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Kernenergie gehört zu einer guten Klimastrategie | War der Atomausstieg die richtige Entscheidung? | bpb.de

Debatte Atomausstieg

Standpunkt von Anna Veronika Wendland

Kernenergie gehört zu einer guten Klimastrategie

Anna Veronika Wendland

/ 7 Minuten zu lesen

Atomkraft bietet Versorgungssicherheit und wenige CO2-Emissionen. Doch: Durch den Atomausstieg wird Deutschland als Wirtschaftsnation geschwächt, sagt Technikhistorikerin Anna Veronika Wendland.

Am 15. April 2023 sind die letzten drei Atomkraftwerke in Deutschland vom Netz gegangen. Eins davon war Neckarwestheim 2 (siehe Aufnahme). (© picture-alliance/dpa, Marijan Murat)

Der Atomausstieg im Überblick

  • 22. April 2002: Der Atomausstieg wird nach umfassenden gesellschaftlichen Debatten eingeleitet, indem Externer Link: das Atomgesetz von der rot-grünen Bundesregierung geändert wird. Die Gesamtlaufzeit von Atomkraftwerken (AKW) wurde auf ca. 32 Jahre begrenzt und ihr Neubau untersagt. Die Gesetzesnovelle ersetzt das bis dato geltende Atomförderungsgesetz.

  • 28. Oktober 2010: Die Laufzeitverlängerung der deutschen AKW wird um durchschnittlich zwölf Jahre verlängert. Die Novelle des Atomgesetzes wird mit den Stimmen der schwarz-gelben Regierungskoalition beschlossen. Hintergrund war das Energiekonzept der neuen Bundesregierung, das Atomkraft bis zum verlässlichen Ersatz durch Erneuerbare Energie als notwendige Brückentechnologie vorsah.

  • 11. März 2011: In Fukushima ereignete sich eine Reaktorkatastrophe. Ein Erd- und Seebeben löste einen Tsunami aus, der das Kernkraftwerk an der Küste Japans beschädigte. In mehreren Reaktorblöcken kam es zu Kernschmelzen, wodurch radioaktive Emissionen freigesetzt wurden.

  • 14. März 2011: Die schwarz-gelbe Bundesregierung leitet das „Atom-Moratorium“ als Reaktion auf die Reaktorkatastrophe ein. Alle damaligen 17 Atomkraftwerke wurden innerhalb von drei Monaten einer Sicherheitsüberprüfung unterzogen. Zeitgleich wurden die älteren AKW, die bis 1980 in Betrieb gegangen waren, vom Netz genommen. Insgesamt wurden acht Kernkraftwerke heruntergefahren.

  • 30. Juni 2011: Die Laufzeitverlängerung der AKW wurde von der schwarz-gelben Bundesregierung zurückgenommen. Die älteren AKW, die im März heruntergefahrenen wurden, gingen nicht wieder ans Netz.

  • 15. April 2023: Die letzten drei deutschen Atomkraftwerke gehen vom Netz. Der Zeitpunkt des Ausstiegs wurde scharf kritisiert, da im Jahr 2022 durch den Interner Link: russischen Angriffskrieg auf die Ukraine eine Energiekrise herrschte. Russland war bis dahin zentraler Gaslieferant Deutschlands und weiterer europäischer Länder. Mit den verhängten EU-Sanktionen gegen Russland endeten die Lieferungen. Es kam zur Energieknappheit und einem drastischen Preisanstieg. Daher wurde das ursprüngliche Abschaltdatum der drei letzten laufenden AKWExterner Link: von Ende 2022 um wenige Monate verschoben.

  • Mehr Informationen zur Interner Link: Atomkraft-Kontroverse finden Sie hier und Interner Link: hier zur Energiewende.

Eine gute Klima- und Energiestrategie muss drei Ziele erreichen: Die Emissionen sollten reduziert, die Versorgungs- und Systemsicherheit maximiert und die Kosten minimiert werden. Deutschland will diese Ziele erreichen, indem es Industrie, Wärmeversorgung und Verkehr von fossilen Brennstoffen auf Strom umstellt. Dieser soll vorwiegend mit Wind- und Sonnenenergie produziert werden. Wenn wir ein Industrieland bleiben wollen, wird unser jährlicher Strombedarf bis Mitte dieses Jahrhunderts auf 1000 bis 1500 Terawattstunden steigen. Das ist das Doppelte bis Dreifache unseres heutigen Verbrauchs. Doch Sonnenenergie und Windkraft speisen wetter-, jahreszeit und tageszeitabhängig ein und sind daher keine gesicherte Leistung. Es ist diese besondere Charakteristik der deutschen Energiewende, die unser Land in einen Konflikt mit den drei oben genannten Zielen treibt. Was Deutschland fehlt, ist eine gesicherte, planbare, günstige und CO2-arme Stromerzeugung.

AKW arbeiten an der Schnittstelle von Klima- und Versorgungssicherheit

Genau diese für Klimaschutz in einer Industriegesellschaft so zentrale Komponente haben wir mit dem Atomausstieg verloren. Kernkraftwerke, die im Jahr 2000 ein Drittel unserer Stromerzeugung bestritten, haben eine mit der Windkraft vergleichbare Treibhausgas-Bilanz. Die letzten deutschen AKW waren sehr zuverlässige Anlagen und haben fast immer Strom erzeugt – etwa 90 Prozent der möglichen Stunden im Jahr (Windkraft 24 bis 34 Prozent, Photovoltaik 11 Prozent). Die Stromgestehungskosten von Kernkraftwerken deutscher Bauart lagen 2022 um 4 Cent pro Kilowattstunde, was auf Höhe der günstigsten EE-Erzeugungskosten liegt. 2022 bot die PreussenElektra daher einen Atom-Industriestrompreis von 6 Cent pro Kilowattstunde an. Anders als häufig behauptet wird, konnten sich unsere Kernkraftwerke auch flexibel der schwankenden Stromproduktion aus Erneuerbaren anpassen, da sie schon in ihrer Planungsphase als Lastfolgeanlagen konzipiert wurden. Kernkraftwerke arbeiten also an der Schnittstelle von Klimaschutz und Versorgungssicherheit.

Schwächen der Energiewende

Heute dienen Kohle- und Gaskraftwerke als Backup der Erneuerbaren Energien. Externer Link: Der CO2-Ausstoß unserer Stromerzeugung war 2024 daher fast elfmal höher als der des Atomlands Externer Link: Frankreich. Zudem ist Deutschland Netto-Importeur von Strom, weil ausländischer Strom aus Wasserkraft und Kernenergie häufig günstiger ist als der eigene, CO2-Abgaben-belastete Strommix. Deutschland ist inzwischen auf Externer Link: ausländische Reservekraftwerke angewiesen, um Engpässe im Stromnetz zu beheben. Die deutsche Energiewende sichert sich also über andere Länder ab, die diese Funktion aber nur deswegen ausfüllen können, weil sie Deutschland seine Energiewende nicht nachmachen.

Weg vom Selbstzweck

Geplant ist, in Zukunft die deutschen EE mit Wasserstoff-befeuerten Kraftwerken und Batteriespeichern abzusichern. Wasserstoff-Infrastruktur, Batterien und Netzausbau treiben aber trotz günstiger Erzeugungsanlagen die Gesamtkosten der Energiewende in die Höhe. Diese exorbitanten Zusatzkosten der Energiewende bedrohen inzwischen den Industriestandort Deutschland.

Unser Land braucht aber nicht Erneuerbare als Selbstzweck, sondern zuverlässigen, günstigen und klimafreundlichen Strom. Externer Link: Eine kürzlich publizierte Studie hat die deutsche Situation „technologie-pluralistisch“ modelliert, d.h. ohne Ausschluss der Kernenergie. Sie kommt zu einem erstaunlichen Ergebnis: Errichten wir bis 2045 ein komplementäres System aus Erneuerbaren und Kernkraftwerken mit rund 40 Prozent Atomstromanteil, können wir die Stromkosten gegenüber dem reinen EE-System drastisch reduzieren. Das gilt sogar unter Zugrundelegung sehr teurer Kernkraftwerke, wie die Modellierer zeigen konnten.

Kernenergie gehört zu den sichersten Stromerzeugungsformen

Vergleicht man Technologien der Stromerzeugung, so gehört die Kernenergie zu den sichersten und umweltfreundlichsten Systemen. Kernkraftwerke sind wegen der hohen Leistungsdichte des Kernbrennstoffs extrem flächen- und rohstoffsparsam und haben einen sehr kleinen „material footprint“. Berechnet man, wie viele Menschen pro Einheit erzeugten Stroms vorzeitig sterben müssen, so liegt die Kernenergie trotz der großen Atomunfälle auf dem Level von Windkraft und Photovoltaik. Radioaktive Emissionen aus Kernkraftwerken machen für die Bevölkerung in ihrer Umgebung nur einen winzigen Bruchteil der radioaktiven Belastung aus natürlichen Quellen aus.

Folgewirkungen von Atomausstiegen

Was beim Vergleich der Umweltfolgen aber häufig unterschätzt wird, sind die Folgen von Atomausstiegen. Diese führen dazu, dass die gesicherte Leistung aus Kernkraftwerken fossil ersetzt wird – auch volatile EE brauchen ja bis zum heutigen Tage fossiles Backup. Das wiederum führt zu vermeidbarem Ausstoß von CO2, Stickoxiden, Feinstäuben und anderen Schadstoffen. Der schlimmste Unfall in der Geschichte der Kernenergienutzung, der im April 1986 im ukrainischen Tschernobyl stattfand, forderte laut Schätzung der Weltgesundheitsorganisation weltweit rund 4000 vorzeitige Todesfälle. Doch allein die Kohlekraftnutzung in Deutschland, in der unser Land wegen des Atomausstiegs viel länger verharrte als nötig, hatte laut Greenpeace (Externer Link: Studie von 2013) jedes Jahr über 3100 vorzeitige Todesfälle zur Folge.

Reaktorsicherheit in Deutschland: Fukushima war kein legitimer Ausstiegsgrund

Weder der Interner Link: Unfall in Tschernobyl noch der von Fukushima 2011 waren auf deutsche Kernkraftwerke übertragbar. Die wichtigste Unfallursache in Tschernobyl war ein Auslegungsfehler des Reaktors und seines Abschaltsystems, ein Mangel, der auf diesen speziellen sowjetischen Reaktortyp begrenzt war. Auch der Unfall von Fukushima wäre in deutschen AKW entweder gar nicht passiert oder viel glimpflicher verlaufen, da deren Sicherheitseinrichtungen viel robuster ausgelegt sind. Das deutsche Genehmigungsrecht zwingt sie, das 10.000-jährige maximale Hochwasser zu beherrschen, was bedeutet, dass eine deutsche Anlage in Fukushima für den dort im März 2011 eingetroffenen 14-Meter-Tsunami gerüstet gewesen wäre. Ihre Notstromsysteme sind doppelt ausgeführt und gegen Überflutung abgesichert, d.h. es wäre anders als in Fukushima nicht zum Versagen der Stromversorgung für die Reaktorkühlung gekommen. Schließlich verfügen deutsche Anlagen über Wasserstoff-Rekombinationssysteme und eine gefilterte Druckentlastung, sodass eine Freisetzung von explosionsgefährlichem Wasserstoff in die Anlage und von radioaktiven Stoffen in die Atmosphäre verhindert oder stark vermindert worden wäre.

Seit der Interner Link: russischen Totalinvasion in die Ukraine kamen neue Argumente für den deutschen Atomausstieg auf, nämlich die Gefährdung der ukrainischen Kernkraftwerke im Krieg. Im Falle eines russischen Angriffs auf Deutschland wären aber die verbunkerten Reaktorgebäude deutscher Kernkraftwerke, die auch dem Absturz großer Verkehrsflugzeuge standhalten, die vermutlich sichersten deutschen Industrieanlagen überhaupt. Bei Kriegsausbruch im Februar 2022 erwartete man Schlimmstes für die ukrainischen Anlagen, die allerdings bis dato am Netz sind – und als letzte nicht zerstörte Großkraftwerke in der Ukraine die Stromversorgung aufrechterhalten. Das liegt einerseits daran, dass die ukrainischen AKW mit Luftabwehrsystemen gut gesichert wurden, andererseits womöglich aber auch an einem Zurückschrecken der Kriegsgegner, diese Anlagen direkt anzugreifen(auch in Russland befinden sich AKW in Reichweite der Front). Allerdings kam es infolge von Angriffen auf die Netzanbindungen von Kernkraftwerken, mehrere Male zu Schnellabschaltungen und einen Einsatz der Notstromversorgung. Das russisch besetzte Kernkraftwerk Saporischschja ist bereits seit September 2022 vom Netz. Insgesamt lautet der auch für Fachleute überraschende Befund aus der Ukraine, dass die vier ukrainischen Kernkraftwerke mit insgesamt 14 Blöcken das Kriegsgeschehen bislang nahezu unbeschadet überstanden und Notsituationen beherrschten.

Neue Kerntechnik

Moderne Kernenergietechnik setzt noch mehr als früher auf „passive“ Sicherheit. Das bedeutet: man nutzt Naturkräfte wie Gravitation und Konvektion (das Aufsteigen erwärmten Wassers und das Niedersinken kühleren Wassers), um auch bei totalem Stromausfall ohne die Hilfe elektrischer Antriebe Notkühlvorräte in den Reaktor einzuspeisen und den Wärmetransport aus einem Reaktorkern per „Naturumlauf“ und Luftkühlung zu gewährleisten. Sogenannte „small modular reactors“ benötigen dank ihrer kleinen Reaktorkerne und einfachen Naturumlaufs-Kühlsysteme überhaupt keine Umwälzpumpen mehr.

Die Endlagersuche ist eine lösbare Aufgabe

Der in rund 60 Jahren deutscher Kernenergienutzung angefallene hoch radioaktive Atomabfall umfasst rund 27.000 Kubikmeter. Größtenteils abgebrannte Brennelemente, die komplett eingelagert werden sollen. Der Gesetzgeber verpflichtet uns, den hochaktiven Abfall in einem speziell aufgefahrenen Endlager-Bergwerk in tiefen geologischen Gesteinsschichten unterzubringen. Auch Endlagerbergwerke basieren auf dem Prinzip der passiven Sicherheit, d.h. die sichere Abdichtung der Lagerkaverne gegen die Außenwelt wird nicht von technischen Vorkehrungen und menschlichem Überwachungspersonal gewährleistet, sondern durch das Wirtsgestein (Granit, Tongestein oder Salzgestein) selbst, dessen günstige Eigenschaften den Atommüll isolieren, aber die Wärme, die er in der Anfangszeit der Einlagerung noch entwickelt, ableiten können. Daher kann ein Tiefenlager nach Verschluss (ca. 100 Jahre nach Standortentscheid) sich selbst überlassen werden. Die obertägigen Gebäude für die Verpackung und den Transport der Brennelemente ins Bergwerk können dann zurückgebaut werden. Finnland, das Interner Link: mit „Onkalo“ bereits ein betriebsbereites Endlager in Granit gebaut hat, und die Schweiz, die unweit der deutschen Grenze einen Standort mit Tongestein bestimmt hat, können uns als Vorbilder dienen. Deutschland verfügt über alle drei geeigneten Wirtsgesteine für nukleare Endlager. Die Chancen, einen Externer Link: passenden Endlagerstandort zu finden, stehen also sehr gut.

Fazit

Auch wenn wir einzelnen Menschen ihre Atomangst durch Statistik und wissenschaftliche Befunde, die in diesem Beitrag kurz skizziert wurden, nicht werden nehmen können – politische Entscheider sind zu einer evidenzbasierten Abwägung verpflichtet. Aus dieser Abwägung geht hervor, dass wir mit Kernenergie besser fahren würden als ohne.

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Anna Veronika Wendland ist Historikerin mit Schwerpunkt Osteuropa, Technik- und Umweltgeschichte am Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung in Marburg. Für ihre Forschung über Mensch-Maschine-Beziehungen in der Kerntechnik hat sie mehrere Jahre lang in Atomkraftwerken in der Ukraine und Deutschland Feldstudien durchgeführt.