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Islamistische Bewegungen im Arabischen Frühling

Peter Philipp

/ 5 Minuten zu lesen

Es waren nicht die Islamisten, die in Ägypten und Tunesien die Despoten stürzten. Werden sie dennoch die Zukunft dieser Länder beeinflussen können? Und wie sieht es in anderen Teilen der arabischen Welt aus?

Raschid Ghannouchi, Anführer der islamistischen Bewegung Nahda in Tunesien, im Juni 2011. (© AP)

Die im Frühjahr gestürzten Herrscher Tunesiens und Ägyptens, Zine el-Abidine Ben Ali und Husni Mubarak, hatten es während ihrer jahrzehntelangen Herrschaft immer wieder meisterlich verstanden, sich dem Westen als verlässliche Partner im Kampf gegen radikale islamistische Gruppierungen und Bewegungen anzudienen. In beiden Ländern wurden Islamisten unterdrückt und verfolgt, ins Gefängnis geworfen oder ins Exil getrieben. Und dennoch waren nicht sie es, die den Protest der Massen auslösten oder anführten. Nicht sie können den Sturz der beiden Despoten für sich reklamieren und es ist noch offen, in welchem Umfang die Islamisten in der Lage sein werden, die Zukunft Tunesiens und Ägyptens aktiv mitzugestalten und zu beeinflussen.

In beiden Ländern sind die Islamisten von den Ereignissen ebenso überrascht und überrollt worden wie die Regime Ben Alis und Mubaraks. Während die Staatschefs der Meinung waren, die Dinge fest im Griff zu haben, hatten die Islamisten sich offenbar längst damit abgefunden, keine oder nur eine drittrangige politische Rolle zu spielen. Je repressiver und korrupter Staatsführung und Staatsapparat wurden, desto größer wurde zwar die Anhängerschaft der – allgemein als korrekt und hilfsbereit betrachteten – Islamisten der "Nahda" ("Erwachen") Partei in Tunesien oder der Muslimbruderschaft in Ägypten. Beide schienen sich aber weitgehend damit abgefunden zu haben, dass sie auf absehbare Zeit keine Chance haben würden, an die Macht zu kommen oder auch nur an ihr teilzuhaben.

Es begann alles schon lange vor dem 11. September, der für den Westen zum Auftakte des Konflikts mit radikalen Muslimen geworden ist. Es begann vielmehr mit dem Einmarsch der Sowjets in Afghanistan 1979. Unterstützt von den USA und von konservativen arabischen Staaten (besonders Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten) zogen junge Araber in den Krieg, um Afghanistan gegen die "Ungläubigen" zu verteidigen. Wer noch nicht als Islamist an den Hindukusch gezogen war, der kehrte als solcher in seine Heimat zurück – nachdem die Sowjets 1989 Afghanistan verlassen hatten.

Die Heimat bot den Rückkehrern wenig. Keine Arbeit, vor allem aber keine Freiheit. Ben Alis "Schlüsselerlebnis" dürften die Wahlen im Nachbarland Algerien 1991 und ihre Folgen gewesen sein: Die islamistische "FIS" gewann diese Wahlen überraschend, die dann aber prompt vom Militär – der bis heute eigentlichen Macht im Land – annulliert wurden. Ein blutiger Bürgerkrieg brach aus, der nie offiziell beendet wurde und bis zu 150.000 Menschen das Leben kostete.

Der ehemalige Geheimdienstoffizier Ben Ali (der unter anderem bei der CIA in den USA ausgebildet worden war), nahm Algerien als warnendes Beispiel und begann, systematisch die Opposition auszuschalten. Vor allem die "Nahda", deren Führer, Raschid Ghannouchi, ins britische Exil ging und erst am 30. Januar 2011 zurückkehrte.

Auch Ägypten litt zunächst unter den Gewalttaten der Afghanistan-Heimkehrer und ihrer Gesinnungsgenossen, auf deren Konto über die Jahre zahlreiche Terrorakte gingen wie der auf eine Touristengruppe in Luxor 1997, bei dem 68 Menschen umkamen. Die Sicherheitskräfte gingen massiv gegen Islamisten vor und schlossen dabei auch die ideologischen Ziehväter der Bewegung mit ein: Die "Muslimbrüder" wurden auf Dauer vom politischen Prozess ausgeschlossen und konnten sich glücklich schätzen, wenn "unabhängige" Kandidaten ihrer Couleur gewählt wurden – dann aber ohne jeden Einfluss blieben.

In Tunesien wie auch in Ägypten haben "Nahda" und "Muslimbrüder" inzwischen verstanden, dass die von anderen betriebene Revolution des "Arabischen Frühlings" ihre vielleicht letzte Chance ist, politisch an Einfluss zu gewinnen. Sie haben offenbar auch verstanden, dass radikale Forderungen der Vergangenheit nicht mehr in die heutige Zeit passen. So spricht man nicht mehr davon, die seit Mitte des 20. Jahrhundert entstandenen Nationalstaaten abzuschaffen und einen arabisch-muslimischen Groß-Staat anzustreben, sondern man beteiligt sich am Demokratisierungsprozess: Die Muslimbrüder stimmten dem Referendum zur Verfassung zu, sie haben eine eigene Partei ("Freiheit und Gerechtigkeit") gegründet und wollen mit dieser bei den Wahlen antreten. So, wie die "Nahda" ebenfalls bei den Wahlen im Herbst kandidieren will. Was die politisch-ideologische Ausrichtung beider Gruppen betrifft, so dürfte diese sich eher am Vorbild von Erdogans AKP in der Türkei orientieren. Man zeigt sich – bisher zumindest – sogar noch bescheidener: Beide betonen, im Grunde nur an einer "Machtbeteiligung" interessiert zu sein und auch keinen Präsidentschaftskandidaten aufstellen zu wollen.

In anderen Teilen der arabischen Welt spielen religiös motivierte und radikale islamistische Gruppen zwar auch eine Rolle, in keinem dieser Länder sind die Entwicklungen aber so weit vorangeschritten wie in Tunesien und Ägypten. Und wenn Prognosen für diese beiden Länder schon schwer genug sind, dann sind sie im Fall der anderen nahezu unmöglich: In Libyen gehören "Muslimbrüder" zu den Rebellen und eine islamistische Gruppe soll verantwortlich sein für die Ermordung des übergelaufenen ehemaligen Innenministers Younes, über eine künftige Machtverteilung ist aber jede Spekulation zu früh.

In Jordanien und in Marokko gehören islamistische Gruppen mit zur Protestbewegung, in beiden Fällen aber wird das Königshaus dabei weitgehend von der Kritik ausgespart. Anders in Bahrain: Dort geht der Protest von einer schiitischen Mehrheit aus und das sunnitische Königshaus fühlt sich dadurch bedroht. Was wiederum sunnitische Radikale auf den Plan ruft, die die Schiiten als Gottlose oder Abtrünnige verunglimpfen sowie als Werkzeug des Iran. Ein explosives Gemisch von Ressentiments und Gefühlen, das nur mit Mühe unter Kontrolle gehalten wird.

In Syrien allerdings ist dieser Sprengstoff gerade dabei, sich zu entladen, wenngleich wieder unter umgekehrten Vorzeichen: Hier ist es die schiitisch-alawitische Minderheit unter Führung des Assad-Clans, die – obwohl nur knapp 10 % der Bevölkerung – nicht von der Macht lassen will. In der syrischen Geschichte war es wiederholt zu – meist lokalen – Machtkämpfen zwischen Alawiten und der sunnitischen Mehrheit gekommen, unvergessen ist vielen aber: Hafez el Assad, der Vater des heutigen Präsidenten Bashar, hatte 1982 in der Stadt Hama ein Blutbad unter der dortigen Bevölkerung angerichtet, die sich angeblich an einem Aufstand der Muslimbrüder beteiligt hatte. Bis zu 30 000 Tote soll dieses Massaker gefordert haben. Die neuen Kämpfe sind noch weit davon entfernt. Aber es deutet sich immer klarer ab, dass Syrien unaufhaltsam auf ein Chaos zusteuert, in dem nicht mehr Bürgerprotest und staatliche Repression im Vordergrund stehen, sondern religiös verbrämter Radikalismus. Auf beiden Seiten.

Geb. 1944 in Wiesbaden, war zwischen 1968 und 1991 Nahostkorrespondent mit Basis in Jerusalem, u.a. für die Süddeutsche Zeitung und den Deutschlandfunk. Seit 1991 Redakteur beim Deutschlandfunk in Köln, später Leiter der Nah- und Mittelostabteilung, dann der Afrika/Nahostabteilung von Deutsche Welle Radio. Von 1998 bis zu seiner Pensionierung 2009 Chefkorrespondent und Nahostexperte von Deutsche Welle Radio.