Der renommierte französische Soziologe Gilles Kepel vom Institut d’Etudes Politiques in Paris ("Sciences Po") eröffnete die Tagung mit einem Vortrag über aktuelle Trends des Dschihadismus und Salafismus in Europa. Zu Beginn stellte Kepel zwei Fragen in den Raum: Warum ist erstens gerade "Salafismus" die Variable, über die gesprochen wird? Wäre es nicht passender, stattdessen von Radikalisierung zu sprechen? Kepel zog Parallelen zur RAF in den 1970er Jahren und machte deutlich, dass sich die Wissenschaft uneins sei, ob das heutige Phänomen der salafistischen Radikalisierung nicht eine Widerkehr der Radikalisierung vor 30 oder 40 Jahren sei, oder ob es sich doch um ein neues Phänomen rund um eine spezifische Islamauslegung handele. Zweitens, wie lassen sich die Entstehung und die Entwicklung des "salafistischen Dschihadismus" erklären? Trotz dem Fall der IS-Hochburgen Mossul und Rakka sei die Ideologie nicht verschwunden. Dass auch Deutschland von islamistischen Terroranschlägen betroffen war hat gezeigt, dass der Terror kein reines Erbe des Kolonialismus ist.
Ein Merkmal ist fundamental und prägt alle Radikalisierungen: Gläubige vs. Ungläubige. Die Ausprägungen hingegen seien höchst unterschiedlich. Kepel zeichnete nun eine historische Skizze. Erst nach dem Ersten Golfkrieg entstand eine salafistische Bewegung in Europa, im Anschluss an bestehende dschihadistische Gruppierungen. Der Islam wurde zum Heilmittel einer säkularen, institutionellen Erziehung und Sprache stilisiert, in Form eines asketischen Rückzugs aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Nach dem 11. September war eine neue Phase der Radikalisierung augenscheinlich: In der allgemeinen Polarisierung und stärker werdenden Islamfeindlichkeit entwickelte sich ein von unten aufgebauter "Bottom up" Dschihadismus auf regionaler Ebene und eine kriegerische Metaphorik: Junge Islamisten, die mitunter soziale Ausgrenzung und Benachteiligung erfahren hatten, fanden mit dem Dschihadismus ein gewalttätiges Ventil. Deutschland wurde durch seine vergleichsweise hohe soziale Mobilität und die bessere Integration in den Arbeitsmarkt erst nachranging von diesen Phänomen erfasst, so Kepel.
Heute sehen wir uns hingegen mit dem beginnenden Ende des “bottom-up-terrorism“ konfrontiert. Zur Beobachtung neuer Formen empfahl Kepel eine verstärkte europäische Koordination und Zusammenarbeit, auch im Sinne einer positiven Integration. Im Laufe der Diskussion riet Kepel dazu, das Erbe der europäischen Kolonisierung nicht stets kritisch zu sehen, da die daraus resultierende Migration aus der europäischen Kultur nicht mehr wegzudenken sei. Das Konzept des Euro-Islam lehnte Kepel ab, mit der Begründung, dass dies ein zu theoretisches Konstrukt sei, welches im Vergleich zur lebensweltlichen Ansprache von Salafisten nicht mithalten könne.