Zum Abschluss der Tagung hatte ein besonderer Gast das Wort: Bart Brandsma. Sich selbst bezeichnet er als praktischen Philosoph, einer größeren Fachöffentlichkeit bekannt wurde der Niederländer vor allem durch seine Coachings zu Polarisierungen und ihrer Dynamik für Polizei und Verwaltung in den Niederlanden. Er war lange Zeit für die "Muslim Dutch Broadcasting Company" tätig und konnte unter anderem dort sein Profil rund um eine zentrale Frage schärfen: Warum brauchen Menschen Polarisierung? Warum sind “Wir“ und die “Anderen“ so erfolgreiche Kategorien, medial, politisch, sozial? Hierzu hat Brandsma sein "kognitives Gerüst" entwickelt, das er anschaulich präsentierte. Demzufolge folgt Polarisierung drei Geboten:
Sie ist ein reines Mindset, ein Gedankenkonstrukt.
Sie braucht ständig neuen Treibstoff, neue Abgrenzungen
Sie ist ein Bauchgefühl, das nicht rational erklärbar ist
Um zu polarisieren, braucht es gar keinen realen Konflikt, lediglich ein Feindbild, dieser Punkt war Brandsma wichtig. Im Folgenden modellierte Brandsma sein Schema zur Beschreibung von Polarisierung, das neben drei Geboten, fünf Rollen und vier "game changer" identifiziert.
Es gäbe immer Meinungsführer ("pusher"), die gegen die wahrgenommenen "Anderen" polarisierten. Brandsma nannte Donald Trump oder Geert Wilders als exemplarische "pusher", die ihre Anhänger emotional aufwiegelten und somit gesellschaftliche Spaltungen und Gegenbewegungen provozierten. Diese "pusher" glauben sich im Recht und Besitz der Wahrheit, und ihre Anhänger (“joiner“) lassen sich von den "pushern" mitreißen, aber weisen jede Verantwortung von sich. Die Medien verstärken diese Dynamik nochmals, sodass die große stumme Mitte (the silent), in der sich Tag für Tag die eigentlichen gesellschaftlichen Fortschritte ereignen, meist ungehört bleibt. Sichtbar zwischen beiden Gruppen positionieren sich Brückenbauer ("bridgebuilders"), die als Vermittler zwischen den Polen ("pusher") agieren und um gegenseitiges Verständnis werben.
Bei zunehmender gesellschaftlicher Polarisierung wird diese Mitte kleiner und Aushandlungsprozesse weichen Anhängerschaft. Wer sich keiner Seite zuordnen möchte und in der unabhängigen Mitte bleibt, läuft Gefahr zum Sündenbock ("scapegoat") der beiden polarisierten Gruppen zu werden. Wie aber lässt sich eine derartige Spaltung vermeiden? Brandsma brachte hier vier "game changer" mit depolarisierender Wirkung ins Gespräch. Erstens sei festzustellen, wer eigentlich die Subjekte in den Gruppen sind und mit was genau sie sich identifizieren. Zweitens gelte es, Zielgruppen in den polarisierten Lagern herauszufinden und sie gezielt zu motivieren, in die Mitte zurückzukehren. Ein Wechsel der eigenen Position könne zudem helfen, das Bewusstsein zu schärfen und letztlich sei auch der Ton der Auseinandersetzung entscheidend: Es komme nicht auf richtig oder falsch an, als Brückenbauer sollte man nicht urteilen, sondern sanft versuchen die Polarisierung aufzulösen.
Nach dem prägnanten Vortrag wurde Kritik an Brandsmas Modell geäußert: Wie definiert sich die "unsichtbare" Mitte? Und gibt es nicht auch einen subtilen Extremismus der Mitte, der nicht auf Gruppenzugehörigkeit, sondern auch alltäglichen Ausgrenzungen und Abwertungen beruht? Letztlich zielte der Widerspruch auf die Extremismustheorie ab, die seit langem kritisch diskutiert wird. Brandsma konterte damit, dass er keine normative Methode entwickeln, sondern deskriptive Orientierung ermöglichen wolle, die Praktikerinnen und Praktikern ihren eigenen Standpunkt reflektieren lasse.