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Radikalisierung und Prävention bei Flüchtlingen

Marwan Abou-Taam

/ 14 Minuten zu lesen

Eine wirkungsvolle Prävention kann nur gemeinsam mit der Zivilgesellschaft gelingen – unter Einbindung von Muslimen, sagt Dr. Marwan Abou-Taam. Der wissenschaftliche Mitarbeiter des Landeskriminalsamts Rheinland-Pfalz skizziert Ursachen für eine Radikalisierung von Flüchtlingen sowie die Bedeutung und Formen von Präventionsmaßnahmen.

Die Islamische Gemeinschaft in Berlin – Al-Nur-Moschee e.V. (IGB) wird von Verfassungsschutz Berlin dem islamistischen Terrorismus zugeordnet. Auch sie wirbt um Flüchtlinge. Kontaktdaten wurden auf diesem Bild unkenntlich gemacht. (© picture-alliance/dpa, picture alliance / Arco Images GmbH)

Bei der Debatte über die Frage der religiösen Radikalisierung von Flüchtlingen sind vorab zwei Aspekte festzustellen: Erstens ist die Auseinandersetzung stark von einer "Bauchempirie" geleitet; es fehlen belastbare Studien, sodass über die Zusammenhänge größtenteils nur Mutmaßungen und Verallgemeinerungen von Einzelfällen vorherrschen, die mit größter Vorsicht betrachtet werden müssen. Zweitens wird die Debatte stark und einseitig vom gesellschaftspolitischen Standpunkt der jeweiligen Akteure geprägt.

Menschen migrieren seit jeher, aber im 21. Jahrhundert überqueren sie in noch nie da gewesener Anzahl die Grenzen ihrer Heimatländer. So wirken in den Herkunftsländern verheerende sozioökonomischen Bedingungen und die teilweise damit zusammenhängenden Bürgerkriege als Push-Faktoren. Ethnische Spannungen, politische Verfolgung, existenzbedrohende Umweltschäden und zunehmende Ressourcenverknappung ergänzen diese Push-Faktoren und festigen die Bereitschaft zur Auswanderung.

Im Rahmen der Migration bilden sich neue soziale Räume, sodass "transnational communities" (nationenübergreifende Gemeinschaften) mit spezifischen transnational-sozialen Lebensstilen und Institutionen entstehen. Mit den Flüchtlingen werden auch politische Bewegungen und Ideologien importiert, die in den Gastländern ihre Logistik aufbauen können oder bereits vorhandene Strukturen stärken.

Generell pflegen Menschen außerhalb ihrer Heimatstaaten weiterhin ihre kulturelle Identität, so zum Beispiel ihre Religion, Sprache, aber auch Konflikt- und Konfliktlösungsmuster. Somit entwickelt sich als Folge der Migration ein System komplexer Zusammenhänge, Netzwerke und Verflechtungen. Gelingt die Integration nicht, so agieren Migranten hauptsächlich in ihrem eigenen sozialen Umfeld und partizipieren nur gering an der politischen Kultur der Aufnahmegesellschaft. Die damit entstehenden "diasporic public spheres" (diasporischen Öffentlichkeiten) verhindern die Einbindung in das bestehende kulturelle und gesellschaftliche System. Hierbei können regelrechte Kulturkonflikte entstehen, die eine verstärkte Abwendung von der Aufnahmegesellschaft nach sich ziehen. Dort wo die Integration nicht gelingt, könnten Neuankömmlinge entlang weltanschaulicher Bruchlinien radikalisiert werden.

Radikalisierung und Migration

Obwohl Radikalisierung ein individueller Prozess ist, lassen sich zumindest bei den Fällen von Radikalisierten in Deutschland Ähnlichkeiten in der Biographie feststellen:

  • Es handelt sich oft um Jugendliche mit Identitätsstörungen auf der Suche nach starken Gruppenerlebnissen und Lebenssinn. Im Kontext der Radikalisierung wird oft mit dem bisherigen sozialen Umfeld gebrochen.

  • Die Loslösung von der Familie und dem bisherigen Freundeskreis findet parallel zur Einbindung in eine salafistische Gruppe statt.

Radikalisierung im Zusammenhang mit Migration ist kein neues Phänomen. Bereits in der Vergangenheit wurde das Thema innerhalb der Gesellschaft, in Politik und Wissenschaft diskutiert. Unter dem Titel "The Global Migration Crisis" hat Myron Weiner bereits 1995 argumentiert, dass Migration die Aufnahmegesellschaften nicht nur bereichere, sondern auch mit Sicherheitsrisiken verbunden sei. Neben der ökonomischen und demographischen Bedeutung der Migration sind also auch sicherheitspolitische Aspekte zu bedenken. Um seine These zu veranschaulichen, führt Myron Weiner eine Fülle von Beispielen an, in denen Zuwanderer "terroristische Attacken in den Gastländern ausgeführt, illegal Waffen geschmuggelt (...), sich gegen die Politik des Gastlandes zusammengeschlossen haben sowie in Drogenhandel verwickelt waren". In ihrer empirischen Studie haben El-Cherkeh et al. zeigen können, dass auch im Bereich der organisierten Kriminalität sicherheitspolitische Momente zu bedenken sind. Die zitierten Studien sind allerdings älteren Datums, produzieren allgemeine Aussagen und beziehen sich nicht auf die aktuelle Situation in Deutschland: Auch wenn einige prominente Fälle mediale Berühmtheit erlangt haben, existieren derzeit keine wissenschaftlich belegten Analysen, die ein kriminelles bzw. terroristisches Verhalten allein auf den Flüchtlingsstatus einer Person zurückführen können. Hierbei ist festzustellen, dass nach wie vor eine deutliche Forschungslücke im Zusammenhang mit dem Themenkomplex "Flüchtlinge und Radikalisierung" besteht. Diese Forschungslücke hinsichtlich der Problem- bzw. Ursachenbeschreibung zieht zwangsläufig weitere Forschungslücken bei Präventionsmaßnahmen nach sich.

Terroranschläge von Flüchtlingen

Nicht zuletzt die von Flüchtlingen versuchten und tatsächlich durchgeführten Terroranschläge in Deutschland führten zunehmend zu einer Polarisierung der Auseinandersetzung mit dem Thema "Religiös motivierter Radikalisierung unter Geflüchteten". Die Täter waren radikalisierte Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan, die mit der Terrormiliz IS in Kontakt standen oder zumindest sympathisierten. Zunächst kann man feststellen, dass vier Terroranschläge in Deutschland auf das Konto von Flüchtlingen gingen:

  • Am 18. Juli 2016 attackierte ein minderjähriger Asylsuchender in einem Regionalzug zwischen Treuchtlingen und Würzburg Mitreisende mit einem Beil.

  • Am 24. Juli 2016 zündete ein syrischer Asylsuchender in Ansbach beim Eingang zu einem Musikfestival eine Bombe, durch die 15 Personen verletzt wurden. In einem Video bekannte sich der Täter zum IS.

  • Am 19. Dezember 2016 fuhr der Tunesier Anis Amri einen Lkw in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz. Bei dem Anschlag wurden zwölf Personen getötet und mehr als 50 zum Teil schwer verletzt.

  • Am 28. Juli 2017 stach ein 26-jähriger Asylbewerber in einem Supermarkt im Stadtteil Barmbek-Nord auf Kunden ein. Er tötete einen 50-Jährigen und verletzte fünf weitere.

Die Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass einige Dschihadisten mit Anschlagsabsichten als Flüchtlinge getarnt eingeschleust worden. Jedoch ist bis heute noch nicht abschließend geklärt, inwiefern die obengenannten Attentäter in Deutschland radikalisiert worden sind, oder ob sie bereits radikal waren und im Auftrag des IS gehandelt haben. Grundsätzlich sind Flüchtlinge Rahmenbedingungen ausgesetzt, die einen Prozess der Radikalisierung durchaus begünstigen können.

Ursachen für eine Radikalisierung

Aktive Kontaktaufnahme durch Salafisten


Salafisten bemühen sich, Kontakt zu Geflüchteten aufzunehmen. So versuchen Salafisten unter dem Deckmantel der humanitären Hilfe Zugang zu Flüchtlingsunterkünften zu erhalten. Besonders unbegleitete minderjährige Flüchtlinge stehen im Fokus salafistischer Prediger. So hat z. B. der Salafist Pierre Vogel einen Leitfaden für den Umgang mit Flüchtlingen erstellt. Vom gemeinsamen Gebet bis zur sozialen Betreuung werden verschiedene Möglichkeiten der Kontaktaufnahme vorgestellt, mit dem Ziel, möglichst viele "Suchende" zu erreichen. Es gibt allerdings kaum Hinweise darauf, dass Islamisten Erfolg hätten mit ihren Annäherungsversuchen. Daher wird von vielen angezweifelt, ob die Strategie der Salafisten erfolgreich sei; andere sehen darin jedoch eine große sicherheitspolitische Gefahr. Belastbare wissenschaftliche Daten existieren derzeit nicht.

Flüchtlinge können anfällig sein


Flüchtlinge können aufgrund ihrer persönlichen Situation anfällig für religiöse Ansprache sein.

  • Sie müssen sich in Deutschland unter schwierigen Rahmenbedingungen neu orientieren (u. a. Sprache, Arbeit, Wohnung und soziales Umfeld) und gleichzeitig durchleben sie durch die modernen Mittel der Kommunikation die Konflikte ihrer Herkunftsgesellschaft, wo sie sehr oft enge Familienmitglieder zurückgelassen haben.

  • Auch die Anfeindungen, die sie durch die Polarisierung erfahren (z. B. Rechtspopulismus), kann durchaus eine Abkapselung hervorrufen, die einen Prozess der Radikalisierungen begünstigen kann.

  • Somit sind manche Flüchtlinge aufgrund bestimmter Faktoren besonders verletzlich.

Neben den obengenannten Rahmenbedingungen und individuellen Dispositionen neigen manche Flüchtlinge aufgrund von Identitätskrisen sowie dysfunktionalen (abträglichen) Familienstrukturen und autoritären Erziehungsstilen zu menschenfeindlichen und antidemokratischen Haltungen und Einstellungen. Die folgenden Faktoren könnte die Hinwendung zu gewaltorientierten islamistischen Strömungen begünstigen:

  • Konflikte im Herkunftsland,

  • Fluchterfahrungen bis hin zu Fluchttraumata,

  • ausgrenzende Debatten und benachteiligende Strukturen in der hiesigen Gesellschaft, die von radikalen Gruppen ideologisch instrumentalisiert werden.

  • Hinzu kommt, dass sie ihre Lebenssituation aufgrund möglicher empfundener Diskriminierung und Ablehnung seitens der deutschen Mehrheitsgesellschaft als perspektiv- und chancenlos bewerten.

  • Insbesondere bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen könnte sich dadurch ein Gefühl von Frustration und Wut durchsetzen.

Radikale Gruppen profitieren von dieser Sinnkrise: Den Betroffenen verheißen sie die Möglichkeit, die eigene Identität zu finden und sich in eine soziale Gruppe einzugliedern, die ihnen eine feste Rolle zuordnet, in die sie sich einbringen können.

Verschiedene Typen radikalisierter Muslime

Das Spektrum radikaler Muslime umfasst verschiedene Gruppierungen:

  • Bereits vor ihrer Einwanderung nach Deutschland radikalisierte Muslime;

  • Muslime, die emotional mit ihren Herkunftsgesellschaften verbunden sind und auf Aktionen und Ereignisse reagieren, die sie als gegen den Islam gerichtet wahrnehmen;

  • Jugendliche, die den Islamismus als Jugendprotestkultur annehmen.

Letztgenannte Gruppe stellt eine besondere Herausforderung dar. Es sind gleichermaßen in Deutschland geborene muslimische Jugendliche und Konvertiten betroffen. Deutsche Sicherheitsbehörden beschreiben den Salafismus als die am schnellsten wachsende Strömung innerhalb des islamistischen Spektrums. Salafistische Protagonisten richten ihre Propaganda gezielt an junge Muslime, auch Flüchtlinge, sowie potenzielle Konvertiten. Obwohl die Lehre des Salafismus puritanisch (sittenstreng) ist, findet sie zunehmenden Zuspruch in dieser Zielgruppe. Derzeit wird die Gruppe der Salafisten mit etwa 11.000 beziffert. Hierbei kann die salafistische Radikalisierung verschiedene Formen annehmen und unterschiedliche Ursachen haben. Die Aktionsfelder reichen von der Missionierung über die salafistische Unterweisung bis hin zur Teilnahme am militanten Dschihad. Dabei profitiert der Salafismus von einer Integrationsdebatte, die sich auf den Islam verengt und die Beziehung zu den Muslimen "versicherheitlicht".

Islamfeindliches Klima begünstigt Radikalisierung

Der salafistische Terror weltweit begünstigte gleichzeitig ein islamfeindliches Klima. Wilhelm Heitmeyer konstatierte schon 2010 in der Studie "Deutsche Zustände" hierzu: "Islamfeindlichkeit ist konsensfähig, auch bei jenen, bei denen es bisher nicht zu erwarten war." Die auf diese Weise verstärkten Identitätskrisen bringen Jugendliche dazu, in eine "negative Identität" zu flüchten, sodass das Gefühl sozialer Minderwertigkeit zu einem negativen Selbstbild verinnerlicht wird. Von diesem Mechanismus sind Geflüchtete besonders betroffen, da sie oft als Projektionsfläche für gesellschaftliche Debatten dienen müssen. Die Reaktion darauf kann unter bestimmten Voraussetzungen radikal sein. Dabei gibt es verschiedene, sehr oft biografische Ursachen für Radikalisierung. Hierbei spielen verschiedene Dimensioneneine Rolle:

  • Ideologische Dimension des Radikalisierungsprozesses

  • Politische Dimension des Radikalisierungsprozesses

  • Psychologische Dimension des Radikalisierungsprozesses

  • Soziologische Dimensionen des Radikalisierungsprozesses

Die Bedeutung von Prävention in der Abwendung von Radikalisierung

Konzepte der Prävention beruhen unmittelbar auf Vorstellungen über die Entstehung von Radikalisierung. Dabei ist Prävention wichtig und notwendig, um das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung und deren Vertrauen in die staatlichen Institutionen zu stärken. Durch Sensibilisierung und Aufklärung und dem damit verbundenen Vertrauenszugewinn kann durch die Prävention das Anzeigeverhalten gestärkt werden. Ferner ist gesamtgesellschaftliche Prävention langfristig gesehen günstiger als Strafverfolgung und die damit verbundene staatliche Nachsorge.

Abgestimmte Präventionsprojekte


Will man die Schutzfaktoren stärken und damit die vorhandenen Risikofaktoren als zentrale Ursache an der Entstehung von Radikalität eindämmen, ist es absolut notwendig, die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung zu erheben und durch strategische Intervention zu unterbrechen. Daher ist es für die Prävention unerlässlich, die Situation zu eruieren und entsprechende Präventionsprojekte wohlüberlegt auf die jeweilige Zielgruppe abzustimmen. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass das Themenfeld "Radikalisierung" zahlreiche Problemfelder berührt, wie z. B. Schleusung, Menschenhandel, sexuelle Gewalt durch bzw. zum Nachteil von Zuwanderern, sexuelle Übergriffe in Flüchtlingsunterkünften, Delikte zum Nachteil von Minderheiten, Jugendkriminalität, Radikalisierung, Gewalt in engen sozialen Beziehungen (GesB), Beschaffungskriminalität etc.

Präventionsmöglichkeiten

Die Unterstützung der gleichberechtigten Teilhabe von Flüchtlingen und die damit verbundene Stärkung ihrer Beteiligung am gesellschaftlichen und politischen Leben sind wichtige Beiträge zum gesellschaftlichen Frieden. Hierbei wird Teilhabe nicht allein durch Recht und Politik gewährleistet, vielmehr basiert sie auf gesellschaftliche Ressourcen der Selbstorganisation und Solidarität. Dem gegenüber führt die Marginalisierung von bestimmten Gruppen zu gesellschaftlichen Reibungen und Schuldzuweisungen, die von Populisten dankend aufgegriffen werden.

In die Sprache der Gesellschaftswissenschaften übertragen bedeutet Prävention das rechtzeitige Erkennen von Fehlentwicklungen und das Verhindern von gesellschaftlichen Missständen vor ihrer Eskalation. Dabei gilt es sowohl an Strukturen als auch an Werteorientierung/-vermittlung zu arbeiten. Hierbei ergänzen sich frühpräventives Handeln und kriminalpräventive Strategien konsequent. Die Erhaltung und Stärkung der Rechtstreue und des Vertrauens der Bevölkerung in die Rechtsordnung bei gleichzeitiger Abschreckung durch Strafandrohung, Strafverfolgung und Bestrafung liefern strategische Instrumente, wobei ersteres hauptsächlich durch die kommunale Arbeit erfolgen kann.

Kommunale Träger sind gefordert

Kommunale Träger können präventiv aktiv werden durch das Setzen von Regeln, aber auch durch sozial-kognitive Programme, die darauf abzielen, das Verhalten potentiell gefährdeter Gruppen zu beeinflussen. Die Förderung der sozialen Verantwortlichkeitserziehung steht im Zentrum einer kommunalen Präventionsstrategie, die von unterschiedlichen Akteuren getragen wird. Soziale Dienste, Schulen, Polizei, Jugendämter und kommunale Verwaltung sollen ein Netzwerk darstellen.

Jedoch macht ein Blick in die Akteursebene kommunaler Präventionsarbeit deutlich, dass hier massive Nachhaltigkeits- und Koordinationsprobleme existieren. Auch hinsichtlich gewählter Methoden ließen sich einige Defizite aufzeigen. Umso deutlicher ist die Notwendigkeit, die Kräfte zu bündeln und entsprechende Synergieeffekte durch fortlaufende Analysen der lokalen Problemlagen und Interventionschancen zu ermöglichen. Mittelfristig wird durch ein abgestimmtes ressortübergreifendes Vorgehen die Nachhaltigkeit und die Effizienz im Sinne eines schonenden Umgang mit Ressourcen gesteigert.

Prävention gilt hierbei als Aufgabe aller beteiligten Akteure mit Zugang zur Zielgruppe, jedoch wird im Detail unterschieden zwischen der klassischen Präventionsarbeit durch Beobachten, Überwachen, Abschrecken, Kontrollieren und Ermitteln, und der umfassenden Präventionsarbeit, durch Aufklären, Beraten, Informieren, Koordinieren und Sensibilisieren.

Bei einer sich ändernden Zusammensetzung der Gesellschaft erhält Prävention eine neue Dimension: Integration. Erst eine in sich integrierte Gemeinde generiert das notwendige solidarische Verhalten der einzelnen Mitglieder, das für eine demokratische und gleichermaßen soziale Gesellschaft notwendig ist. In diesem Sinne ist eine koordinierte, frühzeitig einsetzende Integrationspolitik auf der kommunalen Ebene die effektivste denkbare Präventionsstrategie. Den Kommunen kommt also eine wichtige Aufgabe zu, denn vor Ort lassen sich umfassende frühpräventive Strategien am besten koordinieren und in die Praxis umsetzen.

Nachhaltige Strategie zur Prävention von Radikalisierung Geflüchteter

Aus den bisherigen Ausführungen lässt sich ableiten, dass Prävention keine reine polizeiliche Aufgabe sein kann. Vielmehr handelt es sich hierbei um eine Querschnittsaufgabe, die mehrere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens berührt. Verschiedene Träger aus Politik, Verwaltung und Gesellschaft müssen gemeinsam diese Aufgabe bewältigen, indem sie sich untereinander vernetzen und ihre jeweiligen originären Tätigkeitsbereiche dahingehend überprüfen, ob und wie sie Handlungsfelder erkennen und Präventionsmaßnahmen implementieren können.

Eine nachhaltige Präventionsstrategie umfasst folgende drei Schwerpunkte:

Schwerpunkt 1: Bildung und Konzepte

  • fortwährende Analyse und Definition von Prioritäten aufgrund von Ressourcenknappheit

  • Hilfestellung für Integrationspolitik bzw. sozialpolitische Maßnahmen mit besonderer Berücksichtigung der Jugendarbeit

  • Vermittlung von Grundwerten: Menschenrechte, Demokratie, Gleichberechtigung (Schulen, Einrichtungen der politischen Bildung, Sozialarbeit, Jugendarbeit, Integrationsprojekte, etc.)

  • Bereitstellung von Informationen/Broschüren für Lehrkräfte, Polizisten, Sozialarbeiter, Erzieher, Eltern, politische Entscheidungsträger und Betroffene. Die Polizei kann bei der Erstellung des Materials mitwirken und beraten

  • Gesonderte Maßnahmen für Schwerpunktdelikte/Schwerpunkträume durch die Erstellung von Gewaltschutzkonzepten

  • Beratungsangebot für Betroffene und ihre Angehörigen, durch die Erweiterung bestehender auf die Bedürfnisse der Gruppe der Geflüchteten.

Schwerpunkt 2: Verstärkte Vernetzung mit Partnern

Die Beziehung zwischen den Kooperationspartnern soll gestärkt werden. Als Herausforderung bei der Fortführung der Maßnahmen gilt es, vor dem Hintergrund der Schließung zahlreicher Aufnahmeeinrichtungen und der dezentralen Verteilung der Flüchtlinge auf die Kommunen, neue Zugangswege zur Zielgruppe zu finden.

  • Auf Landesebene müssen ressortübergreifende Abstimmungen stattfinden. Relevante Akteure (Kommunalverwaltung, Sozialdienste, Integrationsagenturen etc.) sollten dabei in Kooperation wirken.

  • Potenzielle Partner auf kommunaler Ebene finden und sie für gemeinsame Projekte gewinnen. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass die Integrationsarbeit nicht versicherheitlicht wird.

  • Die Umsetzung von Präventionsprojekten für Zuwanderer erfordert in bestimmten Fällen die Einbeziehung von Migranten-Selbstorganisationen und religiösen Vertretungen.

Schwerpunkt 3: Stärkung der institutionellen Kapazitäten

Zu stärken sind die diesbezüglichen die internen Kapazitäten, Instrumente und Methoden der Prävention. Die Vernetzungsarbeit ist außerdem sehr ressourcenintensiv. Eine ausreichende Personal- und Finanzmittelausstattung ist daher notwendig:

  • Erstellen/Aktualisierung eines Nachschlagewerks / Überblick über bestehende Maßnahmen (auch nichtpolizeiliche)

  • Einrichten einer ressortübergreifenden Koordinationsstelle

  • Stärkung der institutionellen Kapazitäten durch Aus- und Fortbildung

  • Institutionalisierung von Dialog-Foren zur Vorbeugung von Radikalisierung (Bürgerforen, Kriminalpräventive Räte)

  • Austausch mit anderen Kommunen.

Angesichts der Komplexität der Radikalisierungsursachen muss immer bedacht werden, dass Prävention nur ein Teil einer Strategie sein kann. Trotz Prävention wird es weiterhin Radikalisierung geben. Wer anderes erwartet, wird enttäuscht und entmutigt. Einerseits muss durch Prävention verhindert werden, dass sich Menschen radikalisieren und die freie und offene Gesellschaft zum Feind erklären. Daher müssen Demokratie, Toleranz und Respekt nachhaltig gefördert werden, anderseits muss Extremismus frühzeitig mit allen Mitteln des Rechtstaates bekämpft werden. Erst eine wehrhafte Demokratie und ein starker gesellschaftlicher Zusammenhalt schaffen soziale und öffentliche Sicherheit.

Eine sachgerechte Präventionsarbeit muss daher ebenfalls den Bereich der Primär-Prävention umfassen und für ein demokratisches Miteinander werben. Primärpräventive Maßnahmen müssen vor dem Eintreten eines unerwünschten Zustands und somit "im Vorfeld" problematischer Entwicklungen zum Einsatz.

Dazu gehört auch, den Flüchtlingen die Funktionalität und die tragende normative Ordnung in Deutschland zu verdeutlichen. Dort, wo Radikalisierung feststellbar ist, muss eine Intervention stattfinden, die auf den existierenden Deradikalisierungsstrukturen basiert. Maßnahmen, die darauf abzielen, junge Menschen für die Demokratie, Toleranz, Respekt gegenüber Andersdenkenden und für einen gewaltlosen Umgang mit Konflikten zu gewinnen, stärken das friedliche Zusammenleben. Allen Menschen in Deutschland muss klar sein, dass unsere Gesellschaft einen ausreichenden Rahmen für die Selbstentfaltung bietet. Eine wirkungsvolle Prävention kann nur gemeinsam mit der Zivilgesellschaft gelingen - unter Einbindung von Muslimen.

Fussnoten

Fußnoten

  1. Straubhaar, T., (2001): Internationale Migration. Wieso gehen wenige und bleiben die meisten? In: Franz, Wolfgang/ Hesse, Helmut, et al. (Hrsg.): Wirtschaftspolitische Herausforderungen an der Jahrhundertwende, Mohr Siebeck (Tübingen), S. 113-141.

  2. Vgl. hierzu die Veröffentlichung des Chairman of National Intelligence Council John C. Gannon (2001): Growing Global Migration and Its Implications for the United States, NIE 2001-02D, März 2001, S. 13.

  3. Wöhlcke, Manfred (2001): Grenzüberschreitende Migration als Gegenstand internationaler Politik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B43/2001, S. 31.

  4. Vgl. Porsché, Yannik (2008)Kulturelle Identitäten in Zwischenräumen: Migration als Chance für Fremdverstehen und kritische Identitätsaushandlung? Paper presented at the conference on ‘Migration(s) and Development(s): Transformation of Paradigms, Organisations and Gender’, Center for Interdisciplinary Research, Bielefeld, Germany, July 10-11, 2008.

  5. Diaspora ist ein Gebiet, in dem eine religiöse Minderheit von einer anderen Glaubensmehrheit umgeben ist.

  6. Lebhart, G.; R. Münz (2002): Migration und Integration - Konfliktfelder in der liberalen Demokratie. Die Zukunft der Demokratie. Innsbruck/ Wien, S. 197-210.

  7. Geschlechterrollen, konfrontation von Patriarchat von individuelle Menschenrechte Bedeutung der Religion, freie sexuelle Selbstentfaltung, Interpretation weltpolitischer Ereignisse etc.

  8. Weiner, Myron (1995): The Global Migration Crisis, Challenges to States and to Human Rights, New York., S. 139.

  9. El-Cherkeh, Tanja/ Stirbu, Elena, et al. (2004): EU-Enlargement, Migration and Trafficking in Women: The Case of South Eastern Europe. HWWA-Report 247.

  10. Vgl. Wiedl, Nina/ Carmen Becker (2014). "Populäre Prediger im deutschen Salafismus" in Thorsten Gerald Schneider (Hg.) Salafismus in Deutschland. Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung. Bielefeld, 187-215.

  11. Vgl. Neumann, Peter (2015). Die neuen Dschihadisten. IS, Europa und die nächste Welle des Terrorismus. Berlin.

  12. Vgl. Abou Taam, Marwan (2014): Salafismus in Deutschland – Eine Herausforderung für die Demokratie, in: Zeitschrift für Internationale Strafrechtsdogmatik, ZIS 9/2014, S. 442 ff. – www.zis-online.com.

  13. Vgl. Till Hagen (2012), Islamismus bei Jugendlichen in empirischen Studien: Ein narratives Review, Veröffentlichungen des Instituts für Religionswissenschaft und Religionspädagogik 2, Bremen.

  14. El-Mafaalani, Aladin (2014). "Salafismus als jugendkulturelle Provokation" in Thorsten Gerald Schneider (Hg.) Salafismus in Deutschland. Ursprünge und Gefahren einer islamisch-fundamentalistischen Bewegung. Bielefeld: transcript, 355-362.

  15. Vgl. hierzu Herding, Maruta/ Joachim Langner/ Michaela Glaser (2015). Junge Menschen und gewaltorientierter Islamismus – Forschungsbefunde zu Hinwendungs- und Radikalisierungsfaktoren. Internetquelle: Bundeszentrale für politische Bildung, Infodienst Radikalisierungsprävention http://www.bpb.de/politik/extremismus/radikalisierungspraevention/212082/faktoren-fuer-die-hinwendung-zum-gewaltorientierten-islamismus.

  16. Abou Taam, Marwan/ Aladdin Sarhan (2014). "Salafistischer Extremismus im Fokus deutscher Sicherheitsbehörden" in Thorsten Gerald Schneider (Hg.) Salafismus in Deutschland. Ursprünge und Gefahren einer islamisch fundamentalistischen Bewegung. Bielefeld: transcript, 387-402. Heitmeyer, in: Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände: Folge 9, 2010, S. 69

  17. Heitmeyer, in: Heitmeyer (Hrsg.), Deutsche Zustände: Folge 9, 2010, S. 69

  18. Vgl. Foroutan/Schäfer, APuZ 5/2009, 11 (12 f.).

  19. Vgl. Lützinger, S. (2010). Die Sicht der Anderen. Eine qualitative Studie zu Biographien von Extremisten und Terroristen. Köln: Luchterhand.

  20. Abou Taam, Marwan (2016): Daesh Radicalization and Responses in Germany, in Beatrice Gorawantschy et.al. (Hrsg.): Countering Daesh Extremism - European ans Asian Responses, Singapore.

  21. Vgl Heinz, Wolfgang (2004): Kommunale Kriminalprävention aus wissenschaftlicher Sicht. In: Kerner, H.-J.; Marks, E. (Hrsg.): Internetdokumentation Deutscher Präventionstag. Hannover. http://www.praeventionstag.de/content/9_praev/doku/heinz/index_9_heinz.html

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Dr. phil., geb. 1975; Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz, Valenciaplatz 1-7, 55118 Mainz. E-Mail Link: mabouta@yahoo.com