Klimaschutz ist unbestritten eine der drängendsten Aufgaben vor der die Menschheit steht. Aber Klimaschutz ist nicht das einzige, systemische Problem, dem sich die Menschheit zwingend stellen muss: Der Zustand unserer Ökosysteme – zu Land wie in Meeren und Ozeanen – ist besorgniserregend und auch altbekannte soziale Krisen sind lange nicht überwunden: Noch im Jahr 2030 werden voraussichtlich 7 Prozent der Menschheit in extremer Armut leben. 2019 waren schätzungsweise 8,9 Prozent der Menschen auf dieser Welt unterernährt und 26 Prozent hatte keinen regelmäßigen und gesicherten Zugang zu sauberem Trinkwasser. Jede dritte Frau auf dieser Welt wird nach ihrem fünfzehnten Lebensjahr mindestens einmal Opfer physischer und/oder sexualisierter Gewalt.
Der Doughnut und die Agenda 2030
Es geht also um mehr als um Klimaschutz. Es geht darum die Ausbeutung unserer ökologischen Lebensgrundlage einerseits zu begrenzen und andererseits allen Menschen zu ermöglichen, ihre grundlegenden Bedürfnisse zu befriedigen. Es geht um die Suche nach dem, was die Ökonomin Kate Raworth den sicheren und gerechten Betriebsraum für die Menschheit nennt ("safe and just operating space for humanity").
Was Externer Link: Kate Raworth mit dem Doughnut visualisiert, wird international seit Langem unter dem Begriff der nachhaltigen Entwicklung diskutiert. Diese Diskussion hat im Jahr 2015 erneut Fahrt aufgenommen, denn in diesem Jahr haben die Vereinten Nationen mit der Externer Link: Agenda 2030 ihre neue Entwicklungsagenda beschlossen. Externer Link: Mit 17 Zielen (Sustainable Development Goals, SDGs) und 169 Unterzielen für nachhaltige Entwicklung haben sich die Mitgliedsstaaten auf einen global gültigen Orientierungsrahmen für Politik, Gesellschaft und Wirtschaft geeinigt, der bewusst eine Vielfalt von Dimensionen anspricht und gleichzeitig aber so umgesetzt werden soll, dass eine Integration möglichst viele Ziele erreicht wird. Seither arbeiten weltweit Regierungen auf allen politischen Ebenen, aber auch Unternehmen und andere Akteure an Strategien zur Umsetzung der Agenda 2030. So auch in Deutschland, wo die Externer Link: Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung (DNS) so wie viele Nachhaltigkeitsstrategien der Externer Link: Bundesländer, Externer Link: Kommunen und auch erster Unternehmen sich an den SDGs orientieren.
Betrachtet man die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung und ihre 169 Unterziele genauer, dann ist schnell klar, wie groß die Aufgaben sind, die sich dahinter verbergen. Aber die eigentliche Herausforderung ist die Tatsache, dass keines der Ziele für sich alleine erreicht werden kann. Gemeint ist damit, dass jede Maßnahme zur Erreichung eines der Ziele positive wie negative Wirkungen auf andere Zielbereiche haben kann. Und diese Wechselwirkungen zu erkennen und in die Ausgestaltung von Maßnahmen aufzunehmen, ist nicht trivial. Dabei werden viele dieser Zusammenhänge erst auf der lokalen Ebene besonders deutlich, wo Zielkonflikte auftreten können.
Wechselwirkungen in der Fläche
Wenn wir auf die lokale Ebene blicken, dann ist die Frage, wie wir die verfügbaren Landflächen nutzen, ein gutes Beispiel für Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Zielen und Maßnahmen. Fläche ist buchstäblich das Fundament, auf dem wir leben: Auf ihr weisen wir Baugebiete aus, um Wohnraum zu schaffen. Wir weisen Gewerbegebiete aus, auf denen die Wirtschaft angekurbelt und dabei Arbeitsplätze geschaffen werden sollen. Und wir bauen auf ihr unsere Verkehrsinfrastruktur aus, um Rohstoffe und Waren zu transportieren und möglichst uneingeschränkte Mobilität zu ermöglichen. Der Anteil dieser so genannten "Siedlungs- und Verkehrsflächen" an der Gesamtfläche Deutschlands ist zum Ende des letzten Jahrhunderts immer weiter gestiegen. Im Jahr 2000 wurden täglich 129 Hektar "neue" Fläche als Siedlungs- und Verkehrsfläche (SuV) ausgewiesen und damit zu durchschnittlich 45 Prozent versiegelt, das heißt bebaut, betoniert oder asphaltiert.
Fläche ist allerdings eine begrenzte Ressource, denn es gibt keine "neue" Fläche. Jede Flächenausweisung ist also zwangsläufig eine Umnutzung von Böden. Wenn bisher unversiegelte Böden zu Siedlungs- und Verkehrsfläche werden, dann hat die damit einhergehende Teilversiegelung negative Auswirkungen auf wichtige ökologische Funktionen des Bodens. Denn Böden sind nicht nur das Fundament menschlichen Lebens, sondern auch unserer Ökosysteme als Lebensraum für Pflanzen und Tiere. Nicht zuletzt können sie als natürliche Senken Treibhausgasemissionen aufnehmen.
Auch deswegen gibt die Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie das wichtige Ziel vor, die Flächennutzung bis 2030 auf 30 Hektar täglich zu begrenzen und bis 2050 in einen Flächenkreislauf einzutreten, bei dem keine zusätzlichen Flächen einer Versiegelung zugeführt werden. Das illustriert die zentrale Frage der nachhaltigen Entwicklung: Wie können legitime soziale und ökonomische Bedürfnisse – zum Beispiel nach angemessenem Wohnraum und finanzieller Sicherheit – mit ökologischen Notwendigkeiten – wie zum Beispiel dem Schutz von Ökosystemen – in Einklang gebracht werden?
Das Beispiel Wohnen
Blickt man tiefer in eines dieser legitimen sozialen und ökonomischen Bedürfnisse, zeigt sich die Komplexität in ihrem Ausmaß: Die Verfügbarkeit und Bezahlbarkeit von angemessenem Wohnraum ist in den letzten Jahren zu einer brisanten Frage geworden. Viele Menschen in Deutschland ächzen unter erheblichen Wohnkosten, die für die meisten Haushalte in Deutschland der größte monatliche Ausgabenposten sind: 13,9 Prozent der Haushalte in Deutschland gaben 2018 mehr als 40 Prozent ihres Haushaltseinkommen für das Wohnen aus, Gerade bei einkommensschwachen Haushalten und Haushalten mit Kindern fallen Wohnkosten viel stärker ins Gewicht.
Gleichzeitig ist die durchschnittliche Personenwohnfläche in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen und liegt derzeit bei 45,1 Quadratmetern, bei selbstgenutztem Wohneigentum sogar noch höher. Die dahinterliegende Ungleichverteilung von Wohnraum hat nicht nur soziale, sondern auch ökologische Konsequenzen: Studien zeigen, dass die Interner Link: hohen Personenwohnflächen trotz steigender Energieeffizienz pro Quadratmeter in den Wohngebäuden die absoluten Einsparungen mehr oder weniger ausgleichen. Sie sind gleichzeitig auch Ausdruck eines ineffizienten Umgangs mit dem Wohnraumbestand, der seinerseits zu einem erheblichen Neubaudruck und einer immensen zusätzlichen Ressourcenbelastung in Bezug auf Flächen und Baumaterialien führt.
Die Suche nach Synergien
Egal ob wir über Klimaschutz und Biodiversität, soziale Gerechtigkeit oder ökonomische Entwicklung reden: Entscheidungsträger*innen – ob in Politik, Wirtschaft, Zivilgesellschaft oder Wissenschaft – müssen ihren Blick für Wechselwirkungen zwischen sehr unterschiedlichen Zieldimensionen und ebenso unterschiedlichen Handlungsfeldern öffnen. Diese Wechselwirkungen können sich negativ verstärken, sie können aber auch positive Wirkungen entfalten. Solche Synergiepotenziale sind nicht immer einfach zu identifizieren, aber sie könnten der Schlüssel zur nachhaltigen Entwicklung sein. Manchmal erfordert die Suche nach Synergiepotenzialen allerdings auch, sich von den herrschenden Paradigmen zu lösen und andere Fragen zu stellen. In unserem Beispiel Wohnen lautet die Frage dann vielleicht: "Wieviel Neubau wäre notwendig, wenn der bestehende Wohnraum baulich angepasst und nicht nur die individuelle Kaufkraft über seine Verteilung entscheiden würde?"