im Hinblick auf den Berliner Kongress im Juni und Juli 1878

Die Vermittlung des Friedens denke ich mir nicht so, daß wir nun bei divergierenden Ansichten den Schiedsrichter spielen und sagen: So soll es sein, und dahinter steht die Macht des Deutschen Reiches, sondern ich denke sie mir bescheidener, ja – (…) – mehr die eines ehrlichen Maklers, der das Geschäft wirklich zustande bringen will. (…)

Ich habe eine langjährige Erfahrung in diesen Dingen und habe mich oft überzeugt: wenn man zu zweien ist, fällt der Faden öfter, und aus falscher Scham nimmt man ihn nicht wieder auf. Der Moment, wo man den Faden wieder aufnehmen könnte, vergeht, und man trennt sich in Schweigen und ist verstimmt. Ist aber ein Dritter da, so kann dieser ohne weiteres den Faden wieder aufnehmen, ja, wenn getrennt, bringt er sie wieder zusammen. Das ist die Rolle, die ich mir denke.

Aus: Otto von Bismarck, Gesammelte Werke (alte Friedrichsruher Ausgabe), 19 Bde., 1924-1933, Bd. 11, S. 526/27.

Auf dem Berliner Kongress (13. Juni bis 13. Juli 1878), der als Forum für die Beendigung der Krise einberufen worden war, gelang es Bismarck als "ehrlicher Makler" aufzutreten und zwischen den beteiligten Mächten erfolgreich zu vermitteln. Dabei folgte er jenen Prinzipien, die er ein Jahr zuvor während einer Kur in Bad Kissingen als Aktennotiz diktiert hatte ("Kissinger Diktat", vgl. Dokumente). Nicht das Zukunftsbild "irgend eines Ländererwerbs" schwebte ihm vor, "sondern das einer politischen Gesamtsituation, in welcher alle Mächte außer Frankreich unser bedürfen, und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zueinander nach Möglichkeit abgehalten werden." Die Grundlage dafür bildete ein komplexes Bündnissystem, das schließlich im Dreibundvertrag zwischen Deutschland, Österreich-Ungarn und Italien (20.5.1882) gipfelte, und durch den Rückversicherungsvertrag mit Russland (18.6.1887) ergänzt werden konnte. Er enthielt eine beidseitige Neutralitätsverpflichtung im Verteidigungsfall und in geheimen Zusatzprotokollen Russland zugestandene territoriale Ansprüche im Mittelmeerraum und auf dem Balkan.

Die außenpolitischen Ambitionen Bismarcks konzentrierten sich auf die Erhaltung des europäischen Friedens, weil ein Krieg das Reich zerstören würde. "Wir haben", so führte er in einer Reichstagsrede am 11. Januar 1887 aus, "keine kriegerischen Bedürfnisse, wir gehören zu den – was der alte Fürst Metternich nannte: saturierten Staaten, wir haben keine Bedürfnisse, die wir durch das Schwert erkämpfen könnten." Das hieß allerdings nicht, dass das Schwert für den kommenden Krieg und für die Abwehr innerer ´Feinde` nicht scharf gehalten werden sollte. Noch unter Bismarck und von ihm unterstützt wurden in den Jahren 1887 und 1890 zwei Wehrvorlagen verabschiedet, die zusammen mit der von 1893 fast zu einer Verdoppelung der personellen Heeresstärke führten.

Die neue Außenpolitik

"Der Lotse geht von Bord“. Karikatur von Sir John Tenniel (1820-1914), zuerst publiziert im britischen Magazin Punch im März 1890. Kaiser Wilhelm II. beobachtet von Deck aus, wie Bismarck das Schiff verlässt.

Nach der erzwungenen Abdankung Bismarcks (18.3.1890) erfolgte eine scharfe Wende in der deutschen Außenpolitik. Der junge, nach dem Tod seines Vaters und Großvaters inthronisierte Kaiser Wilhelm II. (15. Juni 1888) berief am 23. März 1890 den General der Infanterie Leo von Caprivi (1831-1899) zum neuen Reichskanzler. Mit ihm sollte ein "Neuer Kurs" in der Außenpolitik gefahren werden, der die als stagnierend wahrgenommene Diplomatie Bismarcks in Bewegung zu bringen hatte. Das vorhandene Bündnissystem wurde nun nach einem Wort des Historiker Klaus Hildebrands nicht auf seine Friedens-, sondern auf seine Kriegstauglichkeit hin beurteilt. Da sich die neue Führung aber mittlerweile einen Zweifrontenkrieg durchaus zu- und dem Zarenreich grundsätzlich misstraute sowie den Vertrag als unvereinbar mit den Prinzipien des Dreibunds interpretierte, ließ man den im März 1890 zur Verlängerung anstehenden Rückversicherungsvertrag auslaufen. Die Wendung gegen Russland sollte durch eine Annäherung an England und durch den Ausbau und die Stabilisierung des Dreibundes – vor allem durch Handelsverträge – ausgeglichen werden. Dies alles geschah zu einer Zeit, da global der Übergang zu einem forciert betriebenen Imperialismus unübersehbar geworden war. Nachdem Bismarck anfangs eher zögerlich die Einrichtung deutscher Schutzgebiete vor allem in Afrika (Deutsch Südwestafrika, Deutsch Ostafrika, Kamerun) unterstützt hatte, trat das imperialistische Weltmachtstreben auch in Deutschland bald immer deutlicher in den Vordergrund. Es ging in der Politik nach Innen mit einer zunehmenden Zentralisierung und Kartellbildung der prosperierenden Wirtschaft zusammen. Sie konnte vor allem ihr industrielles Produktionsvolumen binnen weniger Jahre bedeutend steigern.

QuellentextUnmittelbar nach dem Ausscheiden Bismarcks als Reichskanzler reflektierte am 25. März 1890 der Unterstaatssekretär des Äußeren, Maximilian Graf von Berchem, in einem Vermerk die Gründe, die zur Nichtverlängerung des Rückversicherungsvertrags mit Russland geführt hatten

Die Vereinbarung steht, wenn nicht dem Buchstaben, so jedenfalls dem Geiste der Triple-Allianz (gemeint ist der Dreibund) entgegen. (…) Eine so komplizierte Politik, deren Gelingen ohnedies jederzeit fraglich gewesen ist, vermögen wir nicht weiter zu führen nach dem Ausscheiden eines Staatsmannes, der bei seiner Tätigkeit auf dreißigjährige Erfolge und einen geradezu magnetisierenden Einfluß im Auslande sich stützen konnte. Aber auch dem Fürsten Bismarck ist es nicht gelungen, aus dem Vertrage Vorteile zu ziehen; derselbe hat uns nicht vor kritischen Situationen Rußland gegenüber bewahrt, nicht vor den Truppenkonzentrationen Rußlands an unserer Grenze und vor lebhaften Verstimmungen des Zaren. Keinesfalls aber werden wir nach russischer Seite aus dem Vertrage so viel gewinnen, als uns aus demselben Nachteile nach anderen Richtungen erwachsen. (…)

Aus: Institut für Auswärtige Politik in Hamburg (Hg.), Die Auswärtige Politik des Deutschen Reiches 1871-1914, einzige vom Auswärtigen Amt autorisierte gekürzte Ausgabe der amtlichen Großen Aktenpublikation der Deutschen Reichsregierung. Leitung: Albrecht Mendelssohn Bartholdy und Friedrich Thimme, Berlin 1928, Bd. I, S. 461/62.

Die Erschließung von Absatzmärkten, aber auch die Absicherung von Rohstoffquellen, und damit die Zukunft der Wirtschaft und des Wohlstands hingen, so meinten viele Entscheidungsträger, von der Expansion Deutschlands nach Übersee ab. Die damit verbundene Missachtung der Kolonialvölker kulminierte 1905/06 im ersten Völkermordversuch des 20. Jahrhunderts, als deutsche Kolonialtruppen die aufständischen Völker der Nama und Herero nicht nur militärisch besiegten, sondern auch in der Wüste dem Hungertod preisgaben.

Wilhelminismus und Weltpolitik

"Seien Sie doch nicht so unruhig! Sie werden den Kahn noch zum Kentern bringen." - Das missratene Kind. Karikatur auf Wilhelm II. aus der englischen Punch, 10.05.1890. (© picture-alliance/akg)

Der junge Kaiser, dessen vermeintlich "persönliches Regiment" der Epoche den Stempel aufdrückte, war nicht allein ein begeisterter Außenpolitiker, er engagierte sich auch von Anfang an auch für eine nach Expansion und Kolonialbesitz strebende Weltpolitik. Im Tagesgeschäft wurde er von den jeweiligen, für die Außenpolitik zuständigen Kanzlern und den Staatssekretären des Auswärtigen beraten und gelenkt. Zur unübertroffenen Meisterschaft darin brachte es Bernhard von Bülow (1849 – 1929), 1897 zum Staatssekretär des Äußeren und drei Jahre später zum Reichskanzler berufen. Namentlich in der Frage der Modernisierung und des Ausbaus der Kriegsmarine trafen von Bülow und der 1897 als Staatssekretär des Reichsmarineamts berufene Admiral Alfred von Tirpitz (1849 – 1930) beim marinebegeisterten Kaiser auf offene Ohren. Spätestens seit Mitte der 1890er Jahre blieb dessen außenpolitische Vorstellungswelt beherrscht vom Bau neuer Kriegsschiffe und einer offensiven Seestrategie. Er reagierte damit auch auf eine öffentliche Meinung und deren wachsende Bedeutung; vor allem in den bildungs- und wirtschaftsbürgerlichen Schichten des Kaiserreichs, den eigentlichen Trägern eines überschießenden Nationalismus, brach sich die ungehemmte Begeisterung für die neue Flottenpolitik Bahn, die gleichermaßen den Status der Weltmacht gegen England sichern wie ein Kolonialreich errichten sollte. Außenpolitisch führte die vom Kaiser gebilligte, von Bülow vertretene und von Tirpitz durchgeführte Flottenpolitik – die mit einer bis dahin unbekannten Mobilisierung der öffentlichen Meinung verbunden war - zu einer massiven deutsch-britischen Rivalität.

QuellentextDer ein Jahr später zum Staatssekretär im Reichsmarineamt ernannte Alfred von Tirpitz erläutert dem früheren Chef der Admiralität Albrecht von Stosch am 13.23.1896 die Motive der Flottenrüstung

(…) Unserer Politik fehlt bis jetzt vollständig der Begriff der politischen Bedeutung der Seemacht.

Wollen wir aber gar unternehmen, in die Welt hinauszugehen und wirtschaftlich durch die See zu erstarken, so errichten wir ein gänzlich hohles Gebäude, wenn wir nicht gleichzeitig ein gewisses Maß von Seekriegsstärke uns verschaffen. Indem wir hinausgehen, stoßen wir überall auf vorhandene oder in der Zukunft liegende Interessen. Damit sind Interessenkonflikte gegeben. Wie will nun die geschickteste Politik, nachdem das Prestige von 1870 verraucht ist, etwas erreichen ohne eine reale, der Vielseitigkeit der Interessen entsprechende Macht? Weltpolitisch vielseitig ist aber nur die Seemacht. Darum werden wir, ohne daß es zum Kriege zu kommen braucht, politisch immer den kürzeren ziehen. Es ist dabei zu berücksichtigen, daß England den Glauben wohl etwas verloren hat, daß wir unsere Armee zu seinen Gunsten gegen Rußland ins Feuer schicken. Umgekehrt kann England Rußland schon sehr erhebliche Konzessionen in Ostasien machen, wenn Deutschland die Zeche zahlt. In letzterem Umstand liegt die Gefahr, wenn wir z. Zt. in einen Konflikt verwickelt werden, der Rußland, Frankreich und England betrifft. Wenn wir auch sagen wollten, wir führen keinen Krieg wegen transatlantischer Interessen, so sagen dasselbe nicht anderen drei Staaten und so arbeiten wir fortgesetzt im politischen Nachteil. (…)

Aus: Ritter, Das Deutsche Kaiserreich, S. 301f.

QuellentextDer Schriftsteller Theodor Fontane schreibt in einem Brief an seinen Freund, den Amtsgerichtsrat Georg Friedländer, am 5. April 1897 über den Kaiser

In gewissem Sinne befreit er uns von den öden Formen und Erscheinungen des alten Preußenthums, er bricht mit der Ruppigkeit, der Poplichkeit, der spießbürgerlichen Sechsdreierwirtschaft der 1813er Epoche (jener der ´Befreiungskriege`), er läßt sich, aufs Große und Kleine hin angesehn, neue Hosen machen, statt die alten auszuflicken.

Er ist ganz unkleinlich, forsch und hat ein volles Einsehen davon, daß ein Deutscher Kaiser was andres ist als ein Markgraf von Brandenburg. Er hat eine Million Soldaten und will auch hundert Panzerschiffe haben; er träumt (und ich will ihm diesen Traum hoch anrechnen) von einer Demüthigung Englands. Deutschland soll obenan sein, in all und jedem. Das alles – ob es klug und ausführbar ist, laß ich dahingestellt sein – berührt mich sympathisch und ich wollte ihm auf seinem Thurmseilwege willig folgen, wenn ich sähe, daß er die richtige Kreide unter den Füßen und die richtige Balancirstangen in Händen hätte. Das hat er aber nicht. Er will, wenn nicht das Unmögliche so doch das Höchstgefährliche, mit falscher Ausrüstung, mit unausreichenden Mitteln. (…)

Preußen - und mittelbar ganz Deutschland – krankt an unseren Ost-Elbiern. Ueber unseren Adel muß hinweggegangen werden; man kann ihn besuchen wie das aegyptische Museum und sich vor Ramses und Amenophis verneigen, aber das Land ihm zu Liebe regieren, in dem Wahn: dieser Adel sei das Land, - das ist unser Unglück und so lange dieser Zustand fortbesteht, ist an eine Fortentwicklung deutscher Macht und deutschen Ansehns nach außen hin gar nicht zu denken.

Aus: Theodor Fontane, Briefe, herausgegeben von Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, 4 Bde., Bd. 4 (1890-1898), 642/43.

Auf dem Feld der kolonialen Expansion sah sich Deutschland indessen ständigen Konfrontation ausgesetzt. Denn die Suche nach einem "Platz an der Sonne" begann zu einer Zeit intensiver zu werden, da die überseeische Welt unter den etablierten Kolonialmächten bereits aufgeteilt war. In Nordafrika stießen die deutschen Ambitionen auf etablierte französische Interessen, die Orientpolitik der Reiches rief englische Befürchtungen hervor. Die diplomatischen Konflikte, die dadurch ausgelöst wurden, wogen schwerer als der vermeintlich gestärkte Weltmacht-Status, zumal die in Berlin verfolgte "Politik der freien Hand" nach Außen – die in der Forschung bereits früh als eine Art bindungsloses Torkeln, als "springende Unruhe" zwischen den Großmächten Russland und England charakterisiert wurde (Hermann Oncken) – die bündnispolitische Position des Reiches deutlich schwächte. Als verlässlicher Bündnispartner blieb allein die schwächelnde Doppelmonarchie Österreich-Ungarn übrig.

Dennoch gab es 1898 nochmals eine Chance zur Verständigung mit England. Der britische Kolonialminister Joseph Chamberlain (1836 – 1914) unterbreitete dem deutschen Botschafter in London, Paul Graf von Hatzfeld (1831 – 1901), den "Wunsch" nach einem Vertrag mit dem Dreibund. Überzeugt, dass England sich weltpolitisch zu überheben drohte und deshalb nach Bündnispartnern suchen müsse, war das Angebot durchaus ernst gemeint. Doch es wurde von der deutschen Regierung nicht einmal ernsthaft geprüft. In der Wilhelmstraße war man fest davon überzeugt, die durch den angeblich unüberbrückbaren Gegensatz zwischen England und Russland garantierte und durch die kolonialen Konflikte zwischen England und Frankreich noch verstärkte außenpolitische Handlungsfreiheit beibehalten zu können.

QuellentextAus der ersten Reichstagsrede des Staatssekretärs des Äußeren, Bernhard von Bülow, im Reichstag am 6.12.1897

Die Zeiten, wo der Deutsche dem einen seiner Nachbarn die Erde überließ, dem anderen das Meer und sich selbst den Himmel reservierte, wo die reine Doktrin thront – diese Zeiten sind vorüber.

Wir betrachten es als eine unserer vornehmsten Aufgaben, gerade in Ostasien die Interessen unserer Schiffahrt, unseres Handels und unserer Industrie zu fördern und zu pflegen. (...) Wir müssen verlangen, daß der deutsche Missionar und der deutsche Unternehmer, die deutschen Waaren, die deutsche Flagge und das deutsche Schiff in China geradeso geachtet werden, wie diejenigen anderer Mächte. Wir sind endlich gern bereit, in Ostasien den Interessen anderer Großmächte Rechnung zu tragen, in der sicheren Voraussicht, daß unsere eigenen Interessen gleichfalls die ihnen gebührende Würdigung finden. Mit einem Worte: wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne.

Aus: Fürst Bülows Reden nebst urkundlichen Beiträgen zu seiner Politik. Hrsg. von Johannes Penzler, Bd. 1, Berlin 1907, S. 71.

Doch anders als erwartet legten England und Frankreich am 8. April 1904 ihre kolonialen Konflikte bei und verbanden sich zur Entente cordiale. Sie war auch durch die von Deutschland provozierten zwei Marokko-Krisen 1905/06 und 1911 nicht mehr aufzubrechen. Schließlich verständigten sich auch Russland und England: Am 31. August 1907 einigten sich beide Mächte über ihre Interessensgebiete in Asien und im Nahen Osten. Schnell war klar, dass sich damit die Entente cordiale zur Triple-Entente entwickelt hatte. Bis zum Amtsantritt von Bethmann Hollweg bestand die außenpolitische Reaktion Deutschlands auf diese als "Einkreisung" verstandenen Bündnis-Entwicklungen vor allem darin, den noch engeren Schulterschluss "in treuem Zusammenstehen" (Bernhard von Bülow) mit Österreich-Ungarn zu suchen. Seine Position auf dem Balkan sollte unter allen Umständen gesichert werden.

Am Ende der Amtszeit Bülows war man auf der Einbahnstraße der selbst verschuldeten außenpolitischen Isolierung weit vorangekommen. Das noch Bismarck wie einen Alp belastende Schreckensbild eines Zweifrontenkrieges konnte Wirklichkeit werden. Und über den "Erbfeind" Frankreich und das zum absoluten Feindbild geronnene Zarenreich hinaus zählte nun auch Großbritannien, provoziert durch den deutschen Schlachtflottenbau, zu den möglichen Gegnern in einem großen europäischen Krieg. Dem neuen Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg (1856 – 1921) gelang es zwar im gemeinsamen Krisenmanagement mit England, die Balkankriege 1912/13 zu lokalisieren. Doch die Idee, die "Einkreisung" durch eine Flucht nach vorn in einen vermeintlichen Präventivkrieg aufzubrechen, gewann in Deutschland immer mehr Befürworter

QuellentextNach dem Friedens- und Bündnisangebot durch den britischen Kolonialminister Joseph Chamberlain an Deutschland im Januar 1901, vermerkte der Vortragende Rat im Auswärtigen Amt, der – seit ihn der Publizist Maximilian Harden so genannt hat – Inbegriff der "Grauen Eminenz", Friedrich von Holstein

Ich bin gegen den jetzigen Freundschaftssturm von Chamberlain und Genossen deshalb besonders mißtrauisch, weil die angedrohte Verständigung mit Rußland und Frankreich so vollständiger Schwindel ist. (…)

Wir können warten, die Zeit läuft für uns. Ein vernünftiges Abkommen mit England, d.h. ein solches, wo der beinahe sicheren Kriegsgefahr, welcher wir uns dabei aussetzen, gebührende Rechnung getragen wird, läßt sich meines Erachtens erst dann erreichen, wenn das Gefühl der Zwangslage in England allgemeiner als heute geworden ist.

Aus: Johannes Hohlfeld (Hg.), Dokumente der Deutschen Politik und Geschichte von 1848 bis zur Gegenwart. 2 Bde., Bd. II, S.122

Ausgewählte Literatur:

Konrad Canis, Bismarcks Außenpolitik 1870-1890. Aufstieg und Gefährdung, Paderborn 2003

Ders., Von Bismarck zur Weltpolitik. Deutsche Außenpolitik 1890 – 1902, Berlin 1997

Ders., Der Weg in den Abgrund. Deutsche Außenpolitik 1902 – 1914, Paderborn 2011

Christopher Clark, Wilhelm II. – Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers, München 2008 (2000)

Jost Dülffer, Hans Hübner (Hg.), Otto von Bismarck. Person – Politik – Mythos, Berlin 1993

Ders., Karl Holl (Hg.), Bereit zum Krieg. Kriegsmentalität im wilhelminischen Deutschland 1890 – 1914, Göttingen 1986

Klaus Hildebrandt, Deutsche Außenpolitik 1871 – 1918, München 1994 (1989)

Ders., Das Vergangene Reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871 – 1945, Stuttgart 1995

Andreas Hillgruber, Bismarcks Außenpolitik, Freiburg 1972

Rainer Lahme, Deutsche Außenpolitik 1890 – 1894. Von der Gleichgewichtspolitik Bismarcks zur Allianzstrategie Caprivis, Göttingen 1990

Wolfgang J. Mommsen, Das Zeitalter des Imperialismus, Frankfurt am Main, Hamburg 1987 (1969)

Ders.: Großmachtstellung und Weltpolitik 1870-1914. Die Außenpolitik des Deutschen Reiches, Berlin 1993

Hans-Ulrich Wehler, Bismarck und der Imperialismus, Köln 1973 (1969)

Gilbert Ziebura (Hg.), Grundfragen der deutschen Außenpolitik seit 1871, Darmstadt 1975 (Wege der Forschung, Bd. CCCXV)

Fussnoten

Weitere Inhalte

Dr. Bernd Ulrich, geb. 1956, ist selbstständiger Historiker und als Publizist, (Rundfunk-) Autor und Kurator tätig. Eine Übersicht seiner Arbeiten bietet: Externer Link: www.berndulrich.com.