Nur entfernt vergleichbar mit der Situation unter den Palästinensern ist die Entwicklung des Islamismus im Libanon. "Hisbollah" (die "Partei Gottes") ist eine schiitische Bewegung, die ihre Stärke daraus ableitet, dass die Schiiten mit rund 30 Prozent der Bevölkerung die größte muslimische Gruppe darstellen. Die traditionell arme Landbevölkerung ist vor allem im Südlibanon und in der Beqa-Tiefebene im Osten des Landes ansässig. Politisch haben die Schiiten lange keine Rolle gespielt. Diejenigen aber, die aus wirtschaftlicher Not nach Beirut gehen, radikalisieren sich langsam gegen die in jeder Hinsicht privilegierten Christen und Sunniten. Ende der 60er Jahre beginnen die Schiiten sich zu organisieren. Ihr Führer ist der aus dem Iran entsandte Mufti Moussa a-Sadr. 1974 gründet dieser "Amal" ("Hoffnung") – eine schiitische Miliz, die die Interessen der Schiiten wahrnehmen und schützen soll. Vier Jahre später verschwindet Sadr spurlos. Angeblich ist er auf dem Flug nach Libyen entführt und dort umgebracht worden, Beweise gibt es hierfür aber nicht. Aus "Amal" wird schrittweise eine politische Partei, die freilich unter der Führung von Nabih Berri ihrem Namen als Hoffnungsträger nicht mehr gerecht wird, auch nicht in den Jahren des libanesischen Bürgerkrieges, der 1975 ausbricht.
Als Israel im Juni 1982 im Libanon einmarschiert, ist die Geburtsstunde von "Hisbollah" gekommen: Auf Betreiben des Iran wird diese neue Miliz gegründet, die bei Baalbek in der Beqa-Ebene Ausbildungslager aufbaut und die vom Iran auf dem Weg über Syrien großzügig mit Waffen und Geld unterstützt wird. Die Ausbildung wird zumindest am Anfang von Angehörigen der iranischen "Revolutions-Garden" ("Pasdaran") betrieben. Aufgabe der "Partei Gottes" ist nicht nur der Schutz der schiitischen Bevölkerung, sondern auch aktiver Einsatz für die strategischen Ziele ihrer Geldgeber: Kein Jahr nach ihrer Gründung greifen "Hisbollah"-Selbstmord-Attentäter die US-Botschaft in Beirut (16 Tote) und Monate später das Hauptquartier der US-Marines am Flughafen an – hierbei kommen 241 Amerikaner um.
Andere blutige Anschläge folgen und "Hisbollah" begründet hieraus seinen Anspruch, die einzig wirklich ernst zu nehmende Widerstandsbewegung im Libanon zu sein. Besonders prekär wird die Lage an der libanesisch-israelischen Grenze: Hatte Israel einst die PLO von dort vertrieben, um nicht deren grenzüberschreitenden Überfällen ausgesetzt zu sein, so ist es nun zunehmend konfrontiert mit "Hisbollah", die sich aus der örtlichen Bevölkerung rekrutiert und der es angesichts der guten finanziellen Ausstattung durch ihre Sponsoren in Damaskus und Teheran nicht an Zulauf fehlt. Hisbollah weitet mit der Zeit ihr ideologisches Ziel aus, zumindest propagandistisch: Vom "Widerstand gegen fremde Besatzung" auf die "Befreiung Jerusalems".
Im Laufe der Jahre wird die Präsenz israelischer Truppen im Südlibanon (seit 1978) zusehends zur Bürde für Israel. Auch trotz der Unterstützung durch die israelisch ausgebildete und ausgerüstete "Südlibanesischen Armee" (SLA). Im Wahlkampf kündigt Ehud Barak 1999 an, die Truppen bis Juli 2000 abzuziehen und Ende Mai 2000 verließen die letzten israelischen Einheiten den Libanon. "Hisbollah" hat Israel die Präsenz dort erschwert, von einer "Vertreibung" kann aber keine Rede sein. Genau dies aber feiert "Hisbollah" bis heute und hat ihr Ansehen als Widerstandsgruppe dadurch weiter gefestigt.
Gleichzeitig hat der israelische Rückzug "Hisbollah" aber auch ihrer 'raison d´être' beraubt: Ohne Besatzung kein Widerstand. Man klammert sich deswegen daran, dass Israel noch die Kontrolle über die "Shebaa-Farmen" ausübt – Ländereien im syrisch-libanesischen Grenzgebiet, die selbst nach Ansicht der UNO zu Syrien gehören und nicht zum Libanon. "Hisbollah" braucht solche Rechtfertigung aus doppeltem Grund: Einmal, um die Fortsetzung der Unterstützung von außen zu garantieren, zum zweiten, um seine innenpolitische Stellung zu festigen: Man tritt längst als politische Partei auf und war wiederholt an Regierungen beteiligt.
Solange "Hisbollah" sich als Widerstandsgruppe präsentiert, kann sie der UN-Resolution 1559 von 2004 entgehen, nach der alle Milizen ihre Waffen aufgeben sollen. Ihre militärische Stärke lässt "Hisbollah" auch politisch übermütig werden: Nicht lange nach den Wahlen von 2005 verlässt die "Partei Gottes" die Regierungskoalition von Ministerpräsident Fuad Siniora und fordert für ihre Rückkehr eine – durch die Wahlen nicht gerechtfertigte – Beteiligung, die es ihr ermöglichen soll, die westlich orientierte Politik Sinioras zu blockieren. Siniora bleibt hart und für "Hisbollah" beginnt ein langes Ringen um die politische Rolle im Staat.
Bevor diese Frage geklärt wird, begeht "Hisbollah" im Frühsommer 2006 einen fatalen Fehler: An der Grenze zu Israel überfallen Anhänger der Bewegung eine israelische Patrouille, töten einige Soldaten und entführen zwei andere. Der Libanonkrieg von 2006 bricht aus. Eine offizielle israelische Untersuchungs-Kommission unter dem Vorsitz des ehemaligen Oberrichters Eliyahu Winograd bescheinigt der Regierung Olmert später, den Krieg überstürzt und mit mangelnder Umsicht und ohne klares Konzept begonnen und geführt zu haben. Über 1000 Libanesen kommen dabei um, die Schäden in allen Teilen des Landes belaufen sich in die Milliarden, das Hauptziel aber erreicht Israel nicht: Es gelingt ihm nicht, "Hisbollah" zu zerschlagen oder unschädlich zu machen.
Im Gegenteil: Waren zunächst viele Libanesen verärgert über die folgenschwere Provokation von "Hisbollah" an der israelischen Grenze, so schlägt mit wachsender Opferzahl und immer mehr Schäden durch die israelischen Angriffe die Stimmung um und die Stellung der "Hisbollah" festigt sich rasch – durch neue Waffenlieferungen und durch politische Vermittlung, die schließlich im Juli 2008 zur Rückkehr der "Hisbollah" in die Regierung Siniora führt.
Bei den Wahlen 2009 gewinnt die Gruppe um Saad Hariri – den Sohn des 2005 ermordeten früheren Premiers Rafiq Hariri – dieser versucht aber, "Hisbollah" zu beteiligen und scheitert nach zehn Wochen. "Hisbollah" will die libanesische Zustimmung zu einer Untersuchung des Hariri-Mordes vor einem UN-Gericht verhindern, weil ihr eine Mittäterschaft nachgesagt wird. Fuad Siniora kann erneut eine Regierung bilden, in der "Hisbollah" aber weitreichende Vetorechte eingeräumt werden.
Anderthalb Jahre später, im Frühjahr 2011, verlässt "Hisbollah" erneut die Koalition und zwingt die Regierung zum Rücktritt. Nur, um sich wenig später zusammen mit einigen Anhängern des Drusen Walid Junblat und denen des christlichen Expräsidenten Michel Aoun als größter Partner an der Regierung des Milliardärs Najib Mikati zu beteiligen.
Der Westen hat seine besonderen Probleme mit "Hisbollah": Von ihrer Ideologie und ihrem Verhalten nach entspricht die Organisation dem Muster einer Terrororganisation und wird von den USA, Kanada und Großbritannien auch als solche eingestuft. Die EU weigert sich hingegen, diesem Vorbild zu folgen. Washington unterhält zwar Kontakte mit der libanesischen Regierung, aber nicht mit Ministern der "Hisbollah". Die Europäer sind unentschlossener, es gab vereinzelte Kontakte mit "Hisbollah", aber keine Änderung der bisherigen Linie.