Einführende Begriffserläuterungen: Islamismus und Salafismus
Islamismus
"Islamismus" meint eine Islaminterpretation, nach der der Islam nicht nur Glaube und Religion ist, sondern auch Gesellschaftsordnung und Politik. Islamismus beschreibt also eine politisch-religiöse Ideologie. Sie beruft sich auf Muhammad und einflussreiche Theologen der Frühzeit des Islam, mündete aber erst im 20. Jahrhundert in eine Vielzahl politischer Bewegungen. Deren gemeinsames Ziel ist es, eine islamische Herrschafts- und Gesellschaftsordnung zu errichten, in der das Schariarecht im Zivil- und Strafrecht zur Anwendung kommt (siehe Infokasten). Die Demokratie wird als menschengemacht abgelehnt und die"westliche" Gesellschaftsordnung verurteilt. Allerdings unterscheiden sich die verschiedenen islamistischen Strömungen in der Frage, auf welchem Weg der notwendige Umbau der Gesellschaft in eine islamische Ordnung erreicht werden kann.
Salafismus
Die heute am schnellsten wachsende Strömung des Islamismus ist der Salafismus, der mit dem Wahhabismus (der in Saudi-Arabien beheimateten Auslegung des Islam) ideologisch eng verwandt ist. Salafisten richten ihr Leben streng nach Koran und sunna aus (die Taten und Worte Muhammads, seine vorbildhafte Gewohnheit) sowie am Vorbild der Prophetengefährten (arab. as-salaf as-salih; daher "Salafismus"). Salafistische Gruppierungen werden meist unterteilt in:
puristische (oder: quietistische) Salafisten, die die Gesellschaft durch ihre vorbildhafte Umsetzung des "reinen Islam" und durch missionarische Verkündigung (arab. dacwa) umformen möchten,
politische Salafisten, die bestrebt sind, die Politik zugunsten ihrer Ziele zu beeinflussen und
jihadistische Salafisten, deren Anhänger auch zum Einsatz von Gewalt bereit sind, um die aus ihrer Sicht "unrechtmäßigen" Regierungen zu stürzen und den "wahren" Islam aufzurichten. Allerdings kommen auch Mischformen dieser idealtypischen Kategorien vor
In diesen unterschiedlichen Strömungen des Islamismus und Salafismus sind Frauen heute nicht nur vertreten, sondern spielen eine immer prominentere Rolle. Sie sind keine passiven Mitglieder dieser Netzwerke mehr, sondern nehmen selbst eine aktive Rolle ein.
Islamische Rechtsnormen für Frauen – woher stammen sie?
Das islamische Ehe- und Familienrecht ist ein Bestand des Schariarechts; das Strafrecht oder das Ritualrecht (mit seinen Regeln für die Religionsausübung) sind weitere Bestandteile. Das Schariarecht wurde niemals kodifiziert, d.h., es wurde niemals in allen Einzelbestimmungen in einer Rechtssammlung schriftlich niedergelegt. Daher sind die einzelnen Anordnungen zu Ehe und Familie aus dem Koran und der islamischen Überlieferung in gewissem Umfang auslegbar. Es gibt nicht nur eine Interpretation, sondern vier sunnitische Rechtsschulen und innerhalb der Rechtsschulen verschiedene Ausleger. Dennoch ist der Spielraum in der Auslegung insgesamt recht begrenzt, weil einflussreiche frühislamische Juristen und Theologen vom 7. bis 10. Jahrhundert auch die Normen und Richtlinien des Ehe- und Familienrechts formulierten. Sie formten die wenigen Bestimmungen des Korans und die Erläuterung dieser Regeln in der Überlieferung zu einem Rechtskorpus, der in der islamischen Theologie und Rechtswissenschaft seit dem 10. Jahrhundert unverändert gültig ist und bis heute anerkannt wird. So spiegelt das islamische Familienrecht bis heute das auf der Arabischen Halbinsel im 7. Jahrhunderts n. Chr. geltende Stammesrecht wider.
Das Schariarecht
Das Schariarecht fußt auf den Rechtsbestimmungen des Korans und der islamischen Überlieferung. Im Koran werden nur recht wenige Rechtsfragen exemplarisch behandelt; umfangreicher sind die Rechtsbestimmungen der Überlieferung. "Überlieferung" wird die Sammlung von Entscheidungen Muhammads, seiner Gefährten und deren unmittelbarer Nachfolger genannt, zu denen auch die ersten vier Kalifen nach Muhammad gehören. Durch Auslegung der Rechtstexte des Korans und der Überlieferung erarbeiteten Theologen und Rechtsgelehrte in der Zeit vom 7. bis 10. Jahrhundert n. Chr. einen Korpus rechtlicher Bestimmungen, der als Schariarecht bezeichnet wird. Unter diesen Theologen und Rechtsgelehrten sind besonders die Gründer und Schüler der vier sunnitischen und der wichtigsten schiitischen Rechtsschule der Zwölferschiiten von Bedeutung.
Restriktive Interpretation von Rechtsbestimmungen
Diese Rechtsbestimmungen interpretieren islamistische Gruppen besonders restriktiv. Wenn schon das traditionell ausgelegte Ehe- und Familienrecht auf Grundlage der Scharia Frauen benachteiligt und ihnen im Vergleich zum Mann verminderte Rechte einräumt, dann gilt das umso mehr für seine konservative Auslegung im Islamismus und Salafismus. Denn wer sein Leben streng an Koran und sunna (der Gewohnheit Muhammads) ausrichten will, kommt an den Rechtsbestimmungen aus der Zeit des 7. bis 10. Jahrhunderts nicht vorbei, da das islamische Ehe- und Familienrecht als Teil des Schariarechts damals grundlegend formuliert und religiös als Offenbarung Gottes legitimiert wurde. Je nach Auslegung variieren Verhaltens-, Bekleidungs- und eherechtliche Vorschriften im Islamismus, Salafismus oder Jihadismus geringfügig. Letztlich ist aber der Interpretationsspielraum recht begrenzt, da sich die Auslegungen der frühen Theologen und Juristen insgesamt in einem konservativen Rahmen bewegen.
Beispiele für islamistische Regelungen
Bei der Verschleierungspflicht der Frau im Islamismus oder Salafismus gibt es kaum Spielraum. Wer das Schariarecht in seiner traditionellen Auslegung in vollem Umfang bejaht und die Zeit Muhammads ohne Abstriche und Anpassung an die Moderne nachahmen will, ist an bestimmte Regelungen zur Verhüllung von Frauen gebunden. Auch wird man sich den Warnungen der Überlieferung, dass Frauen im öffentlichen Bereich für Männer leicht zur Versuchung werden, kaum mit dem Argument entziehen können, dass diese Normen heute keine Gültigkeit mehr besitzen. Die strikte Geschlechtertrennung, wie bei öffentlichen Auftritten islamistischer Prediger häufig praktiziert, die Festlegung der Frauen auf eine Rolle als Ehefrau und Mutter oder die Gehorsamspflicht der Ehefrau gegenüber ihrem Ehemann wird im Bereich des Islamismus und Salafismus ebenfalls kaum bestritten. Das gilt ebenso für das prinzipielle Recht des Mannes auf eine Mehrehe (sofern bestimmte Voraussetzungen, wie die entsprechenden finanziellen Verhältnisse, dafür gegeben sind) sowie das Recht, seine Frau bei Ungehorsam zu züchtigen, das in aller Regel in islamistischer Literatur ausdrücklich bestätigt wird.
Die Anziehungskraft des Islamismus und Salafismus auf Frauen
Obwohl man annehmen könnte, dass ein solches Eherecht von vielen Frauen im 21. Jahrhundert abgelehnt wird, haben Islamismus und insbesondere Salafismus in Deutschland einigen Zulauf von Frauen. Manche sind muslimische Frauen mit oder ohne Migrationshintergrund aus traditionell-religiösen, liberalen oder auch ganz areligiösen Elternhäusern, andere sind Konvertitinnen. Was begründet die Attraktivität islamistischer Kreise mit ihrer Geschlechtertrennung, strengen Kleiderordnung und Festlegung auf die Rolle als Ehefrau und Mutter?
Vielfältige Gründe für den Weg in den Islamismus oder Salafismus
Die Gründe, warum Frauen den Weg in den Islamismus oder Salafismus finden, sind vielfältig. Den einen Beweggrund, der auf alle Frauen zuträfe, gibt es nicht. Es gibt jedoch Erklärungsansätze und Erfahrungen aus der Arbeit von Sicherheitsbehörden, aus der Arbeit in Schulen, aus der Jugendarbeit und aus der Arbeit derjenigen, die sich in der Präventionsarbeit gegen Radikalisierung einsetzen.
Da der Salafismus sehr eindeutige Regeln und Leitlinien bietet, scheint er manchen jungen Frauen (und auch Männern) Halt, Sicherheit und Grenzen in einer immer stärker entgrenzten Gesellschaft zu geben.
Solidarität und Hilfeleistung, Wärme und Gemeinschaft in einer Gruppe Gleichgesinnter können in Zeiten persönlicher Krisen durch Krankheit, Scheidung oder Tod Halt bieten, insbesondere, wenn die Familien solche Krisen nicht auffangen oder sogar ihre Ursache sind.
Auch die bisweilen ungelöste Frage der eigenen Identität durch das Leben zwischen den Welten, wie sie die Migration häufig mit sich bringt, scheint ein begünstigender Faktor zu sein: Die Suche nach den eigenen (religiösen) Wurzeln in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft kann in eine demonstrativ religiöse, salafistische Gruppe führen. Die Behauptung, in solch einer Gruppe den "richtigen" Islam kennen lernen zu können, ist für manche Jugendliche mit Migrationshintergrund, die von ihren Eltern oft wenig fundiertes Wissen über ihre Religion erfahren haben, offensichtlich attraktiv.
Wenn insbesondere junge Mädchen und Frauen aus muslimischem Elternhaus sich für eine strengere Form des Islam entscheiden als die von der Elterngeneration praktizierte, kann dies auch eine Form des "Empowermen" in einer patriarchalischen Familienhierarchie sein.
Das Gefühl, nirgends dazuzugehören, durch die Herkunft der Familie und auch durch die Religion dauerhaft als "Ausländer" ausgegrenzt zu werden, selbst wenn man in Deutschland geboren, aufgewachsen und Staatsbürger ist, kann den eigenen Wunsch nach einer besonders auffälligen Abgrenzung begünstigen. Das betrifft auch den Kleidungsstil von Frauen in salafistischen Kreisen, der besonders auffällig ist.
Wer sich gesellschaftlich diskriminiert fühlt, mag eine solche verschworene Gemeinschaft im Gegensatz zu der Gesellschaft "da draußen" als Halt bietendes Kontrastprogramm empfinden. Wer in Schule und Beruf wenig Erfolg hat, dem mag die Darstellung des Islam als die allen anderen überlegene Religion und eine Abwertung der "westlichen Gesellschaft" als gottlos und verdorben einleuchten. Wenn in einer solchen Gruppe ein salafistischer Prediger die "westliche Gesellschaft" als rassistisch, islamophob und heuchlerisch darstellt, kann der Umwelt kollektiv die Schuld an der eigenen Erfolglosigkeit gegeben werden, ohne dass eigene Defizite in den Blick genommen werden müssen.
Weiterhin entfalten Wärme, Halt und Akzeptanz innerhalb der Gruppe eine große Überzeugungskraft und bieten emotionalen Halt. Dem Neuankömmling wird vermittelt, dass er hier am richtigen Platz und ein wichtiges Mitglied der Gemeinschaft ist, das einen großen Auftrag zu erfüllen hat. Häufig sind es persönliche Freundschaften, über die der erste Kontakt zu einer salafistischen Gruppe hergestellt wird. Es kann Zufall sein, ob die "verlorene Tochter" oder der "verlorene Sohn" an eine rechtsextremistische, linksextremistische oder salafistische Gruppierung gerät. Der Beitritt zu einer extremistischen Gruppe kann auch Protest gegen Schule und Elternhaus sein, ein Mittel der Abgrenzung – die besonders hervortritt, wenn der- oder diejenige einen neuen Namen, neue Speisevorschriften und eine neue Kleiderordnung zur Schau trägt.
Konflikte für Konvertitinnen
Für Konvertitinnen bedeutet die Hinwendung zum Salafismus in der Regel die Einhaltung einer Vielzahl neuer Vorschriften für den Alltag, die nicht selten zu Konflikten mit der Familie und alten Freundeskreisen führen:
Speisen: Salafisten wollen oft in Bezug auf Speisevorschriften keine Kompromisse eingehen und ausschließlich "halal" essen. Lebensmittel, die "halal" sind, stammen aus einer Produktion, die garantiert, dass sich keine verbotenen Substanzen wie Alkohol oder Bestandteile von Schweinefetten darin befinden. Fleisch muss von einem muslimischen Metzger geschächtet und das Tier ganz ausgeblutet sein, nachdem der Name Gottes über dem Tier angerufen wurde.
Kleidung: Ein anderer Konfliktbereich ist oft die Kleidung. Nach salafistischer Auffassung sollen Frauen bodenlange Röcke und Mäntel tragen. Ein Kopftuch, das die Haare und den Halsbereich vollständig verhüllt, ist das mindeste, meist aber wird ein Schleier getragen, der Kopf, Hals, Schultern und Brustbereich bedeckt oder sogar ein Ganzkörperumhang (ähnlich einem iranischen Tschador), der vom Kopf bis zu den Füßen herabfällt und die Kleidung darunter vollständig bedeckt. Häufig ist die gesamte Oberbekleidung in Schwarz oder zumindest einer dunklen Farbe gehalten. Strenge Salafistinnen tragen zudem schwarze Handschuhe und/oder einen Gesichtsschleier.
Die besonders strengen Kleidungsvorschriften spiegeln die salafistische Auffassung wider, dass das Verhalten von Frauen wesentlich über die Aufrechterhaltung der Moral in einer Gesellschaft entscheidet. Da nach salafistischer Ansicht eine Gesellschaft durch das vorbildhafte, streng an Koran und sunna ausgerichtete Verhalten der Einzelnen umgeformt wird, kommt den Kleidungsvorschriften für Frauen große Bedeutung zu, denn sie dürfen keine fitna (in diesem Zusammenhang etwa: Versuchung) für andere darstellen.
Arbeitsplatz: Nach salafistischer Auffassung sollen Frauen keiner Arbeit nachgehen, die sie in engen körperlichen Kontakt zu Männern bringt, wie etwa beim Frisör. Auch die Arbeit in einem Restaurant wird aufgrund der dort nicht vermeidbaren Berührungspunkte mit Alkohol und Schweinefleisch abgelehnt. Musik, Tanz, Kunst und bildliche Darstellungen von Mensch und Tier werden ebenso abgelehnt wie alles, was „Unmoral“ zwischen Männern und Frauen fördert (schon das Miteinander-sprechen von Nichtverwandten kann als eine Form der Unmoral verstanden werden, ebenso der kollegiale Umgang am Arbeitsplatz bzw. das gemeinsame Bearbeiten von Aufgaben). Ohnehin kommen aufgrund der auffälligen Kleidung von Salafistinnen aus Arbeitgebersicht viele Arbeitsplätze gar nicht infrage, was in salafistischen Kreisen in der Regel als Diskriminierung, Islamophobie oder Einschränkung der Religionsfreiheit sowie als Zeichen der moralischen Verirrung der westlichen Gesellschaft betrachtet wird.
Die Rolle der Frau: Zudem gilt im Salafismus für Frauen das Ideal der Frau als Ehefrau und Mutter; eine Erwerbstätigkeit hat demgegenüber nur untergeordnete Bedeutung. Für den Lebensunterhalt ist der Mann zuständig. Zwar ist dies auch Bestandteil der schariarechtlichen Regelungen des Eherechts, wird aber im salafistischen Bereich weitaus strikter gehandhabt.
Gehorsamspflicht gegenüber dem Ehemann: Im Gegenzug zur Erwerbspflicht gebührt dem Mann das Recht auf Gehorsam seiner Frau – auch das ein Bestandteil des klassischen Eherechts; allerdings betonen salafistische Publikationen häufig zusätzlich das Recht des Mannes, die Frau unter Einsatz körperlicher Züchtigung zum Gehorsam zu bringen, wenn sie sich seinen Anweisungen widersetzt. Der Mann gilt Salafisten auch als berechtigt, den Bewegungsraum seiner Frau festzulegen; er kann ihr eine Berufstätigkeit erlauben oder untersagen. Nicht selten bestimmt er auch die Kontakte, die seine Frau pflegen darf und legt fest, ob, wie oft und zu welchem Zweck sie das Haus verlassen kann.
Alle einzelnen Regelungen zu Kleidung, Speisen, Umgangsformen, Rollen und Verhaltensweisen für Frauen (und Männer) sind aus salafistischer Sicht keineswegs Nebenthemen, da für Salafisten durch die sichtbare Nachahmung des Vorbilds Muhammads die Umgebung den"wahren" Islam kennenlernt und so eine Einladung zum Islam ausgesprochen, also dacwa gemacht wird (siehe oben unter "Salafismus"). In salafistischen Foren wird daher die Pflicht zur dacwa häufig thematisiert und zumindest für den quietistischen Salafismus so zum eigentlichen Instrument zur Beeinflussung und Umformung der Gesellschaft.
Frauen als Kämpferinnen im Jihadismus: von der passiven zur aktiven Rolle
Nach der traditionellen Jihad-Lehre islamischer Theologen nehmen Frauen als diejenigen, die gehorsame Ehefrauen sind, Kinder gebären und die nächste Generation im Geist des Jihad erziehen, eine unterstützende Rolle im Jihad ein. Sie sollen, wie die klassisch-islamische Jihadlehre betont, nicht an Kampfhandlungen teilnehmen. Dieses "klassische" Verständnis hat sich jedoch in den letzten Jahren erheblich gewandelt. Zwar verstehen Frauen ihren Einsatz im kämpferischen Jihad immer noch als Unterstützung ihrer Männer, nehmen dabei aber eine viel aktivere Rolle ein:
Propaganda und Anwerbung: Eine wichtige Bedeutung kommt ihnen heute als Werberinnen für den Jihad zu: Sie betreiben Foren im Internet, in denen sie jüngeren Mädchen und Frauen den Aufenthalt im Kampfgebiet in Syrien in rosaroten Farben malen und ihnen vorgaukeln, dass dort ein Ehe- und Familienleben mit einem mutigen Jihadkämpfer die Erfüllung für sie sei, ja, dass es nur in Syrien und in den vom IS eroberten Gebieten möglich sei, ein Leben in ganzer Übereinstimmung mit den Lehren des Islam zu führen. Niemand schaue dort auf sie und ihre Kleidung herab, eigentlich sei das ihre Gesellschaft, zu der sie gehörten. Diese Jihad-Anwerberinnen geben den Mädchen im Internet Tipps, wie sie ihre Ausreisepläne vor den Eltern und der Schule geheim halten und über die Grenze ins syrische Kampfgebiet gelangen können. Sie stellen als ältere "Schwester" eine persönliche Bindung zu der jungen Frau her und nehmen dabei die Rolle einer Ersatzmutter ein, die sich um alle Belange und Fragen der jungen Frau kümmert. Es scheint besonders diese persönliche Bindung zu sein, die junge Frauen dem Werben der Propagandistinnen folgen lässt. Jihadistinnen machen sich dabei die strikte Geschlechtertrennung zunutze, da Männer in dieser Weise kein Vertrauensverhältnis zu Frauen aufbauen könnten.
Ehefrau für Kämpfer: Andere, häufig sehr junge Frauen, reisten in den vergangenen Jahren als Ehefrauen mit ihren Männern ins Kampfgebiet oder machten sich allein oder zu zweit auf den Weg, um in Syrien die Ehe mit einem Kämpfer einzugehen. Nach klassischem Eherecht wäre es den Frauen nicht erlaubt, sich ohne Ehemann und ohne engen männlichen Verwandten auf den Weg zu machen, doch für die Reise in den Jihad werden die Regeln angepasst.
Frauenbrigaden: Im Kampfgebiet spielen die Frauen eine wichtige Rolle. Zum einen, weil sie von Heiratsvermittlern an die männlichen Kämpfer vermittelt werden und damit vor Ort zwischen der Ermordung und Versklavung vieler Menschen, Zerstörung und Kampfhandlungen so etwas wie Normalität und ein Familienleben schaffen. Zum anderen, weil sie die Kämpfe selbst unterstützen und sich dabei besonders auf die Frauen konzentrieren. Darüber hinaus garantieren Frauen als Kämpferinnen mediale Aufmerksamkeit. Im Kampfgebiet des sogenannten "Islamischen Staates" ist eine gesonderte Frauenbrigade, die Khansaa-Brigade, als eine Art Religionspolizei für Kontrolle, Erziehung und Bestrafung von Frauen verantwortlich. Andere sorgen für Logistik, Geldeinwerbung oder medizinische Versorgung.
Frauen sind, auch abgesehen vom unmittelbaren Schlachtfeld, im gesamten Bereich des politischen Islam als Unterstützerinnen der Kämpfer und Propagandisten von großer Bedeutung: Sie versorgen Gefangene in den Haftanstalten mit notwendigen Dingen zum Überleben, sie verbreiten ihre Ideologie in Zeiten der Verfolgung, sie indoktrinieren und werben neue Anhänger und schmuggeln Material in und aus den Haftanstalten.
Bei den zum sogenannten Islamischen Staat ausreisenden Frauen kommt als Motiv außer romantischen Vorstellungen von einer Ehe mit einem "mutigen Löwen" auch der Wunsch nach Selbstbestimmung und Ausbruch infrage. Mit der Ausreise können sich Frauen einerseits gegen ihre Eltern und die Enge in ihrem Elternhaus abgrenzen, gleichzeitig aber auch demonstrieren, wie abgrundtief sie die materialistische westliche Gesellschaft verachten.
Unterordnung statt Emanzipation
Die aktive Rolle, die junge Frauen heute im Jihadismus spielen, könnte wie eine Emanzipationsbewegung aussehen, eine Art Selbstbestimmung und Befreiung. Das trifft jedoch nicht zu. Weder entscheiden die jungen Frauen im Kampfgebiet, an wen sie verheiratet werden, noch darüber, an wen sie als Witwe weitergereicht werden, wenn ihr Ehemann im Kampf fällt. Auch dürfen sie, wenn vor Ort eine Desillusionierung über das Leben im sogenannten Islamischen Staat einsetzt, sie krank oder traumatisiert sind, das Kampfgebiet nicht verlassen. Sie werden kontrolliert und dürfen ohne männliche Begleitung nicht aus dem Haus gehen. Manche von ihnen werden in Zeitehen mit oder ohne ihr Einverständnis vorübergehend an einen der IS-Kämpfer verheiratet. Sie haben weitaus weniger Rechte als ihnen das klassische Schariarecht zubilligen würde.
Ob radikalisierte Jihad-Rückkehrerinnen, die teilweise über Kampferfahrung verfügen, in Europa zu Anschlägen bereit sind oder sie eines Tages sogar durchführen werden, ist derzeit noch nicht abzusehen.
Literatur
Frauen für den Dschihad. Das Manifest der IS-Kämpferinnen. Herder: Freiburg, 2015
Jessica Davis. Women in Modern Terrorism. From Liberation Wars to Global Jihad and the Islamic State. Rowman & Littlefield: Lanham, 2017
Nina Käshage. Dschihad als Ausweg. Warum tschetschenische Frauen in den Krieg ziehen und deutsche Kämpferinnen ihnen folgen. Zu Klampen: Springe, 2017
V. G. Julie Rajan. Women Suicide Bombers. Narratives of Violence. Routledge: Abingdon, 2011
Britt Ziolkowski. Palästinensische Märtyrerinnen. Selbstdarstellung und innerislamische Wahrnehmung weiblicher Selbstmordattentäter. Klaus Schwarz: Berlin, 2017
Britt Ziolkowski. Die Aktivistinnen der Hamas. Zur Rolle der Frauen in einer islamistischen Bewegung. Klaus Schwarz: Berlin, 2017