Der Einmarsch des Warschauer Pakts im Überblick
In der Nacht zum 21. August 1968 begann die militärische Niederschlagung des "Prager Frühlings" in der CSSR. Auch die DDR war beteiligt.
Holger Kulick
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"Ich weiß nicht, wie das kam, die Panzer sind durch unser Viertel gerollt und alle haben gewusst, wohin sie fuhren, ich stand an der Straße und habe sie gesehen." (Jürgen Fuchs)
Die Zahl der insgesamt bei der Okkupation der CSSR im August 1968 eingesetzten Soldaten summiert sich auf rund 400.000, davon kamen 300.000 bis 350.000 aus der Sowjetunion, 17.000 aus Ungarn, 24.341 aus Polen, 2.168 aus Bulgarien und mindestens 9 Verbindungsoffiziere aus der DDR.Einzig das Ostblockland Rumänien hatte eine Beteiligung verweigert.
Die ersten Truppen des Warschauer Pakts landeten am Abend des 20. August 1968 gegen 21 Uhr auf dem Prager Flughafen, rund 250 weitere Transport-Flugzeuge voller Waffen und Fallschirmjägern folgten auf 11 Routen in den Stunden danach. Außerdem waren 550 Kampfjets im Rahmen der "Operation Donau" im Einsatz, laut Zeitzeugen verirrten sich einige davon mangels Funkleitfeuer bis in den bundesdeutschen Luftraum über Nürnberg.
6.300 Panzer, der erste aus der DDR kommend
Im Lauf der Nacht drangen insgesamt 6.300 Panzer in die CSSR ein - aus Richtung DDR, Polen, Ungarn und der Sowjetunion kommend.
Der erste russische T-55 Panzer überquerte bereits am 20. August gegen 21.40 Uhr nahe der Gemeinde Bärenstein im Erzgebirge die Grenze. Auf DDR-Seite standen außerdem die 11. Motorisierte Schützendivision der Nationalen Volksarmee (NVA) und die 7. Panzerdivision (PF 19941) der NVA gefechtsbereit, die DDR-Panzer wurden aber auf russischen Befehl gestoppt. Der Grund: es sollten keine Vergleiche zu 1939 gezogen werden können, als Truppen der Nationalsozialisten ebenfalls mit Panzern das Staatsgebiet der damals Tschecho-Slowakischen Republik besetzten. Zeitzeugen aus der DDR berichten aber, dass am 21. August 1968 auch "mindestens 70 DDR-Schützenpanzer mit DDR-Kennung" auf böhmischen Gebiet gesichtet worden seien, deren Besatzungen "deutsch sprachen", in Altenberg hätten NVA-Soldaten zudem die tschechoslowakischen Grenzsoldaten entwaffnet und den Schlagbaum zur Seite geräumt.
Aber auch im Hauptquartier der Interventionstruppen in Milovice in der Nähe von Prag hielten sich spätestens ab dem 23./24. August Offiziere und Nachrichtentechniker der Nationalen Volksarmee auf, darunter mindestens 20 Angehörige des NVA-Nachrichtenregiments 2 (Niederlehme). Zudem, so recherchierte die Schriftstellerin Doris Liebermann, "garantierten DDR-Grenztruppen, dass in der DDR stationierte sowjetische Spitzeneinheiten am 20. August 1968 zwischen 23.30 und 24.00 Uhr die Grenze zur Tschechoslowakei zügig überschreiten konnten". Außerdem ließ die SED-Führung ab fünf Uhr morgens in tschechischer Sprache von Dresden aus bis zum Frühjahr 1969 in die Tschechoslowakei hinein Propaganda senden, der temporär betriebene Tarn-Sender wurde nach Smetanas Moldau „Vltava“ genannt.
Invasion schon im Juli 1968 vorgesehen?
Ihren gemeinsamen Einsatz hatten die Militärs des Warschauer Pakts bereits in den Wochen zuvor in ausgedehnten Manövern entlang der Grenze geprobt, zudem war schon im Vorfeld des 23. August die Grenze zur DDR geschlossen worden und DDR-Urlauber wurden aus Prag zurückgerufen. Daher überraschte der Einmarsch im Westen nicht. So berichtete die New York Times bereits am 9. August 1968 unter Berufung auf "hochgestellte Informanten in Ost-Berlin", dass eine Invasion unter Einbezug von "Zonenstreitkräften", also DDR-Militärs, geplant gewesen sei.
Weiter hieß es in der Zeitung: Die Sowjetunion habe die Absicht gehabt, dass sich der im Frühjahr abgesetzte tschechoslowakische KP-Chef und Präsident "Novotny und seine Anhänger "erheben und um Hilfe rufen" sollten, um den Streitkräften aus UdSSR und DDR einen Vorwand zum Einmarsch zu geben. Ursprünglich sei dies bereits rund um den 19. Juli des Jahres 1968 vorgesehen gewesen, nachdem die sowjetische Nachrichtenagentur TASS demonstrativ vom Fund eines Waffenlagers in Westböhmen berichtet hatte, bei dem es allerdings unklar blieb, wer es deponierte. Prager Politiker verdächtigten damals Ost-Berliner Geheimdienstkreise, einen Vorwand kreieren zu wollen. Im Juli 1968 sei es jedoch "gemäßigten Kräften im Kreml in letzter Sekunde gelungen, die Invasion abzuwenden", berichtete damals die Times. Doch im August 1968 wendete sich dann offenbar das Blatt im Kreml.
108 Todesopfer
In den frühen Morgenstunden des 21. August 1968 erreichten die ersten sowjetischen Panzer Prag. Gegen 7.30 Uhr meldete der Tschechoslowakische Rundfunk, das Sendegebäude sei durch Panzer umstellt, gegen 9 Uhr drang Militär in das Gebäude vor. Auf die Schnelle von aufgebrachten Bürgern errichtete Barrikaden aus leeren LKWs, Bussen oder Straßenbahnen wurden niedergewalzt und Soldaten machten von ihren Kalaschnikows Gebrauch. Im Umfeld der Rundfunkzentrale kam es dabei zu den meisten der 23 Todesopfer am ersten Tag der Invasion.
Insgesamt 108 Todesopfer des Einmarschs wurden bis Ende 1968 gezählt, die meisten von ihnen wurden von Militär-Fahrzeugen überrollt oder durch Schüsse tödlich verwundet, zum Beispiel am 26. August 1968 im Prager Stadtteil Klarov die 25-jährige Studentin Marie Charousková, die auf dem Weg zur Universität einem sowjetischen Soldaten ihre tschechoslowakische Trikolore, die sie mit einem schwarzen Band an ihrem Kleid trug, überreichen wollte. Ohne Vorwarnung schoss sie der Soldat in den Bauch.
Weitgehend passiver Widerstand
Radio Prag sendete am frühen Morgen des 21. August eine verzweifelte Ansprache des noch amtierenden Staatspräsidenten Svoboda: "In der gegenwärtigen Stunde kann ich Ihnen als Präsident der ČSSR nicht mehr sagen als euch zu bitten, vollkommene Ruhe und Besonnenheit zu bewahren“. Über Lautsprecher wurde die Bevölkerung aufgefordert: "Lasst Euch nicht herausfordern! Bewaffnete Verteidigung kommt nicht infrage!". So wurde ein Bürgerkrieg vermieden. Stattdessen versuchten viele Menschen mit den russischen Soldaten zu diskutieren oder sie demonstrativ zu ignorieren. Aus Angst flohen auch etwa 50.000 Menschen über die südliche Landesgrenze der CSSR nach Österreich oder kehrten von Auslandsaufenthalten nicht mehr zurück in die okkupierte Tschechoslowakei.
Im Vorfeld anhaltender propagandistischer Druck
Fünf Wochen zuvor hatten die Sowjetunion, Bulgarien, Ungarn, Polen und die DDR in einem gemeinsamen "Warschauer Brief" die tschechoslowakische Führung zu einer Kurskorrektur aufgefordert. Der Tenor: "Konterrevolutionäre" würden die CSSR vom Weg des Sozialismus abbringen und "eine Bresche in das sozialistische System" schlagen. In der damals üblichen kommunistischen Propaganda-Rhetorik wurde den Prager Reformern vorgeworfen, eine "zügellose antisozialistische Demagogie" zu betreiben, die zur "Desorientierung der Arbeiterklasse" und in Medien zu einem "regelrechten moralischen Terror" führe. "Wir waren überzeugt, dass Sie das Leninsche Prinzip des demokratischen Zentralismus wie Ihren Augapfel hüten werden", warnten die Unterzeichner.
Bei gemeinsamen Treffen mit den anderen KP-Führern des Warschauer Pakts in Dresden und Bratislava und noch einmal alleine mit Leonid Breschnew im Grenzort Cierna nad Tisou am 29. Juli 1968 wehrte sich der Generalsekretär der tschechoslowakischen Kommunisten, Alexander Dubcek, gegen die massive Kritik. Er hob immer wieder das Recht auf einen eigenen tschechoslowakischen Weg zur Verwirklichung des Sozialismus hervor und beschwor, durch die Reformen des Prager Frühlings den Warschauer Pakt nicht aus den Angeln heben zu wollen.
Zunächst gescheiterter Dubcek-Putsch
Als Vorwand für die Militärintervention der sozialistischen und kommunistischen Nachbarstaaten der CSSR am 21. August 1968 wurde nun tatsächlich ein offenbar auf Bestellung verfasster Bittbrief einiger weniger tschechoslowakischer Oppositionspolitiker herangezogen, die zum Lager der Hardliner und Reformgegner in der CSSR zählten. Sie konnten sich jedoch - entgegen der Erwartung Moskaus - in der Nacht des Einmarschs in ihrer Parteispitze nicht durchsetzen. Mit 7 zu 4 Stimmen verurteilte Prags KPC-Präsidium in der Nachtsitzung die Invasion. Damit scheiterte der Versuch, Alexander Dubcek abzulösen. Dennoch veröffentlichte die sowjetische Nachrichtenagentur TASS unmittelbar nach Beginn der Invasion die Meldung, der Einmarsch erfolge auf Bitten tschechoslowakischer Partei- und Staatsfunktionäre. Auch in der DDR wurde diese Falschmeldung offiziell verbreitet. Am Morgen des 21. August veröffentlichte das NEUE DEUTSCHLAND eine bereits am 20. August fertiggestellte dreispaltige Erklärung vom ZK, Staatsrat und Ministerrat der DDR, dass den hilferufenden "treu ergebenen Persönlichkeiten der Partei und des Staates der CSSR" nunmehr "jegliche Hilfe, einschließlich militärischer Hilfe" gewährt werde, auch seitens der DDR. "Die Bürger der DDR hätten aufgeatmet...dass die dem Sozialismus feindlichen Kräfte in der CSSR zurückgedrängt werden", wurde zugleich behauptet - eine Propagandalüge.
Alexander Dubcek verschwand am 21. August zunächst spurlos. Gegen 14 Uhr wurde er aus einem über ihn verhängten Hausarrest heraus gemeinsam mit weiteren Funktionären aus Partei und Staat in einem Schützenpanzer zum Prager Flughafen gebracht und von dort aus an einen zunächst unbekannten Ort verschleppt, entweder in die ukrainischen Karpaten oder, so rekonstruierte er später, nach Legnica (Liegnitz) in Südpolen, wo sich das Hauptquartier der eingesetzten Streitkräfte befand. Erst am 23. August erfolgte der Weitertransport nach Moskau. Dort wurden er und eine tschechoslowakische Delegation, zu der auch Präsident Svoboda und einige der Opponenten Dubceks gehörten, unter Druck gesetzt, ein Diktat zu unterschreiben, wonach die begonnenen Reformen zu beenden seien und die militärische Intervention akzeptiert werden müsse. Auch aus der DDR waren am 23. August drei ranghohe SED-Vertreter zu diesen Verhandlungen gereist: Walter Ulbricht, Willy Stoph und Erich Honecker.
Erst nach seiner Unterschrift wurde Alexander Dubcek am 27. August wieder zurück nach Prag geflogen, wo er mit stockender Stimme die Beschlüsse verkündete, aber noch Hoffnung darauf machte, dass es sich nur um "vorübergehende Maßnahmen" handele.
Dies sah Moskau anders. Der sowjetische Regierungschef Leonid Breschnew rechtfertigte den Einmarsch nachträglich am 12. November 1968. Er erklärte einen prinzipiellen Interventionsanspruch der Sowjetunion im Falle einer "Gefährdung des Sozialismus" durch politische Dynamiken in einem der Mitgliedsstaaten des Warschauer Pakts ("Breschnew-Doktrin"). Die Staaten des Warschauer Pakts verfügten damit de facto nur noch über eine beschränkte Souveränität: Sollte der Sozialismus gefährdet sein, hatten die "Bruderländer" die "internationalistische Pflicht", mit militärischen Mitteln einzugreifen. Erst 1988 wurde diese Doktrin wieder abgeschafft.
Dubceks endgültige Entmachtung gelang seinen Widersachern in der tschechoslowakischen KP erst am 17. April 1969. Sein Nachfolger Gustáv Husàk setzte nun repressive Maßnahmen durch. Reformer erhielten Berufsverbote und rund eine halbe Millionen Menschen wurden bis 1970 aus der Kommunistischen Partei der CSSR ausgeschlossen. Als es am ersten Jahrestag der Invasion vom 21. August 1968 erneut zu Demonstrationen kam, gingen diesmal tschechische Kampftruppen gegen die eigene Bevölkerung vor. Erneut starben fünf Menschen und mehr als 2.414 kamen in Haft.
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Der Journalist Holger Kulick ist seit 2015 Mitarbeiter der Bundeszentrale für politische Bildung. Sein Themenschwerpunkt ist Diktaturforschung, in diesem Zusammenhang hat er das Stasi-Dossier der bpb erstellt: Interner Link: www.bpb.de/geschichte/stasi. Bereits 2006 produzierte er in Kooperation von BStU, WDR und bpb die DVD "Feindbilder – Die Fotos und Videos der Stasi". Ab 1983 arbeitete er über Deutsch-deutsches für das ZDF-Magazin "Kennzeichen D", außerdem für ASPEKTE, die Kindernachrichtensendung "logo" und später für das ARD-Magazin Kontraste. Außerdem mehrere Jahre als Korrespondent für SPIEGEL ONLINE sowie als Autor für mehrere Zeitungen, Filmdokumentationen, Fachzeitschriften und Buchprojekte, darunter als Herausgeber für das "Mut-ABC für Zivilcourage", Leipzig 2008 und "Das Buch gegen Nazis", Köln 2010 gemeinsam mit Toralf Staud. Von 2011 bis 2015 arbeitete er in der Internetredaktion der Stasi-Unterlagen-Behörde, davor leitete er fünf Jahre eine Fachwebsite des Magazins "stern" und der Berliner Amadeu-Antonio-Stiftung über Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland.