August abends kam ich auf Einladung des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes in Prag an. Auf der telegrafischen Einladung hatte u. a. gestanden "Unser Bestreben ist, daß Sie sich an Ort und Stelle über den würdigen Verlauf unseres Erneuerungsprozesses überzeugen und nach Rückkehr die Öffentlichkeit Ihres Landes unterrichten". Rückwärts betrachtet wirkt nun der Text dieser Einladung wie mörderische Ironie. Ich hatte die Einladung ohne Zögern angenommen, weil ich im tschechoslowakischen Modell eines demokratischen Sozialismus eine große Hoffnung für den Westen und für den Osten sah; von dort, von Prag und Bratislava aus, hätte sich nach Osten und Westen verbreiten können, was bis zum Januar 1968 als Utopie galt: sozialistische Freiheit.
Worüber ich nun die "Öffentlichkeit meines Landes unterrichten" kann: schon in der ersten Nacht weckte uns das Dröhnen schwerer Flugzeuge, die sehr niedrig flogen. Um sieben Uhr früh kam ein Freund ins Hotel, klopfte an unsere Tür und rief von draußen: Wir sind besetzt. Kurz darauf hörten wir die ersten Schüsse auf dem Wenzelsplatz, wir gingen sofort hin, sahen die sowjetischen Panzer – eine Demonstration absurder Dummheit und unzählige Menschen, Jugendliche und Erwachsene.
Mich erregte am meisten, wie leidenschaftlich die Menschen versuchten, mit den sowjetischen Soldaten zu diskutieren, ihnen und sich diesen unglaublichen Vorgang zu erklären. Ein einziger Schuß von seiten der Bevölkerung hätte wahrscheinlich die Katastrophe ausgelöst, aber dieser eine Schuß fiel nicht. Es war sichtbar, daß wir Zeugen eines historischen Ereignisses waren, dessen Folgen noch nicht auszudenken sind.
Sichtbar war auch, daß hier der von Moskau zentral gelenkte Sozialismus seinen moralischen Bankrott erklärte und daß es sich um eine unverhohlene Unterdrückung einer ganzen Nation handelte. Das Modell einer Hoffnung, die hier acht Monate lang verwirklicht worden war, wurde zerstört. In Prag und Bratislava war bewiesen worden, daß ein strenges doktrinäres System von innen heraus, aus der regierenden Partei heraus, unterstützt von Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen, die die Einsicht der Funktionäre stärkten und förderten, ohne Gewalt reformierbar war.
Da auch wir in erstarrten Systemen leben, kann, was in diesen acht Monaten verwirklicht wurde, für uns ein Vorbild bleiben. Zunächst haben auf beiden Seiten die Reaktionäre gesiegt, und so manche westliche Träne ist eine Krokodilsträne. Der Prager Totentanz und der blutige Wahlkarneval in Chicago bedingen einander, sie stützten einander, und es wird für die tschechoslowakische Nation wie für uns die Zeit kommen, wo wir uns vor falschen Freunden hüten müssen. Die beiden Blöcke werden nach Einheit und Einigkeit innerhalb der Blöcke schreien, während sie sich doch untereinander einig sind über das, was in der Tschechoslowakei und in Vietnam geschieht.
Die jungen Menschen, die in Chicago gegen den Krieg in Vietnam protestiert haben und zusammengeschlagen worden sind, haben gleichzeitig für die Tschechoslowakei demonstriert. Die Tschechoslowakei hat bewiesen, daß Freiheit nicht in eine westliche und östliche geteilt werden muß, ihre Freiheit ist unsere, wie die Freiheit der amerikanischen Demonstranten und Kriegsgegner. Ich habe während der fünf Tage in Prag die absolute Solidarität der tschechoslowakischen Nation erlebt. Ich kann nur hoffen, daß diese Solidarität den Menschen helfen wird, das fürchterliche Faktum der Okkupation zu überstehen und zu überwinden.
8. September 1968 sig. Heinrich Böll
Die Veröffentlichung des Textes von Heinrich Böll erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Kölner Verlags Kiepenheuer & Witsch. Er ist dem Buch entnommen: "Der Panzer zielte auf Kafka - Heinrich Böll und der Prager Frühling", erschienen im "KiWi-Verlag" Köln, 2018. Die Schreibweisen Bölls aus dem Jahr 1968 wurden bei belassen.
Zu weiteren Texten & Dokumenten aus dem Externer Link: bpb-Dossier Prag 1968