Herr Meinhold, wie sind Sie auf die Geschichte von Bilal gestoßen und was fanden Sie an diesem Jugendlichen besonders spannend?
Ich hatte bereits eine Podcast-Serie für den rbb produziert, und danach gab es die Idee, in diesem Serien-Format etwas zum Thema Dschihadismus zu veröffentlichen. Ich war zunächst nicht davon überzeugt, weil es mir zu reißerisch erschien. Ein paar Monate später bin ich dann auf eine Audiobotschaft von Florent gestoßen, die der Hamburger Verfassungsschutz veröffentlicht hat. Es handelte sich dabei um ein Audio, das Florent aus Syrien an seine Freunde in Hamburg geschickt hat – kurz vor seinem Tod. In der Nachricht erzählt er, wie es beim IS tatsächlich ist und wie enttäuscht und auch entsetzt er von den Bedingungen vor Ort ist. Da dachte ich, dass ist eine Geschichte, die interessant zu erzählen ist. Und ich wollte dieser großen Frage nachgehen, wie es sein kann, dass ein Junge, der in Hamburg auf St. Pauli aufwächst, mit 17 meint, dass er zum IS nach Syrien gehen muss.
Wie sind Sie in Ihrer Recherche vorgegangen und warum haben Sie den Podcast als Form gewählt?
Ich hab zunächst probiert mit so vielen Menschen wie möglich zu sprechen, die mir zu Florent und seiner Geschichte etwas erzählen können. Dafür war sehr viel Vertrauensarbeit nötig. Es gab ganz wenige Gespräche, die sofort zugesagt wurden. Das lag vor allem an der Angst all derjenigen, die Florent kannten und mochten, dass er als jemand, der zum IS gegangen ist, in meinem Podcast schlecht dargestellt werden könnte. Ich musste deswegen zunächst deutlich machen, dass es mir nicht darum geht, jemanden pauschal zu verdammen, sondern einfach zu verstehen, wie es zu der Radikalisierung Florents kommen konnte. Seine Freunde aus der salafistischen Szene zum Beispiel waren bis zum Schluss nicht bereit, mit mir zu reden. Für die war ich einfach ein weiterer Journalist, der den Islam schlecht machen will.
Das Podcast-Format habe ich gewählt, weil es viel Raum gibt, Hintergründe zu erzählen. Es sind am Ende zweieinhalb Stunden, die ich diese Geschichte erzähle. In einem klassischen Radioformat gibt es diesen Platz nicht. Ich glaube, den braucht man aber, um wirklich tiefer einzusteigen und dieser Geschichte Raum zu geben, weil es verschiedene Aspekte, Entwicklungen und Wendepunkte gibt.
Sie sagten gerade, es war schwierig mit den Freunden, die ebenfalls in salafistischen Kreisen verkehren, ins Gespräch zu kommen. Mit einem Freund haben Sie gesprochen, in der St.-Pauli-Kirche auf der Trauerfeier von Florent und Sie thematisieren den Salafismus auch als Jugendkultur, als Protestkultur. Wie haben sie das wahrgenommen?
Mit diesem besten Freund von Florent konnte ich tatsächlich nach der Trauerfeier sprechen, ohne Mikrofon, weil es einen direkten Kontakt gab. Der hat dann später auch nicht auf weitere Kontaktversuche reagiert, weil er zumindest eine Affinität zur salafistischen Szene hat. Und ja, dass man die salafistische Szene auch als Jugendkultur begreifen muss, das ist mir während meiner Recherche immer klarer geworden. Es dreht sich sehr viel darum, sich gegenüber der Mehrheitsgesellschaft und Institutionen abzugrenzen. Die Jugendlichen haben in dieser Szene eine eigene Sprache, Kleidung und Musik und identifizieren sich über diese Symboliken, so wie man das auch von anderen Jugendkulturen kennt.
Sie haben sich über mehrere Monate intensiv mit dem Weg der Radikalisierung Bilals beschäftigt. Wie hat sich Ihre eigene Perspektive auf Jugendliche, die sich radikalisieren, durch diese Recherche verändert?
Was mir während der Recherche selbst sehr deutlich geworden ist, und ich glaube, das vermittelt sich auch im Laufe dieses Podcasts – Bilal beziehungsweise Florent ist in einen Sog geraten und man kann das so verstandesmäßig alles gar nicht komplett erfassen. Das Wort Sog trifft es tatsächlich am besten. Und wenn jemand in diesen Sog erstmal hineingeraten ist, ist es auch ganz schwer, die Person da wieder herauszuholen.
Sie sprechen von einem Sog. Insgesamt ist es schwierig, allgemeine Ursachen für die Radikalisierung von Jugendlichen, die nach Syrien gehen oder sich in Deutschland radikalisieren, herauszuarbeiten. An einer Stelle Ihres Podcasts wird erwähnt, dass Bilal versucht, eine Lehrstelle zu finden und scheitert. Wie beurteilen Sie im individuellen Fall von Bilal Rassismus und Diskriminierung als Radikalisierungsgründe?
Es sind eine Vielzahl von Faktoren, die zusammenkommen, wenn Jugendliche in salafistische Kreise geraten oder sogar in die dschihadistische Szene. Ich glaube, Rassismus-Erfahrungen sind etwas, was Florent, aus Kamerun stammend, als Schwarzer auf alle Fälle gemacht hat. Solche Erfahrungen machen, denke ich, viele Muslime und junge Menschen mit Migrationshintergrund. Interessant finde ich, dass junge Salafisten sich aber durch ihre Radikalisierung in eine Position begeben, wo sie diese Tendenzen noch verstärken. Dadurch, dass Sie so eine radikale Art wählen, ihren Glauben auszuüben, werden solche Ausgrenzungserfahrungen ja noch verstärkt. Sie begeben sich im Laufe der Radikalisierung sozusagen in eine Spirale und fühlen sich bestätigt, dass die Mehrheitsgesellschaft sie nicht akzeptiert. Ich glaube, dass dies bei Florent ähnlich war, neben anderen Erfahrungen. Ich würde jetzt nicht sagen, es lag nur daran, dass er keine Lehrstelle bekommen hat oder weil er Rassismus-Erfahrungen gemacht hat. Da war er bereits viel zu weit fortgeschritten in seiner Radikalisierungsgeschichte.
Familiäre Ursachen kommen bei fast allen Fällen noch hinzu. Auch Florent hat eine schwierige Familiengeschichte: ein Vater, der fehlt. Es ist sehr häufig, dass gerade männliche Jugendliche, die sich radikalisieren, ein Vaterproblem haben. Der Salafismus bietet hier Halt und Orientierung und vielleicht auch ein bisschen was von dieser väterlichen Autorität, die dann in Allah oder dem Propheten Mohammed quasi sprichwörtlich übernommen wird. Die Mutter von Florent, alleinerziehend mit drei Kindern, war in einer bestimmten Phase auch überfordert. Hier hätte Bilal Hilfe gebraucht, aber genauso hätte die Mutter Unterstützung benötigt, um den Weg ihres Jungen aufzuhalten.
Gerade die Audiobotschaften Bilals, die er aus Syrien sendet, sind dramatisch. Man hört die Verzweiflung des Jungen und letztlich seine Fassungslosigkeit über das, was tatsächlich in Rakka, der Hochburg des IS, vor sich geht. Wie erklären Sie sich, dass Bilal so ahnungslos war, dass er überhaupt keine Vorstellung zu haben schien, was in Syrien vor sich geht?
Ja, diese Frage habe ich mir auch gestellt: Wie kann es sein, dass jemand so naiv und ahnungslos zum IS geht? Wir hören doch so viel über die Brutalität beim IS. Ich denke, dass Naivität tatsächlich ein Teil ist. Ein wichtiger Aspekt ist aber auch, dass junge Menschen, die länger in der salafistischen Szene unterwegs sind, nur noch ganz gefiltert Nachrichten konsumieren. Hauptsächlich lesen sie Nachrichten über soziale Medien, Facebook und Twitter. Auch Bilal ist salafistischen Predigern auf Facebook gefolgt. Dies ist natürlich eine sehr einseitige Informationsvermittlung. Gleichzeitig wird den klassischen Medien Misstrauen entgegengebracht. Die Jugendlichen denken, dass die Presse lügt, häufig spielen Verschwörungstheorien eine wichtige Rolle. Hinzu kommt, dass die Bilder aus Syrien, aus Rakka, natürlich tatsächlich sehr brutal waren. Ich denke, dass Bilal sich da ganz stark angesprochen gefühlt hat, den Glaubensbrüdern und Schwestern zu helfen.
Sie haben sich auch mit Präventionsarbeit beschäftigt. Wie haben Sie die Präventionsarbeit wahrgenommen und was denken Sie, könnte in dieser Arbeit noch verändert oder verbessert werden – damit Jugendliche, die in so einen Sog geraten, da auch wieder rauskommen könnten?
Dazu muss man sagen, dass Bilals Radikalisierungsgeschichte in den Jahren 2011/2012 begonnen hat. Da war diese große Ausreisewelle, die dann folgte, noch gar nicht absehbar. Von daher glaube ich, dass man heute anders auf einen solchen Fall reagieren würde. Ich denke, dass ganz viel tatsächlich einfach klassische Sozialarbeit ist. Die Jugendlichen müssen eng von Personen, Sozialarbeitern, Lehrern, begleitet werden, denen sie vertrauen, damit sie wieder Halt und Orientierung bekommen. Wenn die Radikalisierung schon sehr weit fortgeschritten ist, wird dies immer schwieriger. Wie vorhin schon erwähnt, an diesem Punkt sind es dann häufig die Eltern, die Unterstützung brauchen, um weiter in Kontakt mit den Jugendlichen zu bleiben.
Sie haben an einer Stelle in Ihrem Podcast auch ein Interview mit einem Rückkehrer geführt. Inwieweit können auch Jugendliche, die für den IS gekämpft haben, in die Präventionsarbeit integriert werden?
Es kommt natürlich darauf an, inwieweit IS-Rückkehrer oder Aussteiger aus der salafistischen Szene es wirklich ernst meinen und ihren eigenen Weg reflektiert haben. Aber dann sind sie, denke ich, ganz wichtig in der Präventionsarbeit, weil sie die Sprache der Jugendlichen sprechen und weil sie selbst Muslime sind. Da entsteht ein ganz anderer Bezug als jetzt zum Beispiel zu jemanden wie mir – den Aussteigern glauben Jugendliche viel eher. Sie haben ihre eigenen persönlichen Erfahrungen gemacht. Insofern ist zum Beispiel Harry S., den ich als IS-Rückkehrer im Gefängnis besucht habe und der meiner Meinung nach seine Situation sehr gut reflektiert, ein guter Fall von jemandem, der später vielleicht in die Präventionsarbeit gehen könnte.
Wie waren die Reaktionen von Hörerinnen und Hörern auf Ihren Podcast? War das insgesamt positiv? Oder gab es auch Hörerinnen und Hörer, die kritisiert haben, dass Sie jemandem, der ausreist, um Leute zu töten, so viel Raum geben?
Das gab es tatsächlich ganz viel, also gerade auf Facebook haben sehr viele Leute geschrieben: „Warum haben Sie so viel Verständnis für diesen Jungen?“, oder: „ Warum gibt man dem eine Stimme?“ Ich hatte allerdings den Eindruck, dass das Menschen sind, die häufig gar nicht die ganze Serie gehört haben, sondern dass das so ein Reflex ist – eine Abwehr dieser Geschichte. Auf der anderen Seite gab es auch ganz viel positive Resonanz von Leuten, die gesagt haben: Ich habe durch diese Serie verstanden, wie so eine Radikalisierung funktioniert. Aber das ist natürlich auch der Grat, den man geht mit so einer Geschichte. Denn Bilal hat einen Fehler gemacht: Er ist zum IS gegangen und hat dieser menschenverachtenden Ideologie angehört. Er hat etwas gemacht, dass überhaupt nicht zu entschuldigen ist und dass man nicht gut heißen kann. Von daher war das auch für mich beim Produzieren des Podcasts immer eine Gratwanderung: Wie viel Verständnis bringe ich auf und wie sehr mache ich auch deutlich, dass dieser Weg kein richtiger Weg sein kann.
Interview: Katharina Lipowsky