In der Zeit des Kaiserreichs erlebte Deutschland den Durchbruch zur modernen Industriegesellschaft. Industrie und Gewerbe, Handel und Verkehr drängten die Landwirtschaft immer stärker in den Hintergrund und wurden zur wesentlichen Triebkraft von wirtschaftlichem Wachstum und gesellschaftlichem Wandel.
...und hier eine Szene aus einem Pfandleihhaus ("Im Leihhause" - Gemälde von Christian Ludwig, 1876) (© picture-alliance/akg)
...und hier eine Szene aus einem Pfandleihhaus ("Im Leihhause" - Gemälde von Christian Ludwig, 1876) (© picture-alliance/akg)
Der industrielle Kapitalismus brachte zugleich eine Klassengesellschaft hervor, die von marktabhängigen Erwerbsklassen mit
Wanderungsbewegungen: Ansässige, Abgewanderte, Zugewanderte und Wanderungsbilanz in abs. Zahlen, 1907
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ausgeprägten Gegensätzen insbesondere zwischen besitzendem Bürgertum auf der einen und lohnabhängigem Proletariat auf der anderen Seite geprägt war. Im Zuge der Hochindustrialisierung bildeten Wirtschaft, Kapital und Arbeit hochgradig organisierte Organisationsstrukturen aus, die das individuelle Gesellschaftsideal des klassischen Liberalismus zunehmend veraltet erscheinen ließen. Zugleich verschob sich der Schwerpunkt des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens immer mehr vom Lande in die expandierenden Städte, begleitet von einer dynamischen Modernisierung der Infrastrukturen und der alltäglichen Lebensverhältnisse.
Die Industrialisierung
Die Einwohnerschaft Berlins nach der Gebürtigkeit 1907
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Nachdem sich in der Zeit zwischen 1850 und 1870 die Startphase der Industriellen Revolution vollzogen hatte, trat das Kaiserreich in die Phase der Hochindustrialisierung ein. Die Zentren der industriellen Produktion in Mittel- und Südwestdeutschland, um Berlin und vor allem im Ruhrgebiet wurden immer größer und ökonomisch dominanter. Hier fanden nicht nur die Überschüsse einer rasch wachsenden Bevölkerung Beschäftigung, die zwischen 1871 und 1910 von 41 auf 65 Millionen anstieg. Die Industrialisierung rief vielmehr auch eine enorme Mobilität hervor, denn viele Menschen zogen auf der Suche nach Arbeit – wenn sie nicht gleich nach Übersee auswanderten - vom Lande in die expandierenden industriellen Zentren. Ihre Beschäftigtenzahl zog Mitte der 1890er Jahre mit der Landwirtschaft gleich und begann sie im frühen 20. Jahrhundert zu überflügeln.
Wanderungsbilanz in Berlin und Brandenburg 1861-1910
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Vor allem aber übertraf die industrielle Wertschöpfung die des primären Wirtschaftssektors bald immer deutlicher. Auch wenn die Zeitgenossen noch engagiert darüber diskutierten, ob Deutschland von einem Agrar- zu einem Industrieland werden sollte: Ökonomisch war die Entscheidung Ende des 19. Jahrhunderts längst gefallen. Auf Textil-, Eisen- und Stahlproduktion als Leitsektoren der industriellen Entwicklung folgten nun die Chemie- und Elektroindustrie, mit der Deutschland endgültig vom Nachzügler zum Vorreiter der Industrialisierung in Europa wurde. Die Landwirtschaft dagegen, die mit dem forcierten Einsatz moderner Maschinen und Düngemittel selbst einen Prozess der Industrialisierung durchlief, litt unter einer strukturellen Agrarkrise.
Bevölkerungs- und Stadtentwicklung in Preußen/Deutschland 1816-1910 | ||||||||
Jahr | Gesamteinwohnerzahl absolut (in 1000) | davon Stadtbevölkerung | davon lebten in Gemeinden mit ...-tausend Einwohnern (in %) | |||||
unter 2 | 2 bis 5 | 5 bis 20 | 20 bis 100 | über 100 | ||||
Preußen | 1816 | 10320 | 27,9 | - | - | 4,2 | 4,1 | 1,8 |
1849 | 16331 | 28,1 | - | - | 8,5 | 4,8 | 3,3 | |
1871 | 24640 | 37,2 | 62,8 | 12,3 | 11,9 | 7,8 | 5,4 | |
1910 | 40167 | 61,5 | 38,4 | 10,2 | 14,1 | 14,7 | 22,4 | |
Deutsches Reich | 1871 | 41010 | 36,1 | 63,9 | 12,4 | 1,2 | 7,7 | 4,8 |
1910 | 64926 | 60,0 | 40,0 | 11,2 | 14,1 | 13,4 | 21,3 | |
nach: Jürgen Reulecke, Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt/M. (Suhrkamp) 1985, S. 202. |
QuellentextDer Nationalökonom Gustav Schmoller über die Entwicklung des Großbetriebes und die soziale Klassenbildung (1892)
(…) Die Großbetriebe sind heute mehr oder weniger selbständige Anstalten für die Produktion, den Handel, den Verkehr, welche vom Haushalt der Mitarbeitenden ganz, auch mehr und mehr von den Lebensschicksalen der Betheiligten losgelöst, ihre eigentümliche Verfassung, ihr eigenes, dauerndes, durch Generationen hindurch fortdauerndes Leben haben.
Der intime, rein private Charakter der alten kleinen Geschäfte ist schon deshalb verschwunden, weil an den Großbetrieben die wirtschaftliche Existenz ganzer Gruppen verschiedener Familien hängt. Da sind die leitenden Persönlichkeiten, dann die Aktionäre, stillen Theilhaber, sonstigen Kapitalinteressenten und Gläubiger, endlich die Werkmeister und Arbeiter; aber nicht bloß sie kennen den Betrieb und haben ein Interesse an ihm; nein, da sind noch Hunderte und Tausende von Kunden, die von nah und fern das Geschäft verfolgen, dann zahlreiche Händler, Lieferanten, Konkurrenten, endlich die Nachbarn, die ganze Stadt, der Kreis, die Provinz, welche ein Interesse an dem Auf- und Niedergang des großen Betriebs haben. Die Lage, die baulichen Einrichtungen, die guten oder schlechten Verkehrsbedingungen jedes Großbetriebs werden ebenso zu einer Gemeinde- und Bezirksangelegenheit, wie die Rückwirkung desselben auf Schulwesen, Steuerkraft, Bevölkerungszu- oder –abnahme, Wohlstand und Verarmung der ganzen Gegend, Art der Siedlung und Grundeigenthumsvertheilung die weitesten Kreise berührt. So ist es wahr, daß die Großbetriebe die Volkswirtschaft immer mehr in einen gesellschaftlichen Prozeß verwandeln, wobei private und allgemeine Interessen immer komplizirter verbunden und in einander geschlungen werden. Der einzelne Großbetrieb wird, welche rechtliche Verfassung er auch im Einzelnen haben mag, zu einem Mittelding zwischen einem privaten und einem öffentlichen Haushalt; auch wo der Privatunternehmer an der Spitze desselben bleibt, kann er nicht mehr dieselbe Stellung haben, wie in einer Familienwirthschaft; es schieben sich allgemeine Interessen, Elemente der öffentlichen Organisation in den Großbetrieb ein. (…)
Die praktische Durchführung der Wahrheit aber, daß aller Großbetrieb eine Art von öffentlichem Charakter annimmt, ist eine außerordentlich schwierige, weil wohl die Geschäfte mit 10-17000 Arbeitern, wie die Mansfelder Kupferwerke oder die Krupp’schen Stahlwerke, ja auch schon unsere großen Bergwerke mit 1000 und mehr Arbeitern diesen Typus klar erreicht haben, weil aber die ungeheure Mehrzahl der großen Geschäfte mit 10 und 20, ja mit 50 und 100 Arbeitern noch viel von dem älteren Typus des Familiengeschäfts an sich tragen. Es kommt hinzu, daß alle diese Dinge im Flusse begriffen sind, daß eine unzweifelhafte Tendenz auf zunehmenden Großbetrieb vorhanden ist, daß aber andererseits die Vorstellung, als ob unser ganzes Geschäftsleben in allen seinen Theilen binnen Kurzem dem Großbetrieb verfallen würde, doch eine gänzlich falsche ist. Es will mir vorkommen, als wenn wir in mancher Beziehung bald an der Grenze dieser Tendenz angekommen wären, als ob bald an vielen Stellen der Punkt erreicht wäre, von dem an die Schwerfälligkeit und die Kosten des Großbetriebs der Verbilligung und technischen Verbesserung die Waage halten würden. Jedenfalls kann für den nüchternen Beobachter darüber kein Zweifel sein, daß der größere Theil des Handwerks, die Kunst- und Beherbergungsgewerbe, der Kleinhandel die alte Form mittlerer und kleinerer Betriebe nicht oder nur theilweise abstreifen werden. (…)
Aus: Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellungen 8, S. 99f.
Wirtschaftskrisen und Entwicklungsphasen
Die Wertschöpfung nach Wirtschaftsbereichen
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Die industrielle Dynamik stellte sich allerdings keineswegs als eine kontinuierliche, gar harmonische Aufstiegsentwicklung dar. Sie war vielmehr selbst von gravierenden Krisen und Konflikten begleitet. Auf den ökonomischen Boom der Reichsgründungszeit folgte 1873 die sog. Gründerkrise. Dabei handelte es sich um eine schwere, in Deutschland besonders einschneidend erfahrene Weltwirtschaftskrise, die bis Ende der 1870er Jahre anhielt und der in den 80er und 90er Jahren weitere schwere konjunkturelle Einbrüche folgten. Wenn viele Historiker sogar von einer Großen Depression zwischen 1873 bis 1895 sprechen, so ist darunter allerdings keineswegs ein allgemeiner Produktionsrückgang zu verstehen. Die Wachstumsraten verlangsamten sich vielmehr zeitweise durch rasch aufeinander folgende, krisenhafte Konjunktureinbrüche in einer insgesamt weiterhin wachsenden Wirtschaft. Mitte der 1890er setzte dann wieder eine lange anhaltende Aufschwungphase ein, die nur zwischen 1906 und 1908 von einem kurzen Produktionsrückgang unterbrochen wurde.
Die Mitgliederentwicklung der gewerkschaftlichen Spitzenverbände: Freie, Christliche und Hirsch-Dunckersche Gewerkschaften 1868-1919
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Die Mitgliederentwicklung der gewerkschaftlichen Spitzenverbände: Freie, Christliche und Hirsch-Dunckersche Gewerkschaften 1868-1919
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Diese Phase der Hochindustrialisierung brachte zugleich einen weiteren einschneidenden Strukturwandel mit sich. Angesichts der notwendigen Investitionen in die Entwicklung moderner Großunternehmen gewann das Finanzkapital eine wachsende Bedeutung. Die traditionellen Familienbetriebe wurden zunehmend von Aktiengesellschaften abgelöst und mehr von Managern als von Besitzern geleitet. Fabriken und Betriebe wuchsen rasant, zugleich entstanden Konzerne, die mit der Bildung von Syndikaten und Kartellen weitreichende Konzentrationsprozesse einleiteten und monopolartige Stellungen entwickeln konnten. Diese Entwicklung zum "Organisierten Kapitalismus" (Rudolf Hilferding) wurde begleitet von einer immer deutlicher ausgeprägten staatlichen Interventionspolitik, die in der Schutzzollpolitik nur ihren deutlichsten Ausdruck fand. Die Zentralisierungsprozesse des industriellen Kapitalismus prägten aber auch die Entwicklung der Gewerkschaften als Vertretung der Arbeiterschaft, die sich nach dem Auslaufen der Sozialistengesetze 1890 nicht nur in der Generalkommission der Freien Gewerkschaften zusammenschlossen. Auch die Einzelgewerkschaften entwickelten sich von anfangs oft lokal organisierten Berufsverbänden über Branchengewerkschaften zu umfassenden, national agierenden Industrieverbänden. Diese Industrieverbände organisierten alle Arbeiter von großen Industriesparten wie etwa der Metallindustrie oder der Textilindustrie.
QuellentextDer Sozialliberale Friedrich Naumann 1906 über "Organisation" als Zeichen der Zeit
Alle Verhältnisse werden vom Gedanken der Organisation, das ist der Regelung der Menge, durchdrungen. Es wird ein Stolz des Menschen, in großen Betrieben zu stehen, in weite Verbindungen hineingezogen zu sein.
Oft ist dieser Stolz noch gemischt mit einem schmerzlichen Rückblick auf Zeiten, wo der einzelne für sich etwas war. Aber was hilft es? Selbst der Landmann beginnt sich zu organisieren. Alle fühlen, daß sie gemeinsam ihre Geschäfte machen müssen, daß auf Vereinzelung wirtschaftliche Todesstrafe gesetzt ist. Diese Änderung unserer Gegenwart ist eines der interessantesten Erlebnisse. Es kommt uns allen unerwartet, denn die Parole der geistigen Bewegung, die der Gegenwart vorausging, war die Unabhängigkeit des Einzelmenschen. (…) Man zerbrach die alten Verbände und Zünfte, um den einzelnen freizumachen, und verlangte vom Staat, daß er nichts anderes tue, als das Eigentum zu schützen und den einzelnen sich bewegen zu lassen. Mit viel echtem Idealismus wurde diese Kunde vom Sieg des Individualismus vernommen und weitergegeben. Und doch ist heute alles voll von Motiven anderer Art. Alle Teile des Volkes treten mit Forderungen an den Staat heran. Die Forderungen der Sozialisten und Bodenreformer, die auf öffentliche Regelung der Produktion, des Wohnungs- und Hypothekenwesens hinauslaufen, finden willige Hörer. Der Staat und die Verbände werden Wirtschaftsfaktoren, an deren Notwendigkeit man glaubt. So wirkt das Wachsen der Masse …
Das heißt aber mit anderen Worten: die Wirtschaftsleitung wird den Produzenten aus der Hand genommen und geht teils in die Verbände, teils an den Staat über. Die Zahl der wirtschaftlich leitenden Personen wir immer kleiner. Oft ist die Leitung nur noch Schein. Ein kleiner Kaufmann muß trotz formaler Freiheit genau das tun, was seine Verkaufsstelle von ihm fordert. Er zahlt die Miete, die in seiner Straße üblich ist, führt die Waren, die von den Verbänden der Fabrikanten oder von seinem Verkaufsverein normiert sind, nähert sich im Grade seiner Selbständigkeit langsam der Lage der Angestellten der Konsumvereine. Der Tierzüchter muß marktgängige Ware liefern und findet deren Preis in der Zeitung. Es verbreitet sich ein Geist der Gebundenheit an ein dunkles Ganzes, das uns alle umfängt. Nicht als ob sich nicht besondere Talente der Bindung entziehen könnten, aber für den Durchschnittsmenschen sind die Existenzbedingungen festgelegt. Er kann sie als Glied seiner Gruppe zu verbessern suchen, aber nicht als persönliches Ich. Deshalb zahlt er Beiträge für seine Gruppenvertretung.
Aus: Deutsche Sozialgeschichte 1870-1914, S. 32f
QuellentextBericht des Vereins für Sozialpolitik über die Tätigkeit eines Berliner Straßenbahnführers 1902
Man muß dabei in Betracht ziehen, daß ein elektrischer Wagen eine viel größere Geschwindigkeit hat als ein anderes Gefährt; die elektrischen Straßenbahnen fahren in den Außenbezirken mehr als 30 km in der Stunde.
Bei dem regen Wagen- und Fußgängerverkehr in den Hauptstraßen Berlins, welcher zeit-resp. Stellenweise eine solche Dichtigkeit erlangt, daß er überhaupt nicht mehr gesteigert werden kann, gehört eine nervöse Aufmerksamkeit und Anspannung dazu, auf alle Hindernisse zu achten, zumal der Wagen wegen seiner Gebundenheit an die Schiene nicht ausweichen kann. Der Führer schwebt in steter Gefahr, mit anderen Fuhrwerken zusammenzustoßen oder gar Menschen zu überfahren. Andererseits darf er auch nicht ängstlich sein, denn sonst würde er in dem Wagengedränge überhaupt nicht vom Fleck kommen. Daß ein so anstrengender Dienst die Nerven ruiniert, ist jedem verständlich. Auch der Wagenführer hat die bei Gelegenheit des Droschkenwesens erwähnten, in § 316 des Strafgesetzbuches resp. In dem Gesetz vom 27. Dezember bestimmten Strafen zu gewärtigen. Von den Angestellten wird gewünscht, daß an gefährlichen Punkten Signalwärter aufgestellt werden.
Dem Wind und Wetter ist der Führer vollkommen preisgegeben. Selbst bei strömenden Gewitterregen darf er seinen Posten nicht verlassen. Trotzdem er oft bis auf die Haut durchnäßt ist, muß er, zitternd vor Kälte, bis in die tiefe Nacht hinein seinen Dienst versehen. (…) All diese Momente bringen uns zu der Überzeugung, daß der Dienst der Motorwagenführer in seelischer, geistiger und körperlicher Hinsicht eine der aufreibendsten Thätigkeiten ist. Sie arbeiten mit Augen, Ohren und beiden Händen. Mit dem einen Fuße stehen sie auf der Signalglocke und dem anderen im Gefängnis oder halb im Grabe. Wir möchten nochmals besonders betonen, daß gerade der ungeheure Massenverkehr der Reichshauptstadt das Fahren viel schwieriger gestaltet als in jeder anderen Stadt.
Aus: Deutsche Sozialgeschichte 1870-1914, S. 54
Die industrielle Klassengesellschaft
Wohn- und Schlafraum in der Manteuffelstraße 64 in Berlin, aufgenommen am 27.6.1910: Während die Mutter Knallbonbons fertigt, müssen die beiden Kinder helfen. Raummaße: 4,00m lang, 2,75m breit, 2,60m hoch. (© picture-alliance, ZB)
Wohn- und Schlafraum in der Manteuffelstraße 64 in Berlin, aufgenommen am 27.6.1910: Während die Mutter Knallbonbons fertigt, müssen die beiden Kinder helfen. Raummaße: 4,00m lang, 2,75m breit, 2,60m hoch. (© picture-alliance, ZB)
Die Industrialisierung führte zur Ausbildung einer modernen Klassengesellschaft mit nicht nur in ökonomischer Hinsicht deutlich unterschiedenen Erwerbsklassen. Vor allem Bürgertum und Arbeiterschaft lebten auch in sozial scharf voneinander getrennten Lebenssphären mit höchst unterschiedlichen Wohnverhältnissen, Bildungsinstitutionen und kulturellen Lebensformen, zwischen denen im Kaiserreich nur wenig Kontakt und Mobilität bestand. Stattdessen rückte der Klassenkonflikt zwischen Kapital und Arbeit mit der fortschreitenden Industrialisierung immer stärker ins Zentrum des gesellschaftlichen und politischen Lebens. In der Arbeiterschaft bildete sich ein wachsendes Klassenbewusstsein aus, das nicht zuletzt von der Erfahrung getragen war, dass die Zugehörigkeit zu dieser Klasse über Generationen ‚vererbt’ wurde. Das "geborene Proletariat" (Hartmut Zwahr) erkannte immer deutlicher seine gemeinsamen sozialen und politischen Interessen, organisierte sich in Gewerkschaften, eigenen Konsum- und Bildungsvereinen sowie in der sozialdemokratischen Partei. Gewerkschaften bildeten sich mit unterschiedlichen weltanschaulichen Ausrichtungen. Doch wie stark betont klassenkämpferische, streikorientierte Orientierungen in der Arbeiterschaft verbreitet waren, zeigt die unterschiedliche Mitgliederentwicklung an: Während die sozialdemokratischen Freien Gewerkschaften am Vorabend des Ersten Weltkrieges 2,5 Millionen Mitglieder organisierten, kamen die wirtschaftsfriedlich orientierten christlichen und liberalen Gewerkschaftsorganisationen zusammen nicht einmal auf eine halbe Million.
Streiks, Aussperrungen und "kampflose Bewegungen" 1890 - 1913
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Den Gewerkschaften standen Unternehmer und ihre Verbände gegenüber, die sie lange nicht als gleichberechtigte Kontrahenten akzeptieren wollten. Insbesondere in den schwerindustriellen Großbetrieben herrschte ein Herr-im-Haus Standpunkt vor, der jede gewerkschaftliche Betätigung ablehnte und aktiv zu verhindern suchte. Unternehmen wie Krupp etwa organisierten eigene "gelbe" Betriebsgewerkschaften, die auf das Unternehmensinteresse verpflichtet waren. Und sie verfolgten sozialdemokratisch orientierte Arbeiter mit schwarzen Listen, auf denen alle diejenigen verzeichnet waren, die keine Beschäftigung mehr finden sollten. Trotz einer Vielzahl von Arbeitskämpfen mit Streiks und Aussperrungen, die teilweise zu bürgerkriegsähnlichen
Erwerbstätige nach Wirtschaftssektoren und Stellung im Beruf (in Prozent)
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Zuständen führen konnten, kam so der von den Gewerkschaften angestrebte Abschluss von verbindlichen Tarifverträgen nur langsam voran: Am Vorabend des Ersten Weltkrieges waren erst 1.4 Millionen Beschäftigungsverhältnisse tarifvertraglich geregelt, überwiegend in kleinen und mittelständischen Betrieben.
Die durchschnittlichen Jahresverdienste von Arbeitnehmern in Industrie, Handel und Verkehr
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Allerdings darf man sich trotz dieser Klassentrennung weder das Bürgertum noch die Arbeiterschaft als homogene, gar die ganze Gesellschaft beherrschende soziale Formationen vorstellen. In der Arbeiterschaft gab es eine ausgeprägte Hierarchie zwischen relativ gut verdienenden Facharbeitern auf der einen, wesentlich schlechter gestellten an- oder ungelernten Arbeitern auf der anderen Seite. Eine besondere Rolle spielten ferner die Hausangestellten und die Landarbeiter, die sich zumeist nicht dem Proletariat zugehörig fühlten. Die Kerngruppen des Bürgertums waren ebenfalls schon in sich keineswegs einheitlich. Hier handelte es sich vor allem um akademisch gebildete Bürger im gehobenen Staatsdienst und in den freien Berufen und die immer stärker in den Vordergrund tretenden Wirtschaftsbürger, die die neuen Großunternehmen leiteten. Sie machten ferner nur wenige Prozent der Bevölkerung aus, und sie mussten ihren gesellschaftlichen Führungsanspruch mit einem Adel teilen, der noch immer einen privilegierten Zugang zu den Schalthebeln der staatlichen Macht besaß. Zum Bürgertum zählten ferner die selbständigen mittelständischen Gewerbetreibenden, die allerdings an Prestige, Einfluss und Einkommen mit dem Großbürgertum nicht Schritt halten konnten. Hinzu kamen viele Zwischengruppen mit gehobener, aber nicht universitärer Bildung und bald auch der sog. neue Mittelstand, die schnell expandierende Gruppe der Angestellten.
QuellentextBericht über einen Besuch im Berliner Kaufhaus Wertheim, 1903
Neulich habe ich Wertheim zum ersten Male besucht. Es handelte sich um den Einkauf verschiedenerlei Dinge, von denen meine Frau behauptete, daß man sie bei Wertheim am billigsten und besten bekäme (aber auf dem "billigsten" lag der Ton).
Da habe ich den Berliner Louvre kennen gelernt. Zuerst mußte ich mir an einer der Hauptkassen ein "Sammelbuch" kaufen; die Kassen waren umdrängt, aber nach einer kleinen halben Stunde hatte ich mein Buch und konnte nun losziehen. Doch ich zog nicht. Ich versuchte zunächst einmal, mich zu orientieren. Ich bin nicht ganz ohne Findigkeit; hier jedoch verließ mich jedwede topographische Begabung. Die strömende Menschenmenge schob mich hin und her; ich wollte zu den Parfüms und geriet zu den Kurzwaren, und plötzlich stand ich vor einer Dame, die mir Taschentücher zeigte, und eine halbe Minute später war ich mitten unter das Emaillegeschirr geraten. Nun dachte ich, das Parfüm bis zuletzt zu lassen und mich den Korbwaren zuzuwenden, wo ich einen Triumphstuhl als höchsten Triumph der Madonna della Sedia erstehen wollte. Da mußte ich aber in den dritten Stock. Einer der offiziellen Führer, ein Herr, der wie ein Legationssekretär aussah, sagte mir, ich solle doch den Fahrstuhl benutzen oder die Rutschbahn. Der Gedanke an die Rutschbahn lockte mich; so etwas kannte ich eigentlich nur von Jahrmärkten oder aus der Hasenhaide; in den Berliner Geschäften war das Rutschen bisher nicht üblich. Die Wertheimsche Rutschbahn ist ein trottoir roulant; bei Schwindelfreiheit kann man sich ihm beruhigt anvertrauen.
Das tat ich denn auch; aber zu den Korbwaren gelangte ich doch nicht; ich weiß nicht, woher es kam – ich befand mich plötzlich in einer Gemäldeausstellung. Da gab es denn mancherlei Hübsches zu sehen, nur keinen Triumphstuhl. Jetzt faßte mich der Grimm; ich beschloß, die Korbwaren zu suchen, koste es was es wolle. Ich unternahm Gebirgspartien, stieg hinauf in luftige Höhen, geriet unvermutet in einen Menschenknäuel hinein, der die photographischen Apparate umdrängte, und sah mich dann wieder von wallenden Schleiern, farbigen Bändern, von Spitzen und Rüschen umgeben. Ein Herr, der wie ein Geheimrat aus dem Kultusministerium aussah, möchte meine Verlegenheit bemerken und fragte nach meinem Begehr. "Oben", meinte er lächelnd und wies auf den Lift. Aber ich hatte nicht aufgepaßt: der Lift ging nicht hinauf, sondern hinunter – und als ich mich umschaute, weilte ich in einem prachtvollen Saale mit Lapislazulisäulen und hörte eine Fontäne rauschen. Jetzt war ich wirklich schon müde. Ich schlenderte mit schweren Schritten weiter, kam in einen Palmengarten und an ein Büfett, wo ein niedliches Mädchen mir ein Glas Limonade kredenzte, kam dann in ein Gewirr von Kinderwäsche, von Hemdchen, Höschen und Röckchen, hierauf zu den Phonographen und endlich zu den ersehnten Parfüms.
Gott sei dank – so weit war ich nun! Aber ich merkte doch, wir sind alle von des Tantalus Geschlecht. Ich spürte den Duft des Parfüms, sah auch die gelben, grünen, roten, amarantfarbenen und safrangelben Flacons – aber heran kam ich nicht. Ganze Menschqnringe umballten die Verkaufstische; ich berechnete, daß ungefähr fünfviertel Stunden verfließen würden, ehe ich an die Reihe käme. Das dauerte mir zu lange, und da mir meine Frau auch anbefohlen hatte, ich solle mich auf Postkarten photographieren und sechsunddreißig mal abziehen lassen, so wollte ich inzwischen das photographische Atelier des Hauses aufsuchen. Ein Herr, der wie ein Rittmeister in Zivil aussah, bedeutete mich: zu diesem Zwecke müsse ich mir an einer bestimmten Kasse erst eine "Nummer" kaufen, und rief ein Fräulein herbei, das mich an diese Kasse führen sollte. Das Fräulein war hübsch, was ich ihr auch sagte, worauf sie mir erwiderte: "Mein Herr, ich habe keine Zeit zu so etwas" – eine Äußerung , die mich anfänglich befremdete, mir doch aber auch des Nachdenkens wert schien.
Aus: Deutsche Sozialgeschichte 1870-1914, S. 198f.
Technisierung, sozialer Wandel und gesellschaftliche Modernisierung
Die preußische Bevölkerung nach Einkommensstufen 1896 und 1912
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Die preußische Bevölkerung nach Einkommensstufen 1896 und 1912
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Die moderne Wirtschaft spielte sich immer weniger nur im Produktionsbereich ab und war zunehmend auf Bürotätigkeiten in Verwaltung, Kommunikation und Dienstleistung angewiesen. Diese Entwicklung spiegelte sich in der wachsenden Zahl von Angestellten. Während es 1882 im Kaiserreich insgesamt nur 307.000 Angestellte gab, wuchs ihre Zahl in den folgenden 25 Jahren auf mehr als das Vierfache, auf 1,3 Millionen an. Obwohl abhängig beschäftigt, unterschieden sich die Angestellten in ihrem sozialen Status deutlich von der Arbeiterschaft: Sie erhielten ein festes Monatsgehalt anstelle des leistungsabhängigen Wochenlohns der Arbeiter, die Arbeitszeiten waren kürzer, die Arbeitsgestaltung selbständiger, die Verantwortung und auch die Aufstiegschancen größer. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass die Angestellten vielfach ihren Unterschied zur industriellen Arbeiterschaft betonten und sich sozial am Bürgertum orientierten, dessen Lebensstil sie zu imitieren versuchten. Dabei wurden sie auch vom Staat unterstützt, der 1911 eine eigene Angestelltenversicherung mit besseren Bedingungen als in den Sozialversicherungen der Arbeiter einrichtete. In sozialer und kultureller Hinsicht wurden die Angestellten zu Trägern einer Reihe von Modernisierungsprozessen. Sie orientierten ihre Familienplanung zunehmend an der Kleinfamilie mit zwei Kindern, sie bemühten sich um Bildung und sozialen Aufstieg, und sie wurden zugleich zur wichtigen Trägergruppe für eine wachsende Freizeitkultur.
Um die Jahrhundertwende bildeten sich vor allem in den Städten generell neuartige, immer stärker von der Technisierung aller Lebensbereiche geprägte Verhältnisse aus. Sie brachten einerseits vielfältige Umweltprobleme wie die Verschmutzung von Wasser, Luft und Boden mit sich, aber auch vielfältige zukunftsweisende Neuerungen. Kommunale Wasser-, Gas- und Elektrizitätswerke sorgten nicht nur im öffentlichen Leben, sondern bald auch im privaten Bereich für künstliches Licht und fließendes Wasser, elektrische Straßenbahnen beschleunigten den öffentlichen Nahverkehr. In den Großstädten kamen Untergrundbahnen hinzu, und auch die ersten Automobile begannen die Straßen zu beleben. Die technisierte Großstadtkultur wurde zur Grundlage für vielfältige fortschrittsoptimistische Visionen, aber auch für Verlusterfahrungen natürlicher Lebenszusammenhänge und für neuartige Krankheitsbilder. Das Nervenkostüm vieler Menschen schien der wachsenden Geschwindigkeit, dem Lärm und der Hektik der industrialisierten Gesellschaft oft nicht mehr gewachsen zu sein, die Nervenkrankheit Neurasthenie griff um sich und wurde zum Kennzeichen eines "Zeitalters der Nervosität" (Joachim Radkau).
QuellentextH. Klose, Über den Wandel der Industrielandschaft (1919)
Wenn vor mehr als fünfundzwanzig Jahren der Schalker Amtmann zur Mittagszeit die Akten zurückschob und seine Sprößlinge zum Spaziergang zusammenrief, so erregte dieser Ruf keine ungemischte Freude.
Vier Stunden Schulstubenarbeit schaffen hungrigen Magen, und dem stand das Mittagessen besser an als ein Gang ins Freie, der dreiviertel, oft auch eine ganze Stunde zu dauern pflegte. Aber der Amtmann war der Meinung, daß Bewegung in frischer und nach Möglichkeit reiner Luft für die Jugend ebenso notwendig sei wie das Lernen in der Schule, und daher führter er uns, seine heranwachsenden Kinder, durch die mittägliche Sonne die noch ungepflasterte, schon damals schwärzliche Oststraße hinab gen Braubauerschaft. So hieß die Nachbargemeinde, bevor sie den vornehmeren Namen Bismarck annahm.
Rechter Hand blieb der in ein Wirtshaus verwandelte Bauernhof der alten Schulten to Monekinck zurück, neben dem ein Kapellensaal nach Aufhören seines geistlichen Berufs dem Realgymnasium des emporblühenden Industrieorts als bescheidene Turnhalle diente. Links standen noch die Reste eines ehemals stattlichen Wäldchens, in dem Friedrich Grillo, der erfolgreiche Gründer, vor Jahren sein Wohnhaus erbaut hatte und das jetzt wie üblich einer Gartenwirtschaft zugehörte. Nun kamen Industrieanlagen: ein Teil des großen Drahtwalzwerks, dann der Ringofen und der hohe Förderturm der Zeche Consolidation II mit seinen lustig drehenden Förderrädern und gegenüber die ruhigere Eisenhütte. Weiter gings, wo die Zechenkolonie Sophienau mit ihren einförmigen, langweilig gereihten Zwei- und Vierfamilienhäusern begann, einem Anschlußgleis nach, den Plankenzaun des großen Grubenholzplatzes entlang, an einer hohen Schutthalde vorüber ... - und dann war man im Freien. Die grünen Wiesen und Weideflächen wechselten ab mit Kartoffelland und Kornfeldern, aus denen man mehr oder minder vorsichtig einige Kornblumen oder Raden herausholen konnte. In diesem freien Gelände ließ sich wandern, so lange man wollte, denn es erstreckte sich fast ununterbrochen zum Emscherflusse und darüberhinaus zum großen Hertener Walde. Jene reizvollen und noch fast ungestörten Waldungen zu erreichen, langte freilich die Mittagszeit nicht hin (...)
Viel schöne Natur, in des Wortes eigentlicher Bedeutung, bot der tägliche Weg des Trampelklubs, wie boshafte Mitschüler ihn benannten, nicht. Schon damals engten im Osten und Westen lange Häuserreihen den Horizont ein; die Halden, Schlote und Gebäude der Kohlen- und Eisenwerke hoben sich düster gegen den Himmel ab, und grauschwarze Rauchfahnen hingen im Winde. Aber man war nicht verwöhnt und schließlich immerhin ein halbes Stündchen außerhalb der Straßen und Häuser gewesen, hatte einiges Grün und blauen Himmel gesehen. An freien Nachmittagen und am Sonntag konnte man weiter wandern (...) zur Emscherschleuse, aus deren Kolk die Krähen große lebendige Flußmuscheln holten. Damals wurde hier noch gebadet, trotzdem es lebensgefährlich und streng untersagt war. Nun sind die Verbote seit Jahren hinfällig, denn in das Wasser dieses Flusses steckt freiwillig miemand mehr einen Finger. Die beiderseitigen Ufergelände waren fast frei von Siedlungen; nur wenige Zechen lagen auf der münsterländischen Nordseite, durch Wald und Feld getrennt und stundenweit von einander entfernt. (…) Man konnte in Feld und Wald ungestraft lagern, ohne sich hinterwärts anzuschwärzen, und auf die Bäume klettern, ohne pechschwarze Knie zu bekommen. Ging man aber in die ansprechende Ländlichkeit der westlichen Nachbargemeinde Heßler, wohin unseren Vater die Dienstpflichten oftmals riefen, so gab es auch da noch weiteste Flächen, vor denen die städtische und industrielle Entwicklung vorläufig Halt gemacht hatte. Saubere Bauern- höfe niedersächsischer Bauart, aus Fachwerk mit großem Einfahrtstor, inmitten freundlicher Eichenkämpe. lagen zwischen Wiesen und Kornfeldern verstreut; an Bach und Graben dufteten die Spiräen, und in manchen Gehölzen konnte man Maiglöckchen finden. (...)
Daß alles dies ein Ende haben könnte, kam uns nicht zum Bewußtsein. Sicher gab es auch damals schon einige, die schärfer in die Zukunft sahen als wir, die wir uns durch die Größe der Industrie, das Geniale und Gigantische im vielseitigen Menschenwerk gern und ganz fesseln ließen und uns an werdenden Fabrikanlagen, Straßen und Wohnhäusern ebenso wie an der Natur in Wald und Feld freuen konnten. Wir waren ja mit einem gewissen Recht stolz auf die amerikanisch genannte Entwicklung des Heimatortes und seiner Nachbarschaft und fühlten uns als Angehörige eines zielstrebigen Gemeinwesens voller Arbeitszähigkeit und Schaffensfreude. Selbst wenn die Giftdämpfe der Kokerei das naheliegende Gehölz zur Ruine wandelten, nahmen wir es als unvermeidlich hin; kaum, daß irgendwo einmal ein Bedauern hörbar wurde. (…)
Man begann ja erst am Ende des Jahrhunderts zu sehen, daß die Zerstörung der Natur unermeßliche Fortschritte gemacht hatte und daß man von ihren Resten als Naturdenkmälern sprechen müsse. Im Unterricht unserer Schulzeit kam der Begriff Heimatschutz nicht vor; auch ihn schuf die aus der Not erwachsene Einsicht der Jahrhundertwende. Wir sahen, ohne vile darüber nachzudenken, schon in den neunziger Jahren den Horizont unseres mittäglichen Weges enger werden. Häuserreihen drangen feldeinwärts; dreistöckige Einzelhäuser mit häßlichen Brandgiebeln wuchsen unvermittelt empor; einige Kirchhöfe mit armseligen Holzkreuzen und geschmacklosem Gräberzierrat schoben sich ein; hohe Schulgebäude und spitztürmige Kirchen reckten sich auf; Abzugskanäle furchten das ebene Gelände, Die schmalen Feldsteige verbreiterten sich zu schwarzen Aschenwegen, und einzelne davon bepflanzte man mit Rüstern, den Bäumen, die sich mit den Platanen um die Ehre streiten, den Weinwirkungen der Industrie am zähesten zu trotzen. Immer merkbarer wurden diese Veränderungen. Unaufhörlich vollzog sich die Wandlung zum Zustande der Gegenwart. Und allmählich, als wir die Kinderschuhe schon ausgezogen hatten, kam auch uns die Ahnung von der furchtbaren Tragik, die auf einer dem Untergang geweihten Landschaft ruht. Nicht so bedrückte uns im Herbst die müde Sterbestimmung des buntblättrigen Laubwalds, folgte doch dem Vergehen die Auferstehung des Frühlings; hier starb die heimatliche Natur ohne Hoffnung. Ich ging nach Jahren im vierten Kriegsherbst (1918, WK) den alten Weg des Trampelklubs, der sich längst in alle Winde zerstreute. Ich versuchte ihn wenigstens zu gehen. Ganze Abschnitte waren verbaut und unzugänglich, und nur weniges erinnerte an die Zeit vor fünfundzwanzig Jahren. Bis auf etliche Weideflächen war alles Ansprechende verschwunden. Hinter verwahrlosten Zäunen oder Heckenresten lagen Anbaustücke aus Runkeln, Kohl und Kartoffeln. An den spärlichen Grasstreifen der Wege und Grabenböschungen grasten Ziegen, die der Humor der Gegend Bergmannskühe nennt. Alles fließende Wasser war tintenschwarz. Im kahlen Lande standen noch einige Bauernhöfe, Ihr einst gelblichweißen Fachwerkfelder sahen zwischen dem schwarzen Balkenwerk schmutzig grau aus. Nur wenige Bäume waren geblieben. (…) Die Rauchfahnen senkten sich erdwärts, und die Luft war erfüllt mit jenem teerähnlichen Geruch, der vielen Teilen des Gebiets eigentümlich geworden ist. Der bedeckte Himmel aber war dunstig und trüber, als er anderswo an Regentagen aussieht. Auch andere Wege durch die längst Stadtteile der Großstadt gewordenen Heimatgemeinden bin ich wieder gegangen und habe manchen Vergleich zwischen dem Einst und dem Jetzt anstellen können. Auf Schritt und Tritt begegneten mir die gründlichsten Veränderungen, und oft habe ich ganze Heimatteile nur mit Mühe wieder entdecken können. Das, was ich schließlich erkannte, sah wie ein Fremdlung in andersartiger Umgebund aus und paßte nicht mehr hinein. Was von ehemaliger Natur, früherer Ländlichkeit noch übrig war, wirkte unzeitgemäß und stimmte traurig. Doch auch diese letzten Reste sind dem Untergange verfallen.
Was dann bleiben wird, soll an dieser Stelle nicht ausgemalt werden. Es gibt Leute, die demgegenüber die malerisch-romantischen Schaustücke der Industrie in den Vordergrund zu stellen bemüht sind. Gewiß, die eisernen Linien des Fördergerüstes heben sich wundervoll vom schwefelgelben Westhimmel ab; dem dröhnenden Walzwerk mit seinem vielstimmigen Arbeitsliede zu lauschen, gewährt einen eigenen Genuß, und die brausenden Flammen der Bessermerbirnen, die feurigen Schlangen des Drahtwerkes, die hellen, um die rotgelb glühenden Koksmauer wallenden Wasserdampfschwaden fesseln den nächtlichen Beobachter stets von neuem. Aber alles das steht auf einem anderen Blatt. Man darf begeistert zustimmen und wird doch unerbittlich feststellen müssen, daß weite Teile des Industrielandes bei aller Großartigkeit ihrer Werke und Arbeit und unendlich vielem verarmt sind, was ohne Schaden für Leib und Seele nicht zu entbehren ist. (…)
Aus: H. Klose, Das westfälische Industriergebiet und die Erhaltung der Natur, Berlin 1919, S. 3-8.
Ausgewählte Literatur:
Born, Karl Erich: Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Deutschen Kaiserreichs, Stuttgart 1985
Brüggemeier, Franz-Josef: Das unendliche Meer der Lüfte. Luftverschmutzung, Industrialisierung und Risikodebatten im 19. Jahrhundert, Essen 1996
Condrau, Flurin: Die Industrialisierung in Deutschland, Darmstadt 2005
Fischer, Wolfram: Wirtschaft und Gesellschaft im Zeitalter der Industrialisierung, Göttingen 1972
Henning, Friedrich-Wilhelm: Die Industrialisierung in Deutschland 1800-1914, Paderborn 1973
Hentschel, Volker: Wirtschaft und Wirtschaftspolitik im wilhelminischen Deutschland. Organisierter Kapitalismus und Interventionsstaat, Stuttgart 1978
Kaelble, Harmut: Industrialisierung und soziale Ungleichheit. Europa im 19. Jahrhundert, Göttingen 1983
Reulecke, Jürgen: Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankf./M. 1985
Rosenberg, Hans: Große Depression und Bismarckzeit. Wirtschaftsablauf und Politik in Mitteleuropa, Berlin 1967
Radkau, Joachim: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München a. a. 1998.