Bünyamin E., der von seinen Schulkameraden Bünno genannt wurde, war ein unauffälliger junger Mann, der tagsüber auf einem Bauernhof jobbte und bis zum Jahr 2009 die Abendrealschule in Wuppertal besuchte. Im Sommer 2010 verschwand der Schüler aus seinen gewohnten Lebenszusammenhängen. Bünno hatte den Entschluss gefasst, "Imran Almani" zu werden. Fortan wollte er Teil des "Jihads" in Afghanistan sein. Für den jungen Kombattanten war dies ein kurzer Weg. Bereits am 4. Oktober, kurz vor seinem 21. Geburtstag, starb Bünno durch einen US-Drohnenangriff unweit der pakistanischen Provinzstadt Mir Ali.
Für die Sicherheitsbehörden war Bünyamin E. ein weitgehend unbeschriebenes Blatt. Seine Radikalisierung zum Jihadisten vollzog sich offenbar sehr schnell. Einen nicht unerheblichen Einfluss, so mutmaßt man heute, hatte das salafistische Umfeld der Schababannur-Moschee in Wuppertal. Dort predigte auch Abu Jibriel, einer der erfolgreichen deutschen Jugendprediger, der sich neuerdings auch als Schauspieler im jungen Genre islamischer Unterhaltungsfilm erprobt.
Blitzartige Radikalisierungsprozesse bei jungen Muslimen sind keine Einzelfälle. Seit geraumer Zeit stellen die Sicherheitsbehörden vermehrt Radikalisierungsverläufe vorzugsweise junger Muslime und Konvertiten fest. Sichere Zahlen gibt es hierzu allerdings nicht. Das Bundeskriminalamt schätzt die Zahl der sogenannten islamistischen "Gefährder" auf 130. Auf welchem Wege junge Menschen in jihadistische Netzwerke hineingelangen und welche Faktoren Radikalisierung begünstigen, ist nach wie vor unklar. Als gesichert gilt lediglich, dass radikalislamistische Websites, die in großer Zahl im Internet vorzufinden sind, eine erhebliche Rolle spielen. Dies zeigte insbesondere der Fall des Frankfurter Attentäters Arid U., der im März 2010 zwei US-Soldaten tötete. Nach Ermittlungslage verfügte der Attentäter über keine personellen Verbindungen zu jihadistischen Netzwerken. Der Ideologietransfer lief fast ausschließlich über Internetplattformen.
Jihad und Islamismus
Der militante Islamismus ist jedoch nur ein Teil des Problems. Das islamistische Spektrum, das auf Jugendliche Einfluss auszuüben versucht, ist erheblich breiter. Nur ein kleiner Teil zeigt sich gewaltbereit. Die meisten salafitischen Jugendprediger und islamistischen Netzwerke, die öffentlich in Erscheinung treten, lehnen Gewalt ab. Allen gemein ist jedoch die umfassende Ideologisierung des Islams, die nach Mohammed Arkoun den Islam als die einzig wahre Religion darstellt, die den ewigen Pakt Gottes mit den Menschen entspricht. Der Islam enthalte das vollendete Recht für alle Gesellschaften und müsse zur Regelung aller Angelegenheiten herangezogen werden. Dieser Grundsachverhalt findet seinen Niederschlag in vier Tendenzen:
1. Islam als alleiniges Orientierungssystem für alle privaten und gesellschaftlichen Angelegenheiten
Es wird davon ausgegangen, dass der zur Ideologie transformierte Islam umfassende Antworten auf alle Fragen des privaten und gesellschaftlichen Lebens bereithält. Dies bedeutet, dass Islam zur Regelung aller politischen, juristischen, ethischen, kulturellen und ökonomischen Angelegenheiten herangezogen werden muss.
2. Literalismus
Um Spaltungen in der der Umma zu vermeiden, müsse man wieder zur ursprünglichen Botschaft des Korans zurückfinden. Dieser sei unantastbar und sola scriptura zu lesen, da alle Aussagen bereits in unmissverständlicher Klarheit vorhanden wären.
3. Exklusivität
Die eigenen aus der unmittelbaren Koranlektüre gewonnenen Prinzipien werden als absolut und unhinterfragbar gesetzt. Eine Diskussion über die Prinzipien wird grundsätzlich abgelehnt. Positionen, die auf anderen religiösen Grundlagen beruhen – seien es innerislamische oder außerislamische – sowie Positionen, die auf säkularen Weltanschauungen basieren, erzeugen Intoleranz und Ablehnung.
4. Antisemitismus
Ein weiteres häufig vorzufindendes Merkmal islamistischer Ideologie ist eine ausgewiesene antisemitische Rhetorik und Weltsicht. Zentral ist hier die dem modernen Antisemitismus entnommene Figur des jüdischen Verschwörers, der mit Rückgriff auf Narrative des Korans zum zentralen Widersacher der islamischen Umma erklärt wird.
Präventionsarbeit
Die verschiedenen Spielarten des Islamismus und die hieraus abgeleiteten dichotomen Weltdeutungsangebote, die streng und ohne Zwischentöne zwischen "haram" (verboten) und "halal" (erlaubt) unterscheiden, stellen Jugendhilfe, Moscheegemeinden und Schule vor eine komplexe Problemlage. Für die freien und kommunalen Jugendhilfeträger ist zunächst zu konstatieren, dass die Extremismusproblematik bislang gar nicht oder nur unzureichend wahrgenommen wurde. Folglich gibt es – abgesehen von wenigen Modellprojekten unter anderem im Bundesprogramm "Inititative Demokratie stärken", das im Jahr 2010 gestartet wurde – faktisch keine Präventionsarbeit, die islamistischen Eindeutigkeitsangeboten etwas entgegensetzen könnte. Ferner ist festzuhalten, dass selbst bei vorhandenem Willen eine wirksame Präventionsarbeit kaum möglich wäre, da bislang den Jugendarbeiterinnen und Jugendarbeitern jegliche Erxpertise fehlt.
Ähnlich stellt sich die Sachlage auch bei den Moscheegemeinden dar. In den vergangenen zehn Jahren wurde von der Politik immer wieder die Forderung vorgetragen, die Moscheegemeinden sollten einen bedeutsamen Beitrag zur Islamismusbekämpfung leisten. Hier stellt sich die Frage: Wie und mit wem? Zunächst ist festzuhalten, dass viele Moscheegemeinden hier nur beschränkte Wirkmöglichkeiten haben, da viele muslimische Jugendliche die Moschee gar nicht oder nur selten besuchen. Darüber hinaus verfügen viele Imame über keine Anbindungen an die Wohnquartiere. Als unzureichend sind oftmals ferner die Deutschkenntnisse anzusehen. Schließlich fehlen grundlegende pädagogische Kenntnisse, die für eine qualifizierte Arbeit mit Jugendlichen erforderlich sind.
Schule als Ort der Prävention
Wesentlich bessere Voraussetzungen als Jugendhilfe und Moscheegemeinden bietet die Schule mit ihrem differenzierten Fächerinstrumentarium. Im Hinblick auf die Zielgruppe – junge Muslime aller Herkünfte – bietet die Schule zunächst den entscheidenden Vorteil, dass aufgrund der bestehenden Schulpflicht die Zielgruppe im vollen Umfang erreicht werden kann. Ein in diesem Kontext weiterer wichtiger Faktor ist darin zu sehen, dass nahezu alle im Unterricht tätigen Lehrkräfte über eine solide pädagogische Ausbildung verfügen, die einen professionellen Umgang auch mit durchaus schwierigen Themen sicherstellen soll. Für die Präventionsarbeit bietet die Schule drei Handlungsfelder:
Fächer der Werteerziehung (Politik, Gesellschaftskunde, Ethik oder Praktische Philosophie),
Kooperationsangebote mit außerschulischen Partnern im Rahmen des gebundenen Ganztagsunterrichts und
"Islamkunde", "Islamunterricht" und "islamischer Religionsunterricht".
In den Handlungsfeldern Fächer der Werteerziehung und Kooperationsangebote mit außerschulischen Partnern ist die die Präventionsarbeit gegen Islamismus bislang kein fester Bestandteil der Lehr- bzw. Bildungspläne. Qualifizierte Lehrerfortbildungen und hochwertige Handreichungen, die sich schulrelevant mit Phänomen des Islamismus auseinandersetzen, sind eher die Ausnahme.
Als Pionier auf diesem Gebiet erwies sich bisher der Berliner Verein Ufuq e.V., der seit drei Jahren Fortbildungen für Lehrkräfte in mehreren Bundesländern angeboten hat. Darüber hinaus hat Ufuq gemeinsam mit der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb)den Newsletter "Jugendkultur, Religion und Demokratie. Politische Bildung mit jungen Muslimen" herausgegeben. Als weiterer wichtiger Akteur ist in diesem Kontext das Netzwerk Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage (SOR-SMC) in Erscheinung getreten. Die von SOR-SMC herausgegebene Handreichung "Jugendkulturen zwischen Islam und Islamismus" gilt mittlerweile als Standartwerk für Lehrkräfte aller Schulformen.
Das in Zukunft wichtigste Handlungsfeld für die schulische Auseinandersetzung mit Phänomenen des Islamismus ist der "Islamische Religionsunterricht" der z. Z., der in sechs Bundesländern (Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, NRW und Niedersachsen) zumeist in Form von Modellversuchen angeboten wird. In Quantität und Reichweite herausragend ist die "Islamkunde" in NRW, die im Schuljahr 2010/2011 an ca. 170 Schulen mehr als 12 000 Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 1 bis 10 erreicht. Durchgeführt wird die "Islamkunde", die im kommenden Jahr in einen ordentlichen "islamischen Religionsunterricht" überführt werden soll seit dem Schuljahr 1999/2000.
Vor allem im Bereich der SEKI und hier insbesondere in der 8. Bis 10. Jahrgangsstufe konnten in den vergangenen 11 Jahren Lehrkräfte die politische Instrumentalisierung des Islams im Rahmen des Unterrichts bearbeiten und wertvolle Erfahrungen sammeln. Hierbei ging es auch um durchaus konfliktträchtige Themen wie den Nahostkonflikt, über den arabisches SAT- TV oft sehr einseitig berichtet. Im Rahmen des Unterrichts, der in der Regel zwei Wochenstunden umfasst, gewinnen die Schülerinnen und Schüler eine mehrdimensionale Sichtweise und erlernen unter anderem einen reflektierten Umgang mit religiösen Regeln und Dogmen. Überdies setzen sie sich aktiv mit anderen Religionen und Weltanschauungsmodellen auseinander und arbeiten so aktiv an einer Verbesserung ihrer Dialog- und Toleranzkompetenz. Beide Kompetenzen sind für das Zusammenleben in einer wertepluralen Gesellschaft, die durch eine hohe Diversität von Lebensentwürfen gekennzeichnet ist, von herausragender Bedeutung.