Politische Radikalisierung ist ein sozialer Prozess zumeist im Jugendalter, der verschiedene, aufeinander folgende Intensitätsstufen durchlaufen kann. Es gibt unterschiedliche Ursachen und begünstigende biografische Hintergründe, doch die Forschung benennt immer wieder einige Gemeinsamkeiten.
Es sind häufig
Diskriminierungserfahrungen,
ein Mangel an Anerkennung und Lebensperspektiven,
Verunsicherung sowie
die Suche nach Identität,
die einen Radikalisierungsprozess begünstigen und vorantreiben können.
Das Rhein-Main-Gebiet, Nordrhein-Westfalen und Berlin gelten als Hochburgen des Salafismus. Hier sind Infrastrukturen wie Moscheen, charismatische Prediger und salafistische Szenen Motoren der Rekrutierung.
Wissenschaftlicher Konsens besteht darüber, dass Radikalisierung ein komplexer sozialer Prozess ist, der aus verschiedenen situativen Zusammenhängen heraus gespeist wird, dazu gehören:
familiäres Umfeld,
Schulen,
Moscheen,
öffentliche Auftritte,
das Internet und auch
Haftanstalten
Über deren Zusammenspiel ist bislang jedoch wenig bekannt. Es ist bei der aktuellen Forschungslage nicht möglich, diese Orte zu gewichten und die einen oder anderen als ausschlaggebend auszuweisen. Immerhin gibt eine empirische Befragung durch Sicherheitsbehörden erste Auskünfte über die Gewichtung der Radikalisierungsfaktoren.
Bei 572 nach Syrien/Irak aus islamistischen Motiven ausgereisten Personen nannten die meisten
Freunde (54 %),
einschlägige, d. h. vom Salafismus beeinflusste Moscheen (48 %) und
das Internet (44 %)
als Gründe der eigenen Radikalisierung. Auf den hinteren Plätzen landeten
Kontakte in der Schule (3 %) und
Kontakte in Justizvollzugsanstalten (2 %).
Die vertiefte Kenntnis derartiger soziale Orte und ihrer Funktionen für die salafistische Radikalisierung ist nicht nur ein Beitrag zum besseren Verständnis dieses Phänomens, sondern eine Voraussetzung durchdachter Prävention: Eltern, Lehrer, Sozialarbeiter müssen wissen, wo die Jugendlichen welche Erfahrungen machen und zu welchen Handlungen sie führen. Das erleichtert Ansätze, um der Dynamik des wachsenden Salafismus mehr entgegenzusetzen.
Schulen
Anfang 2014 forderte die hessische Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft mehr Personal und bessere Lehrerfortbildung, um dem Salafismus an Schulen besser begegnen zu können; der hessische Innenminister sprach sich in diesem Zusammenhang für ein bundesweites Frühwarnsystem aus, um die Rekrutierung von Schülern für salafistische Gruppen zu stoppen.
Berichte von Lehrkräften und anderen Verantwortlichen im Schulbereich über die salafistische Radikalisierung von Schülern sind selten. Nach Syrien Ausgereiste nennen die Schule auch kaum als Grund für ihre Hinwendung zum Islamismus.
Begünstigende Faktoren für radikale Positionen
Die Schule ist ein sozialer Kontext, in dem salafistische Radikalisierungen stattfinden können. Im Unterricht sind es Fragen zum Beispiel nach der Religion und nach der Rolle Israels und der westlichen Staaten im Nahen Osten, die radikale Positionen begünstigen können, wenn sie pädagogisch nur unzureichend vorbereitet werden. Wichtig wäre daher eine von verschiedenen vorhandenen Positionen geprägte und nicht überwältigende Vermittlung der Inhalte bei gleichzeitiger Beachtung der bestehenden Werteordnung.
Eine Umfrage unter Berliner Lehrern berichtet von einer "gestiegenen Relevanz der Religion und insbesondere des Islam für die Selbstidentifikation der Schüler. Ein Teil der Lehrkräfte erzählte von Konflikten mit dem Schulauftrag, von der Höherstellung von Glaubensinhalten über die an der Schule vermittelten Inhalte und Werte sowie von der Überprüfung des Schulstoffs durch religiöse Autoritäten".
Zu berücksichtigen sind auch Faktoren außerhalb des Unterrichts. Es ist nicht nur an den Unterricht zu denken, der politische Orientierungen vermittelt, sondern vielmehr an das schulische Umfeld, die Bildung von Gleichaltrigen-Gruppen (Peergroups), Verabredungen zu Freizeit-Aktivitäten und Ähnliches. Schule ist für Jugendliche, die einen Radikalisierungsprozess beginnen, einerseits ein zentraler Ort für Kommunikation und Vernetzung, andererseits aber auch für symbolisch deutlich sichtbare Abgrenzung zu anderen Jugendlichen.
Moscheen
Der Berliner Verfassungsschutz hat 2017 eine quantitative Studie über das salafistische Spektrum in Berlin vorgelegt. Demnach bilden vier als Trefforte von Salafisten bekannte Moscheen "das ‚Rückgrat‘ der salafistischen Infrastruktur" in der Stadt.
Sie dienen als Kommunikationszentren, produzieren durch Predigten und Islamseminare Ideologie und Orientierung, vermitteln ihren Besuchern Gemeinschaftsgefühl, Zugehörigkeit und Identität. Umgangsformen, Kleidung und Disziplin sind hier alltägliche Praktiken. Das Wissen über Richtig und Falsch, Freund und Feind und ähnliche simple Unterscheidungen wird hier reproduziert und gepflegt.
Für Jugendliche im Anfangsstadium eines Radikalisierungsprozesses können solche Treffpunkte der salafistischen Szene ein entscheidender Faktor sein für ihren weiteren Weg. Hier erleben sie Salafismus "live", lernen Autoritäten und Verbündete sowie die religiöse Seite des Islamismus kennen und erhalten Orientierungs- und Handlungsangebote. "Islam-Seminare" stärken die salafistische Identitätsbildung. Der Einzelne ist hier Teil einer solidarischen Gemeinschaft und erlebt Rückhalt und Zusammenhalt. Für diejenigen, die bereits auf einer fortgeschrittenen Stufe radikalisiert sind, bedeuten Moscheebesuche eher Kommunikation, Informations- und Erfahrungsaustausch und Bestätigung. Der Salafismus ist auch eine radikale Ideologie der Überlegenheit des Islams gegenüber den "Ungläubigen" und insofern bedeutet die Moschee für diese Gruppe auch eine Bekräftigung ihrer Überlegenheit gegenüber der "ungläubigen" sozialen Umwelt.
Im Jahr 2017 wurden zwei salafistische Moschee-Vereine verboten:
Im Februar der Berliner Fussilet-Moscheeverein. Hier verkehrte unter anderen Anis Amri, der das Attentat auf einen Berliner Weihnachtsmarkt im Dezember 2016 begangen hatte.
Im März wurde der "Deutschsprachige Islamkreis Hildesheim" verboten, in dessen Moschee Muslime auf die Ausreise nach Syrien vorbereitet wurden, um dort an der Seite des IS zu kämpfen. Der Vorsitzende des Vereins, Abu Walla, gilt als Repräsentant des IS in Deutschland.
Die beiden Verbote zeigen, dass in salafistischen Moscheen nicht nur auf religiöse Art rekrutiert und agiert wird, sondern in einigen von ihnen schwere Straftaten bis hin zu terroristischen Aktionen geplant wurden. Das bedeutet für Besucher dieser Moscheen, dass der Übergang von einer radikalen islamistischen Überzeugung zum Eintauchen in ein kriminelles Milieu, in dem Straftaten vorbereitet und ausgeführt werden, möglich wird.
Salafistisches Streetworking
"Street Dawahs" sind öffentliche Veranstaltungen von salafistischen Gruppen auf Straßen und Plätzen. Hier werden Kundgebungen ebenso durchgeführt wie Büchertische mit Interessierten. Übertritte zum Islam werden feierlich zelebriert. Die Straßen-Missionen haben eine doppelte Funktion: Nach innen stärken sie den Zusammenhalt der Gruppe, indem "wir" und "die anderen" klar unterscheidbar und sinnlich erfahrbar werden. Im Prozess der Radikalisierung spielt dieser Mechanismus eine wichtige Rolle, weil Zugehörigkeit zur Gruppe verstärkt wird und die Mitglieder sich öffentlich zu ihrem Glauben bekennen. Eine weitere Funktion besteht darin, dass von den salafistischen Akteuren nach außen hin missioniert wird durch Reden, Gespräche mit Interessierten und Verteilen von Schriften und Videos. Bundesweit bekannt wurde die "Lies!"-Kampagne ab 2014, als der Koran kostenlos verteilt wurde. Der Träger der Kampagne, die 2016 verbotene Gruppierung "Die wahre Religion", verstärkte das Marketing durch Videos, die über das Internet verbreitet wurden. In der Verbotsverfügung des Bundesinnenministers vom 15. November 2016 wird ausdrücklich darauf hingewiesen: "Tausende von Videos dieser Aktionen wurden über das Internet veröffentlicht. Durch sie wird eine verfassungsfeindliche Einstellung und kämpferisch-aggressive Grundhaltung bei den überwiegend jungen, zum Teil minderjährigen Anhängern geschaffen und geschürt".
In Berlin fanden vor dem Brandenburger Tor und der US-Botschaft vereinzelt auch salafistische Kundgebungen statt. Themen waren unter anderem "Freiheit für Sven Lau"
Eine ebenfalls aufsehenerregende, aber friedliche Aktion gelang Salafisten im September 2014. Eine kleine Männergruppe, die sich "Sharia Police" nannte, patrouillierte durch Wuppertal und forderte Jugendliche, die sie für Muslime hielten, auf, islamische Verhaltensregeln einzuhalten: kein Alkohol, kein Glücksspiel, keine Musik, keine Drogen.
Internet
Sicherheitsbehörden gehen davon aus, dass ein Trend zum "going private" zu beobachten ist: "Zunehmend vollzieht sich Radikalisierung in geschlossenen Kommunikationsgruppen im Internet oder in privaten realweltlichen Gruppen und Zirkeln".
Social Media werden von salafistischen Führungsfiguren erfolgreich genutzt. Pierre Vogel zum Beispiel unterhält einen eigenen Youtube-Kanal mit 34.000 Abonnenten, der seine öffentlichen Auftritte und Besuche bei Anhängern ebenso dokumentiert wie seine Ansprachen und Predigten. Es werden zahlreiche Videos angeboten, die überwiegend praktische Fragen behandeln, zum Beispiel wie sich ein gläubiger Muslim zu verhalten hat. Verwiesen wird auf andere muslimische Webseiten und Kanäle, so dass sich für den Nutzer hier eine sehr breite und interaktive salafistische Infrastruktur auftut.
Die Bedeutung des Internets als sozialer Ort für die Radikalisierung von Jugendlichen sollte allerdings nicht überschätzt werden. In der Fachdebatte überwiegt die Ansicht, dass Social Media den Radikalisierungsprozess verstärken, aber keineswegs ursächlich auslösen: "So spielt das Internet als Mobilisierungs- und Resonanzraum oder als Beschleuniger bei Radikalisierungsprozessen zwar eine wichtige Rolle, indem es dem zum Dschihad Entschlossenen notwendige Informationen (besonders technischer Art) zugänglich macht, gilt jedoch heute weniger als auslösendes Moment".
Haftanstalten
Haft bedeutet für extremistische Straftäter oft eine Bestätigung ihrer Ideologie, denn der Staat sieht sie als Feind und behandelt sie auch als solche. Islamistische Gefangene wie etwa der in der salafistischen Szene bundesweit bekannte Sven Lau können schnell zu "Märtyrern" werden, die dann eine charismatische und einflussreiche Position gewinnen, eben weil sie für ihre Sache vom Staat der Ungläubigen verfolgt und eingesperrt werden.
Ende 2017 verbüßten rund 300 Islamisten in Deutschland eine Gefängnisstrafe, weitere 350 wurden per Haftbefehl gesucht. Schwerpunkte waren Hessen, Bayern, Nordrhein-Westfalen und Berlin.
Vieles deutet darauf hin, dass mit der Zunahme islamistischer Gefangener die Haftanstalten zu einem Rekrutierungsfeld für Salafisten werden. "Ein Salafist geht rein, fünf kommen raus" – so charakterisiert ein hessischer Verfassungsschützer die Rekrutierungsfunktion der Haft für die salafistische Szene.
Auch in der wissenschaftlichen Diskussion gibt es ähnliche Auffassungen: Gefängnisse seien "Brutstätten für künftige Salafistinnen und Salafisten".
Solche Ansätze der Gefangenenarbeit stehen in Konkurrenz zu islamistischen Initiativen der Gefangenenhilfe wie der des Netzwerks um Bernhard Falk.