Zusammenfassung
Um Anhänger zu mobilisieren und ihre Handlungen zu rechtfertigen, beziehen sich religiöse Extremisten oft auf Schriftverse, die Gewalt gegen vermeintliche Glaubensfeinde legitimieren. Ob diese eine echte motivierende und mobilisierende Kraft besitzen, ist umstritten. In einem Umfrageexperiment unter 8.000 christlichen, muslimischen und jüdischen Gläubigen in sieben Ländern in Europa, Nordamerika, dem Nahen Osten und Afrika haben wir untersucht, ob gewaltlegitimierende Schriftverse die Unterstützung für religiöse Gewalt tatsächlich steigern können. Die Ergebnisse zeigen, dass, wenn Personen mit ähnlichen gewaltlegitimierenden Zitaten aus der Bibel, Thora oder dem Koran konfrontiert werden, sie religiöse Gewalt signifikant stärker unterstützen. Die Zustimmung für religiöse Gewalt steigt am deutlichsten unter Personen mit einer fundamentalistisch geprägten Glaubensauffassung. Die Erkenntnis, dass gewaltverherrlichende Schriftstellen eine bedeutsame Rolle bei der Gewaltunterstützung zukommt, sollte zu einem Umdenken in der Deradikalisierungs- und Präventionsarbeit führen, in der religiöse Ursachen und Motivationen bisher unterbelichtet geblieben sind.
Einführung
Der 11. September 2001 war der Anfang einer Terrorwelle, wie die Welt sie bisher noch nie gesehen hatte. In den zwanzig Jahren seit den Anschlägen auf die Twin Towers und das Pentagon kamen bei weltweit über 90.000 Terroranschlägen mehr als 180.000 Zivilisten ums Leben. Die tödlichsten Terrorgruppen dieser Welle gehören zur Kategorie des islamistischen Extremismus, darunter Al-Qaida und der sogenannte Islamische Staat, die Taliban, Al Shabaab und Boko Haram. Angriffe von christlichen Extremisten, wie der ugandischen Lord's Resistance Army, forderten auch Opfer. Viele der tödlichen Terroranschläge in Westeuropa wurden ebenfalls im Namen der Religion verübt. Tausende von jungen Menschen sind außerdem aus Europa nach Syrien, in den Irak und in geringerer Zahl nach Afghanistan, Pakistan, Tschetschenien und Somalia gereist, um sich islamistischen Terrorgruppen anzuschließen.
Doch was ist genau religiös an religiös motivierter Gewalt? Diese scheinbar einfache Frage ist von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung wirksamer Gegenstrategien, aber die Antwort ist umstritten. Fest steht, dass religiöse Extremisten sagen, dass sie sich aus religiösen Quellen haben inspirieren lassen und dass sie bei ihren Versuchen, Anhänger zu mobilisieren, häufig aus religiösen Schriften zitieren. Der jüdische religiöse Extremist und Mörder des israelischen Premierministers Yitzhak Rabin, Yigal Amir, sagte zum Beispiel in seiner Prozesserklärung, dass er sich von der biblischen Geschichte von Jael inspirieren ließ, die den philistischen Kriegsherrn Sisera tötete (Peri 2000). Amerikanische christliche Extremisten, die Abtreibungskliniken oder FBI-Gebäude angriffen, beriefen sich häufig auf den Priester Phineas, der tötete, um unmoralische Handlungen zu verhindern (Pratt 2010). In der „Dschihad-Erklärung an die Amerikaner, die das Land der zwei heiligen Stätten besetzen“, die im August 1996 von Al-Qaida veröffentlicht wurde, zitierte Osama Bin Laden zahlreiche Verse aus islamischen Schriften, darunter diese: „Und wenn die verbotenen Monate verflossen sind, dann tötet die Götzendiener, wo ihr sie trefft, und ergreift sie, und belagert sie, und lauert ihnen auf in jedem Hinterhalt“ [Al Tawbah: 5].
Viele Wissenschaftler stehen der Vorstellung, dass religiöse Motivationen eine kausale Rolle bei der Erklärung religiöser Gewalt spielen können, skeptisch gegenüber. Vielmehr verweisen sie auf wirtschaftliche Missstände, politische Marginalisierung oder psychologische Traumata als herausragende Determinanten (siehe z.B., Gurr 2006, Mousseau 2011; Piazza 2011, Pargeter 2009, della Porta 2013, Speckhard und Ahkmedova 2006). Bisher sind vor allem Religionssoziologen eher bereit gewesen, religiöse Ideologien, insbesondere in ihrer fundamentalistischen Auslegung, als eine Hauptmotivationskraft zu betrachten (z.B. Bruce 2000). Diese Debatte ist mit Daten aus biografischen Interviews oder Bevölkerungsumfragen schwer zu lösen, da es schwierig ist, tatsächliche Motivationen von den nachträglichen Rechtfertigungen zu unterscheiden (Dawson 2019: 78). Experimentelle Studien sind besser geeignet, einen kausalen Zusammenhang zu belegen. So haben Bushman et al. (2007) gezeigt, dass Christen, die biblischen Darstellungen von Gewalt ausgesetzt sind, mit höherer Wahrscheinlichkeit aggressives Verhalten zeigen. Unsere Studie ist nach unserem Kenntnisstand die erste, die diese experimentelle Herangehensweise sowohl auf alle drei abrahamitischen Religionen als auch auf einer breiten internationalen Datengrundlage anwendet und somit belastbare Aussagen über den Einfluss von gewaltlegitimierenden Schriftversen auf die Unterstützung von Gewalt erlaubt. Außerdem fragen wir, ob Anhänger der drei monotheistischen Religionen ähnlich auf Gewaltaufrufe aus den heiligen Schriften reagieren, und ob sich deren Wirkung nach dem Glaubenswissen und der Glaubensauslegung der Befragten unterscheidet.
Der Idee folgend, dass Gewalt dem wahren Wesen der Religion widerspricht, wird öfter behauptet, dass Gewalttäter und -befürworter vor allem unter denjenigen zu finden sind, die weniger Kenntnisse über den Inhalt der heiligen Schriften haben (z. B. Wiktorowicz 2005; Neo et al. 2017). Empirische Belege zu dieser Frage sind selten, meist nicht-experimentell und unschlüssig. Fair, Goldstein und Hamza (2017) untersuchten die Rolle des Wissens über den Islam – gemessen anhand von Sachfragen zu religiösen Schriften und Lehren, die eindeutig zu beantworten sind – unter pakistanischen Muslimen und fanden heraus, dass mehr Wissen, wenn auch nicht sehr stark, mit einer geringeren Unterstützung für verschiedene islamistische militante Gruppen zusammenhing. Auf der Grundlage von Tiefeninterviews und Langzeitbeobachtungen von IS-Aktivisten zeigt Wood (2019) jedoch, dass diese häufig über detaillierte Kenntnisse des Korans und anderer religiöser Quellentexte verfügen, die sie zur Legitimation ihrer apokalyptischen Version des Islamismus nutzen. Indem wir die Rolle von religiösem Wissen über verschiedene religiöse Gruppen und Kontexte hinweg untersuchen, wollen wir belastbarere Evidenz zu der Frage liefern, ob Gläubige, die mehr über den Inhalt der Schriften wissen, eher mehr oder weniger von gewaltlegitimierenden Mobilisierungsversuchen beeinflusst werden.
Religiös-fundamentalistische Einstellungen werden häufig als ein wichtiger Erklärungsfaktor für extremistische Gewalt betrachtet, aber empirische Belege sind auch hier rar. Die bisherige Forschung hat sich hauptsächlich auf den christlichen Fundamentalismus konzentriert und festgestellt, dass dieser stark mit negativen Einstellungen gegenüber anderen Gruppen wie Homosexuellen (z.B. Laythe et al. 2002), Anhängern anderer Religionen (z.B. Glock & Stark 1966; Altermeyer 2003) oder ethnischen Minderheiten (z.B. Eisinga, König & Scheepers 1995) verbunden ist. Eine kleinere Anzahl von Studien hat diesen Zusammenhang auch unter Muslimen festgestellt (z.B. Hunsberger, Owusu & Duck 1999; Koopmans 2015). Zum Zusammenhang zwischen Fundamentalismus und Gewaltbefürwortung fehlen aber rigorose empirische Untersuchungen. Es scheint jedoch plausibel, dass die feindseligen Einstellungen gegenüber Anderslebenden und Andersgläubigen, die stark mit Fundamentalismus assoziiert sind, die Hemmschwelle zur Unterstützung von Gewalt gegen jene Menschen senken. Außerdem ist eines der definierenden Merkmale des Fundamentalismus der Glaube an die wörtliche Auslegung der Schrift (Altemeyer und Hunsberger 1992: 118). Wir erwarten daher, dass religiöse Fundamentalisten besonders anfällig für Mobilisierungsversuche sind, die biblische oder koranische Legitimationen für die Anwendung von Gewalt hervorheben.
Forschungsstrategie und -daten
Um die Rolle gewaltlegitimierender Schriftverse zu untersuchen, haben wir ein Umfrageexperiment unter gut 8.000 christlichen, muslimischen und jüdischen Befragten in sieben Ländern – den Vereinigten Staaten, Deutschland, Zypern, Libanon, Israel, Palästina und Kenia – durchgeführt. Die Religionszugehörigkeit der Befragten wurde anhand der Frage „Welcher Religion gehören Sie an?" ermittelt. Am Ende der Umfrage wurden die Befragten nach dem Zufallsprinzip einer Experimental- oder einer Kontrollbedingung zugewiesen. Die Befragten in der Experimentalgruppe wurden mit einem gewaltlegitimierenden Schriftzitat konfrontiert. Dieses Zitat basierte auf zwei ähnlichen Versen, die in der Bibel und dem Thora-Buch Deuteronomium (Vers 17: 2-5) und im Koran Sure 5, Al Mai'dah (Vers 33) zu finden sind. Das Zitat lautet folgendermaßen: „Laut dem [für christliche Befragte: Bibel Buch Deuteronomium / für jüdische Befragte: Thora Buch Deuteronomium / für muslimische Befragte: Koran, Sure 5, Al Ma'idah] sollten diejenigen, die in den Augen Gottes Unheil stiften und Böses tun, getötet werden“. In der Kontrollgruppe wurden die Befragten nicht auf eine Schriftquelle hingewiesen. Sowohl in der Experimental- als in der Kontrollgruppe wurde dann gefragt: „Was denken Sie persönlich? Sollten Menschen, die in den Augen Gottes Unheil stiften und Böses tun, getötet werden?“ Die Antwortmöglichkeiten reichten auf einer 5-Punkte-Likert-Skala von „stimme überhaupt nicht zu“ bis „stimme voll zu“. Durch den Vergleich der Ergebnisse in den Experimental- und Kontrollgruppen testen wir, ob der Verweis auf eine gewaltlegitimierende Schriftstelle die Unterstützung der Befragten für die Anwendung von religiöser Gewalt erhöht.
Das religiöse Wissen wird anhand der Anzahl der richtigen Antworten auf drei Multiple-Choice-Fragen zum Inhalt von Bibel, Thora und Koran gemessen, die eindeutige richtige Antworten haben. Eine davon, der Name des Sohnes, den Gott Abraham zu opfern aufforderte, war allen drei Religionen gemeinsam; die beiden anderen Fragen waren religionsspezifisch. Zum Beispiel fragten wir Christen, was an Pfingsten geschah, und Muslime, wo der Mi'raj (Mohammeds Aufstieg in den Himmel) stattfand. Religiöser Fundamentalismus messen wir anhand einer Skala, die sich aus acht bewährten Fragen zusammensetzt. Darunter sind Fragen über die wörtliche Auslegung der heiligen Schriften, die Überlegenheit des eigenen Glaubens und der Vorrang religiöser Vorschriften vor säkularen Gesetzen. Es ist wichtig zu beachten, dass die Anwendung von Gewalt als Mittel zur Erreichung religiöser Ziele weder in der Definition von Fundamentalismus noch in den Items, mit denen er gemessen wird, enthalten ist.