Das anhaltende Spiel mit der Angst
Rezepte aus dem Kalten Krieg finden immer noch Anwendung - auch 2018?
Bernd Greiner Prof. Bernd Greiner
/ 17 Minuten zu lesen
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Atomwaffen waren der "Treibstoff des Kalten Krieges" beschreibt Prof. Bernd Greiner im Blick zurück auf das Zeitalter atomarer Abschreckung im vergangenen Jahrhundert. Doch ist diese Zeit gegenseitiger Einschüchterung der damaligen Großmächte USA und UdSSR wirklich vorbei? Längst drohen auch kleinere Staaten mit nuklearen Rüstungspotenzialen und handeln dabei nach Maximen, die der einstige US-Außenpolitiker Henry Kissinger bereits Ende der 50er Jahre entwickelt hat. Sind Diplomatie und Vertrauensbildung nur ein Störfaktor im Kräftespiel von Ego-Staaten weltweit? Greiner spricht von einer "intellektuellen Selbstentwaffnung".
Wer den Kalten Krieg hauptsächlich als Epoche von Krisen und Kriegsgefahr beschreibt, erzählt eine unvollständige Geschichte. Nicht minder relevant – und mit Blick auf aktuelle Verwerfungen ebenso aufschlussreich – sind die Versuche zur Moderation und Eindämmung der Systemkonfrontation. Sie markieren Knotenpunkte, an denen scheinbar eingefrorene Denk- und Handlungsmuster verflüssigt, Grenzen des Sag- und Machbaren verschoben, umgangen oder gar außer Kraft gesetzt wurden. Vor dem Hintergrund der sich seit Jahren eintrübenden internationalen Beziehungen dürfte diese Perspektive auch für die politische Bildung und die öffentliche Diskussion von Interesse sein; ertragreicher als die vordergründige Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen alten Eskalationsmustern und einem „neuen Kalten Krieg“ erscheint sie in jedem Fall. Darüber hinaus sind wir an einem Punkt angelangt, an dem Vertrauensbildung und Moderationswissen neu gelernt werden müssen, weil einschlägige Wissensbestände entweder vergessen oder als untauglich zu den Akten gelegt wurden.
Was aber ist Vertrauen? Worüber reden wir eigentlich, wenn von Vertrauen die Rede ist? Einerseits liegt auf der Hand, dass mit Vertrauen etwas Fundamentales gemeint ist, eine Voraussetzung, die soziales und politisches Handeln erst ermöglicht und belastbar stabilisiert. Andererseits haben alle sozialwissenschaftlichen und historischen Annäherungen mit großen Problemen zu kämpfen. Eindeutig ist nur, dass von Eindeutigkeit keine Rede sein kann. Gewiss geht es nicht um etwas Beliebiges. Aber Vertrauen ist dennoch eine sehr flüchtige, eine volatile Kategorie. In anderen Worten: Wir haben es mit Suchbewegungen zu tun, mit Annäherungen an einen nicht klar eingrenzbaren, sehr vielschichtigen und wandelbaren Gegenstand. Schließlich und endlich sollte man zwecks Schärfung des Blicks auch danach fragen, welche Umstände und Faktoren Vertrauen untergraben oder ruinieren. Warum liefen Versuche zur Vertrauensbildung während des Kalten Krieges immer wieder ins Leere? Weshalb tat man sich in dieser Zeit mit vertrauensbildenden Maßnahmen so schwer.
Lehrreiche Kissinger-Studie "Kernwaffen und auswärtige Politik"
Ein ungewöhnlicher, aber lohnender Ansatz zur Beantwortung dieser Fragen ist Henry Kissingers berühmte Studie „Kernwaffen und Auswärtige Politik“ aus dem Jahr 1957. In diesem Text bilanziert er eine langjährige Debatte über die intellektuellen, normativen und institutionellen Prämissen politischen Entscheidens im Nuklearzeitalter. Sind Kernwaffen militärisch überhaupt brauchbar? Haben sie einen politischen Nutzen? Unter welchen Bedingungen ist ihr Einsatz ethisch und moralisch vertretbar? Zugleich verweist Kissinger auf Faktoren, die einer Vertrauensbildung zur Zeit des Kalten Krieges verlässlich in die Quere kamen – das Spiel mit der Angst, die Manipulation von Risiken und die Instrumentalisierung von Unsicherheit. Viele dieser theoretischen Überlegungen unterzog Kissinger in späteren Jahren einem Praxistest, zunächst als Nationaler Sicherheitsberater von Präsident Richard Nixon und ab 1974 als Außenminister. Nicht zuletzt deshalb gehört „Kernwaffen und Auswärtige Politik“ zu den Klassikern außen- und sicherheitspolitischer Schriften aus den USA.
Atomwaffen als Treibstoff des Kalten Krieges
Nuklearwaffen – so lässt sich ohne Übertreibung sagen – waren der Treibstoff des Kalten Krieges. Macht, Durchsetzungsfähigkeit und Glaubwürdigkeit wurden anhand des atomaren Arsenals bemessen, Phantasien über eine alles entscheidende „winning weapon“ schossen ins Kraut, und – ein welthistorisches Novum – der Streit um unvereinbare Weltanschauungen ging seit Ende der 1940er Jahre mit der Drohung beiderseitiger Vernichtung einher.
Zugleich werden Atomwaffen seit ihrem ersten erfolgreichen Test als Zumutung, wenn nicht gar als Überforderung gesehen. Zwar steigert „die Bombe“ das Drohpotential eines Staates ins Unermessliche. Aber ihr Gebrauch ist "stumpf", also sinnlos, weil die Vernichtung des Kontrahenten oder Feindes nur um den Preis der Selbstvernichtung zu haben ist. In der Tat legten die Supermächte selbst zur Zeit des Kalten Krieges eine bemerkenswerte Zurückhaltung an den Tag. Anders als in „vornuklearen Zeiten“, in denen die Kombination von Rüstungswettläufen und zwischenstaatlichen Konflikten fast regelmäßig zu militärischen Auseinandersetzungen geführt hatte, blieb der Welt nach 1945 das Äußerste erspart. „Wer als Erster schießt, stirbt als Zweiter“: Diese populäre Redewendung spiegelt die Entwertung des Krieges als Mittel der Politik und die Tatsache, dass jahrzehntelang solche stumpfe Waffen gebunkert wurden.
Dennoch oder gerade deshalb wurde das Offensichtliche lange Zeit mit viel Aufwand geleugnet, relativiert und hinterfragt. Planungsstäbe in Ost und West beschäftigten sich mit Szenarien von Präventiv- oder „begrenzten“ Atomkriegen. Gab es die Möglichkeit, den Feind komplett zu entwaffnen? Oder zumindest derart zu schwächen, dass eine Vergeltung gegen das eigene Territorium keine unannehmbaren Schäden verursachen würde? In Universitäten und politischen „Denkfabriken“ verbrachten Generationen kluger Köpfe ebenfalls ihre Zeit damit, das Undenkbare zu denken, das Vernichtungsrisiko oder die Überlebenschancen in einem thermonuklearen Krieg zu berechnen und mit vermeintlichen „Siegszenarien“ aufzuwarten.
Im Kern drehten sich die diese Debatten um die Frage, ob aus der militärisch wertlosen Waffe politischer Mehrwert zu schlagen war. Oder wie das stumpfe Atomschwert geschärft werden könnte. Ein Staat, so die hintergründige Annahme, der bei der Durchsetzung seiner Interessen auf Gewalt und Krieg verzichtet, verdammt sich langfristig zur politischen Ohnmacht. Zumindest muss die Umwelt davon überzeugt sein, dass eine Drohung kein Bluff ist und im Zweifel wortgetreu umgesetzt wird. In den Worten Henry Kissingers: „Das Nuklearwaffenarsenal der USA ist nur dann etwas wert, wenn wir bereit sind, es zu benutzen. […] Wenn wir uns in dem atomaren Patt oder Beinahe-Patt, der sich abzeichnet, nicht selbst zur Ohnmacht verdammen wollen, sind wir gut beraten, eine andere Politik zu entwickeln.“
„Overload the Enemy“
Weil ähnliche Reflexe auch auf sowjetischer Seite zum Zuge kamen, standen die Jahre zwischen 1945 und 1991 im Zeichen chronisch wiederkehrender Krisen. Gewiss können die um Berlin, Korea, dem Suez-Kanal, den Inselgruppen vor dem chinesischen Festland, den Kongo, Kuba, Vietnam, Angola, Afghanistan, am Horn von Afrika oder im Nahen Osten ausgefochtenen Konfrontationen nicht über einen Leisten geschlagen werden. Und doch handelten sie in einer Hinsicht von der Wiederholung des immer Gleichen: Die USA und die UdSSR pochten fortwährend auf einer Beglaubigung ihres Status als Atommacht. Beide reklamierten den Aufstieg in eine höhere Gewichtsklasse, verbunden mit geopolitischen Ansprüchen, die sich rein konventionell bewaffnete Staaten schwerlich hätte leisten können. Daher war so penetrant wie selten zuvor von „lebenswichtigen Interessen“ jenseits der eigenen Landesgrenzen die Rede. Oder wahlweise davon, dem Konkurrenten in Schlüsselregionen Asiens, Afrikas, Europas und Lateinamerikas auf beispielgebende Weise Einhalt gebieten zu müssen. „Overload the Enemy“, zeige dem Anderen seine Grenzen auf und verschiebe diese Grenzen zu eigenen Gunsten, lautete die inoffizielle Umschreibung dieser in Ost wie West geläufigen Programmatik.
Die Grenze zwischen Bluff und Vabanque
Dass in einem derartigen Ambiente die bloße Vorstellung von Vertrauen oder vertrauensbildender Politik weltfremd klingen musste, liegt auf der Hand. Stattdessen wurde Misstrauen über alle Maßen genährt, vornehmlich wegen eines Grundsatzes: Die Angst vor der Bombe durfte auf keinen Fall als Verängstigung in Erscheinung treten. So wollte der amerikanische Außenminister John Foster Dulles Staatskunst im Nuklearzeitalter verstanden wissen – wenn nötig, sich dem Abgrund nähern, ohne zum Äußersten entschlossen zu sein, aber die Gegenseite im Ungewissen lassen, wo die Grenze zwischen Bluff und Vabanque verlief. Nikita Chruschtschow hätte es ausweislich seiner ausufernden Drohgebärden und des Kokettierens mit atomaren Erstschlägen nicht treffender formulieren können. John F. Kennedy setzte das Spiel auf seine Weise fort, als er im März 1962 in einem Interview laut über die Möglichkeit eines Nuklearkrieges nachdachte. „Chruschtschow darf sich nicht sicher sein, dass die USA in Fällen, wo ihre lebenswichtigen Interessen bedroht sind, niemals einen Erstschlag führen werden. Unter bestimmten Bedingungen könnten wir gezwungen sein, die Initiative zu ergreifen.“
Bis weit in die 1980er Jahre hatte das Kalkül mit dem Unkalkulierbaren seinen festen Platz in der Außenpolitik beider Seiten. Mal lotete John F. Kennedy, mal das Politbüro unter Leonid Breschnew die Möglichkeit eines Angriffs auf chinesische Nuklearanlagen aus, mal redete Richard Nixon einer „Madman-Strategy“ oder der Politik vorgetäuschter Verrücktheit das Wort, mal machten sich Publizisten im Umfeld der Administration Reagan Gedanken über „Enthauptungsschläge“ („decapitation strikes") und „gewinnbare Atomkriege“. Kein Jahrzehnt, in dem derartige Inszenierungen nicht wiederholt zur Aufführung gekommen wären.
Eine neue Zeichensprache der Macht
Mit dem hintergründigen Wirken des beiderseitigen Vernichtungspotentials war es also nicht getan. Es ging vielmehr um eine neue Zeichensprache der Macht. Wer den Anschein erweckt, dass die Dinge außer Kontrolle geraten könnten, so der Grundgedanke, findet zum Kern des Politischen zurück: Seine Interessen so umfänglich wie möglich durchzusetzen und andere dem eigenen Willen gefügig zu machen. Je mehr man die Gegenseite über Kapazitäten und Absichten rätseln lässt und je diffuser das Szenario für eine nukleare Eskalation ausgemalt wird, desto größer der eigene Aktionsradius – dafür steht der scheinbar harmlose Begriff „Abschreckung“. Grauzonen schaffen, einschüchtern und verunsichern wäre die angemessene Umschreibung. Denn Abschreckung lebt vom Spiel mit Risiken, sie setzt auf eine Manipulation von Unsicherheit und die Ausbeutung von Ängsten.
Henry Kissinger indes verlangte mehr. Statt einer bloßen Neuauflage abstrakter, aber politisch nichtssagender Generalformeln über Selbstabschreckung, Glaubwürdigkeit und Psychostrategie wollte er konkrete Anhaltspunkte für eine künftige Außen- und Sicherheitspolitik zu Papier bringen. Sein Buch „Nuklearwaffen und Auswärtige Politik“ geriet zum Leitfaden über den Wert von Misstrauen in der internationalen Politik und zu einer Handreichung mit einer denkbar einfachen Maxime: Wer Misstrauen sät und zu seinen Gunsten auszubeuten weiß, erwirtschaftet sich politische Vorteile und steigt letztlich zum Souverän internationaler Beziehungen auf. Unterhändler des Vertrauens – Diplomaten also – saßen in der Gedankenwelt des jungen Henry Kissinger konsequenterweise am Katzentisch, wenn überhaupt, waren sie als Wasserträger vorgesehen.
Jeder Versuch der Vertrauensbildung lief in Kissingers Gedankenwelt ins Leere. Weil die UdSSR und die VR China das internationale System seiner Meinung nach nicht stabilisieren, sondern über kurz oder lang aus den Angeln heben wollten, kamen sie als Ansprechpartner einer vertrauensbasierten Politik prinzipiell nicht in Frage. Mit „illegitimen Mächten“, so Kissingers Dogma, konnten bestenfalls kurzlebige Verschnaufpausen im ideologischen Abnutzungskampf arrangiert werden. Waffentechnologische Umwälzungen werteten dieses Argument zusätzlich auf.
Seit dem Zweiten Weltkrieg ging die Entwicklung qualitativ neuer Waffensysteme nicht nur immer rasanter voran, sie nährte auch die schwarze Phantasie, von Gegnern und Feinden ohne Vorwarnung in die Defensive gedrängt, politisch erpresst oder zu einem Krieg mit ungleichen Waffen genötigt zu werden. Dass abgeschotteten Systemen wie der UdSSR oder der VR China ein derartiger Coup erst Recht zuzutrauen war, wiederholte Kissinger ohne Unterlass – zumal dieses „worst case“-Denken eine politisch wasserdichte Legitimation für Amerikas militärische Überlegenheit lieferte. „Die Seite, die sich in einem totalen Krieg in der Verteidigung befindet“, so sein nicht verhandelbarer Grundsatz, „benötigt eine weiter fortgeschrittene Raketentechnik und gesichertere Anlagen als der Aggressor. […] Diejenige Seite, die sich in der Verteidigung befindet, kann sich nicht damit begnügen, sich auf dem gleichen Stand mit dem Feind zu halten.“ Mit seinem Katechismus des Misstrauens gegenüber konkurrierenden Systemen und ihren Repräsentanten rückte Kissinger in die erste Reihe politikberatender Intellektueller auf.
Begrenzte Atomkriege?
Vor diesem Hintergrund klang Kissingers entscheidende Frage weniger verstörend als folgerichtig: „Ist es möglich, sich eine Anwendung von Gewalt vorzustellen, die weniger katastrophal ist als ein thermonuklearer Krieg?“ Wenn die Kosten eines totalen Krieges zu hoch sind, wie muss dann „die Lehre und Fähigkeit des abgestuften Gebrauchs der Gewalt“ aussehen, um „unser Ziel mit geringeren Opfern zu erreichen“? Wie nicht anders zu erwarten, lief die Antwort auf eine neuerliche Polemik gegen Empathie, Berechenbarkeit und Vertrauen in der Außen- und Sicherheitspolitik hinaus. Begrenzte Atomkriege zu führen, ist militärisch machbar; und politisch unverzichtbar ist es, jederzeit damit drohen zu können. So lautet die Botschaft von Henry Kissingers Buch, darauf sind alle Argumente zugeschnitten. Über die operative Machbarkeit verlor er nur wenige und allenfalls wegen ihrer gedanklichen Schlichtheit erwähnenswerte Worte. Im Wesentlichen ging es um die Popularisierung eines Gedankens aus dem Maschinenraum sogenannter „Defense Intellectuals“: „Diejenige Seite, die eher willens ist, einen totalen Krieg zu riskieren, oder die den Gegner von ihrer stärkeren Bereitwilligkeit überzeugen kann, dieses Risiko zu übernehmen, befindet sich in der stärkeren Lage.“
Wer dem kleinen Krieg aus dem Weg geht, so das Mantra, stellt Aggressoren einen Blankoscheck zur dosierten Expansion aus und begeht Selbstmord aus Furcht vor dem Tod. „Wir müssen imstande sein, den Gegner in eine Lage zu bringen, aus der er sich nur durch den totalen Krieg herausziehen kann, während wir ihn gleichzeitig durch die Überlegenheit unserer Vergeltungsfähigkeit davon abhalten, diesen Schritt zu tun.“ In anderen Worten: Sobald die Mittel und Bereitschaft zum „begrenzten Atomkrieg“ in die Waagschale geworfen werden, ist man in der Lage, Druck aufzubauen und in die Offensive zu gehen. Der Königsweg zur Schärfung stumpfer Waffen und zur Quadratur des Kreises schien gefunden.
Aus heutiger Sicht erscheinen diese Gedankengänge abstrus – vorsichtig formuliert. Gleichwohl argumentierte Kissinger auf der Höhe seiner Zeit. Vorweg rekapitulierte er einen Kanon aus Rationalitätserwartungen und Rationalitätsunterstellungen, der für die militärstrategische Debatte charakteristisch war. Man könnte auch von einer Rationalitätsfalle sprechen. Denn in diesem Denkhorizont kam alles Mögliche vor – außer Fehlwahrnehmung, Eigendynamik und Zufall, außer menschlicher Schwäche, Irrtum oder Selbstüberschätzung. In Kissingers selbst gezimmerter Militärwelt funktionierten die Abläufe wie ein Schweizer Uhrwerk: Kriegsherren kommunizieren und moderieren störungsfrei, sie verlangsamen oder beschleunigen das Geschehen je nach Bedarf, legen Pausen ein und entscheiden mit kühlem Kopf, wann die nächste Kampfphase beginnt und wie lange sie dauert. Und deshalb war die Pointe dieser Überlegungen keineswegs ironisch gemeint: „Vielleicht wird es zu den größten Widersprüchen des Atomzeitalters gehören, dass in einer Periode fortgeschrittenster Technik Schlachten sich den formvollendeten Wettkämpfen des Mittelalters annähern werden.“
Strategisches Patt: „Wir trauen euch nicht über den Weg, und ihr tut gut daran, uns nicht zu vertrauen"
Man kann zu Recht einwenden, dass Kissinger - bei aller Reputation, die er später ebenfalls errang - 1957 mit dem Buch „Kernwaffen und Auswärtige Politik“ eher ein Werk von bemerkenswerter intellektueller Schlichtheit vorgelegt hat, einen Text, dessen militärstrategischen Überlegungen heute verworren und weltfremd klingen. Aber die Kritik nur darauf zu richten, hieße, das Wesentliche zu übersehen. Im Kern ging es ihm offensichtlich um etwas anderes, nämlich um eine politische Botschaft an Moskau, getreu der Devise: „Wir trauen Euch nicht über den Weg, und Ihr tut gut daran, uns nicht zu vertrauen – zu keinem Zeitpunkt und in keiner Frage, denn im Zweifel könnt ihr davon ausgehen, dass wir zu allem fähig und willens sind. Auch zu Maßnahmen, die auf den ersten Blick weltfremd oder schlicht verrückt erscheinen". In Etwa so lässt sich Kissingers Kernaussage aus dem Jahr 1957 zusammenfassen, die zu einem Fundament bis heute praktizierter Abschreckungspolitik geworden ist.
„Kernwaffen und Auswärtige Politik“ avancierte im Handumdrehen zu einem nationalen Bestseller, geadelt von Prominenten unterschiedlicher Couleur, die auf frischen Wind und neue Gesichter in der sicherheitspolitischen Debatte setzten. Keiner der gegen das Buch vorgetragenen Einwände wirkte abträglich. Im Gegenteil. Offensichtlich bediente Henry Kissinger das Bedürfnis nach Härte, Unnachgiebigkeit und gestählter Zurückweisung eines Denkens, das auf Kompromiss, Verständigung und Vertrauen setzte. Spätestens als John F. Kennedy mit dem Versprechen einer tatkräftigen Wiederbelebung amerikanischer Macht in den Wahlkampf zog, schossen Kissingers politische Ambitionen ins Kraut. Wer so leidenschaftlich und publikumswirksam wie er argumentieren konnte, musste auch auf prominente Gesellschaft nicht lange warten. Kennedy zitierte ihn wiederholt in öffentlichen Reden, Eisenhowers Vizepräsident Richard Nixon ließ sich im Wahlkampf mit einem Exemplar von „Nuklearwaffen und Auswärtige Politik“ fotografieren. Und für Robert McNamara war es das erste und einzige Buch über Nuklearstrategie, das er vor seiner Ernennung zum Verteidigungsminister gelesen hatte. Eben weil er die Klaviatur des Misstrauens wie kaum ein Zweiter beherrschte, standen Henry Kissingers Karrierechancen außerordentlich gut.
"One Percent Doctrine": Aus einer minimalen Gefahr kann jederzeit eine maximale Gefährdung wachsen
Auch eine Rezeptur wider das politische Nervengift Vertrauen hielt Kissinger parat. Wenn man wartet, „bis die sowjetische Drohung völlig eindeutig und die Gefahr offensichtlich geworden ist, […] kann es sehr wohl zu spät sein. […] Der mit Ereignissen verbundenen Komplikationen kann man nicht ‚sicher‘ sein, bis sie stattgefunden haben, und wenn sie stattgefunden haben, ist es zu spät, um irgendetwas zu ändern. […] Unsere Politik ist […] auf den Fall der Not eingestellt; es wird ihr schwer, ein langfristiges Programm aufzustellen, das dem Notfall zuvorkommen kann.“ Typisch Kissinger sind diese Sätze nur wegen ihrer schwerfälligen und dem Deutschen entlehnten Grammatik. Inhaltlich handelt es sich um Paraphrasen aus Schriften der sicherheitspolitischen „Denkfabrik“ RAND in Santa Monica. Gemeint ist die so genannte „One Percent Doctrine“ oder das Axiom, dass ein Prozent des Möglichen wie einhundert Prozent des Wahrscheinlichen eingestuft werden muss, dass aus einer minimalen Gefahr also jederzeit eine maximale Gefährdung erwachsen kann – gerade wenn man es mit einem zu Allem entschlossenen Feind wie der UdSSR oder der VR China zu tun hat. Die Frage war demnach nicht, wie wahrscheinlich ein Szenario ist. Den Ausschlag gibt, ob etwas vorstellbar ist. Demnach müssen Gefahren bekämpft werden, bevor sie Gestalt angenommen haben und ehe es schlüssige Beweise gibt. Nur Bürokraten, so Kissinger, fragen nach Gewissheiten oder Kausalzusammenhängen – weil sie verkennen, dass im Kampf gegen das Böse die Risiken des Nichthandelns allemal größer sind als die Risiken des Handelns. Wer abwartet, hat demnach zu lange gewartet. Gefragt ist stattdessen die Bereitschaft, „auf der Grundlage einer nur unvollkommenen Kenntnis der Tatsachen Risiken einzugehen und sich mit einer weniger als vollständigen Anwendung der eigenen Grundsätze abzufinden. Das Bestehen auf dem Absoluten […] ist ein Rezept für Untätigkeit.“
Ob Kissingers Buch im Kreml diskutiert wurde, sei dahingestellt. In jedem Fall ging die UdSSR ihrerseits in die Offensive, wollte dem Westen durch vielfältige Provokationen die Grenzen seiner Macht aufzeigen und sich selbst als Macht inszenieren, die mit einer Politik des Misstrauens und der Angst nicht zu bändigen war. Auch in diesem Zusammenhang sind die Berlin-Krisen von 1958 bis 1961 oder die Kuba-Krise des Jahres 1962 zu sehen. Gewiss spielte dabei noch eine Vielzahl anderer Faktoren eine Rolle. Aber bei der Bewertung aller Umstände kommt man nicht umhin, die öffentlichen Debatten in den USA und letztlich auch Henry Kissingers Einlassungen in Rechnung zu stellen – das öffentliche Hantieren mit Atomkriegsszenarien, Erpressung und Ausnahmezustand. Moskau zahlte mit gleicher Münze zurück. Und damit schloss sich der Kreis einer Politik, die im bedingungslosen Plädoyer für Misstrauen und in der zum Grundsatz erhobenen Absage an vertrauensbildende Maßnahmen der politischen Weisheit letzten Schluss sah.
Madman-Strategie als inszenierte Unbrechenbarkeit
Nachdem er 1969 von Präsident Richard Nixon zum Nationalen Sicherheitsberater ernannt worden war, setzte Kissinger zusammen mit dem neuen Präsidenten tatsächlich einige Maximen seines Buches in die Realität um. In anderen Worten: Er stellte auf seine Weise klar, dass die in „Nuklearwaffen und Auswärtige Politik“ vorgestellten Ideen kein leeres Gerede waren. Und dass er nach wie vor davon überzeugt war, aus der Manipulation von Misstrauen, Unsicherheit und Ängsten politisches Kapital schlagen zu können.
Diese Kapitel aus Henry Kissingers Karriere sind als „Madman-Strategie“ in die Geschichte eingegangen. Gemeint ist eine inszenierte Unberechenbarkeit, mit deren Hilfe die offenkundige Niederlage in Vietnam im letzten Moment abgewendet werden sollte – ein Versuch also, mittels der Suggestion von Wahnsinn politische Gewinne einzufahren. Übersetzt in die Worte des Präsidenten: „Die Nordvietnamesen sollen glauben, dass ich für eine Beendigung des Krieges schlicht alles tun würde. Wir spielen ihnen einfach die Information zu, dass dieser Nixon vom Kommunismus besessen ist, dass man ihn nicht bändigen kann, wenn er wütend wird, und dass er obendrein auch noch den Finger auf dem Atomknopf hat. Ho Tschi Minh höchstpersönlich wird innerhalb von zwei Tagen in Paris sein und um Frieden betteln.“
In Nixon hatte Kissinger einen Geistesverwandten gefunden. Für beide galt: Ein Staat, der aus Angst vor atomarer Selbstvernichtung darauf verzichtet, bei der Verfolgung seiner Interessen Drohkulissen aufzubauen, verdammt sich langfristig zur politischen Ohnmacht. Handlungsfähig bleibt er nur, wenn Dritte sich zu keiner Zeit seiner Zurückhaltung und Rationalität sicher sein können. Wer hingegen im Ruf steht, im Zweifel jedes Augenmaß zu verlieren und exzessive Risiken einzugehen, wird ernst genommen. Überzeugt, binnen Jahresfrist Hanoi zum Nachgeben zwingen zu können, bereitete Nixon eine Demonstration der „Madman-Theorie“ in der Praxis vor. „Ich werde, falls nötig, den Norden mit einer größeren Zerstörung überziehen als je zuvor.“ Diese Drohung ließ er via Moskau an Hanoi weiterleiten.
Tatsächlich wurde der Luftkrieg massiv ausgeweitet. Und zugleich ordnete Nixon eine der größten Geheimoperationen an, die es je in der amerikanischen Militärgeschichte gegeben hat – den „Joint Chiefs of Staff Readiness Test“ oder „Nuclear Alert“. Abseits zugespitzter Konfrontationen wie der Kuba-Krise hatte sich noch kein Präsident dergleichen einfallen lassen. Zwischen dem 13. und 30. Oktober 1969 wurden Luftwaffenbasen in den USA, Europa und Ostasien in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt, Gefechtsbedingungen für die Luftwaffe simuliert sowie ungewöhnlich viele mit Atomwaffen bestückte U-Boote in den Atlantik, den Golf von Aden und in Gewässer vor Japan beordert. Und das „Strategische Luftkommando“ dirigierte in einer mehrtägigen „show of force“ mit Wasserstoffbomben beladene B-52-Bomber unmittelbar in die Nähe des sowjetischen Luftraums über Alaska. Mit alldem wollten Nixon und Kissinger den Sowjets zweierlei zu verstehen geben: dass eine Ausweitung des Krieges auf Nordvietnam bevorstand und dass Moskau im Interesse seiner eigenen Sicherheit gut beraten wäre, in diesem Fall still zu halten.
Zweifellos bemühte sich Kissinger zeitgleich um eine Entkrampfung der Beziehungen gegenüber der UdSSR und der VR China. Die Etappen dieser als „Detente“ beschriebenen Politik sind zur Genüge bekannt – vorweg seine legendäre Geheim-Reise nach Peking im Juli 1971, sodann die SALT-Verträge ("Strategic Arms Limitation Talks"), die ab 1969 zwischen den USA und der UdSSR ausgehandelt wurden, mit denen beide Seiten von der bis dato unkontrollierten Aufrüstung Abstand nahmen und sich auf Modalitäten der Rüstungskontrolle einigten. Doch zugleich waren dieser Umorientierung enge Grenzen gesetzt – genauer gesagt Grenzen, die aus Kissingers tief verwurzelter Skepsis gegenüber einer vertrauensorientierten Politik resultierten.
"America First"
Mittels der „Detente“ ging es Kissinger und Nixon in erster Linie darum, nach dem Desaster in Vietnam, den innenpolitischen Verwerfungen der 1960er Jahre, den zahlreichen Konflikten mit Verbündeten und angesichts einer kriselnden US-Wirtschaft die weltpolitische Führungsrolle der USA wiederherzustellen und auf Dauer zu festigen: “America First“. Von verbesserten Beziehungen mit den Hauptmächten des kommunistischen Lagers versprach man sich erstens eine Erweiterung amerikanischen Handlungsspielraums und zweitens neue Optionen beim Versuch, die kommunistischen Rivalen gegeneinander auszuspielen.
Überdies formulierte Washington die Vorbedingung, dass Moskau und Peking in der „Dritten Welt“ ein Washington genehmes „Wohlverhalten“ an den Tag legen, also auf eine Ausweitung ihrer Einflusszonen verzichten. Zeitgenossen nannten es „Linkage“-Politik. Man hätte auch von einer Entspannungspolitik unter Vorbehalt und mit beschränkter Haftung sprechen können – zumal die USA im Rahmen dieser verbesserten Beziehungen nicht bereit waren, auf ihre qualitative Überlegenheit in der Rüstungstechnologie zu verzichten, Verträge wie SALT hin oder her. Auf diese Weise wurde die Geschichte des im Kalten Krieg auf die Spitze getriebenen Misstrauens weitergeschrieben. Und ein weiteres Mal deutlich gemacht, warum es so schwierig war, Alternativen zu konzipieren, geschweige denn durchzusetzen – weil im Zweifel immer die Maxime „America First“ galt.
Ein Schelm, wer unter dem Eindruck des Gesagten nicht an unsere eigene Zeit denkt, an die zahlreichen Debatten über neue Kampfbereitschaft, Stärke und Aufrüstung. Aus meiner Sicht allzu offensichtlich sind die Parallelen zur Gedankenwelt des jungen Henry Kissinger: Wieder einmal wird Sicherheitspolitik hauptsächlich aus der Perspektive des Militärischen, des Misstrauens und des Verdachts gesehen, wieder einmal stehen überfällige Alternativen im Verdacht der Anbiederung an Russland oder gar des „Appeasement“ eines Diktators. Kategorien wie Konfliktmoderation, „gemeinsame Sicherheit“, „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“ oder „asymmetrische Abrüstung“ sind nicht allein aus der Mode gekommen. Längst scheint vergessen, was mit ihnen überhaupt gemeint ist. Von Realismus und Urteilsvermögen zeugt dergleichen mitnichten; eher von intellektueller Selbstentwaffnung.
Prof. Dr. phil., geb. 1952; Historiker, Amerikanist und Politologe; Lehrtätigkeit an der Universität Hamburg und dem Hamburger Institut für Sozialforschung, Leiter des Berliner Kollegs Kalter Krieg (Externer Link: www.berlinerkolleg.com ). Zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte der Gewalt, zur US-amerikanischen Geschichte und zu internationalen Beziehungen im 20. Jahrhundert. Darunter: Die Morgenthau-Legende. Zur Geschichte eines umstrittenen Plans (1995); A. World at Total War (hg. zusammen mit Roger Chickering und Stig Förster, 2003); Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam (2007); Die Kuba-Krise: Die Welt an der Schwelle zum Atomkrieg (2010); 9/11: der Tag, die Angst, die Folgen (2011) sowie seit 2006 Herausgeber (zusammen mit Christian Th. Müller, Tim B. Müller, Dierk Walter und Claudia Weber) einer sechsbändigen Reihe "Studien zur Gesellschaftsgeschichte des Kalten Krieges". E-Mail Link: bernd.greiner@his-online.de
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