Dieser Artikel über Leitkultur wird im Dossier der Bundeszentrale für Politische Bildung über den Islamismus als eine Erscheinung der Krisenhaftigkeit der islamischen Zivilisation eingefügt. Die Relevanz der Verbindung zwischen Leitkultur und Islamismus besteht darin, dass zeitgeschichtlich eine Art Völkerwanderung aus der Welt des Islam stattfindet, in deren Verlauf Millionen Menschen nach Europa kommen, die in einer Scharia-orientierten religiösen Weltanschauung sozialisiert wurden und für den Islamismus anfällig sind.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wer wen ändert: die Europäer die Muslime durch Europäisierung des Islam? Oder die Muslime Europa durch ihre Enklavenbildung in Form von Parallelgesellschaften, in denen die islamische Leitkultur dominiert? Da ich selbst Muslim und Europäer bin, schlage ich als Konfliktlösung einen interkulturellen Brückenschlag vor: Hierbei handelt es sich um das von mir 1998 eingeführtes Integrationskonzept der Leitkultur. Unter Leitkultur verstehe ich nichts anderes als eine säkulare wertebezogene Hausordnung. Der Konsens hierüber wird als Wertekonsens konzipiert und diesen nenne ich eben europäische Leitkultur. Leider ist die deutsche Diskussion hierüber sehr neurotisch verlaufen (vgl. Anm. 24 unten). Um es klar auszusprechen: Leitkultur hat weder mit einer "Operation Sauerbraten" (so Der Spiegel) noch mit einer "hegemonialen Unterdrückung" von zugewanderten Minderheiten durch die Aufnahmegesellschaft, so die linksgrüne Kritik, zu tun. Ich beginne diesen Aufsatz mit einer Rekonstruktion der Entstehung der Leitkulturdebatte.
Vor 21 Jahren, also 1996, hat die Beilage des Parlaments, Aus Politik und Zeitgeschehen, einen kritischen Essay von mir über Multikulturalismus veröffentlicht, in dem ich als Alternative dazu das Konzept des Kulturpluralismus vorschlug (vgl. Anm. 2). Im Gegensatz zum "Multikulti-Anything-Goes" geht es bei diesem Vorschlag darum, eine Kombination von kultureller Vielfalt und einem Konsens über eine wertebezogene Hausordnung, die für alle gilt, in einem demokratischen Gemeinwesen zu ermöglichen. Diesen Konsens nannte ich Leitkultur; sie lässt Vielfalt zu, bindet sie jedoch an einen Wertekonsens. Ich halte an diesem Konzept und mit dem Ziel der Integration in eine Bürger-Identität bis heute fest.
Mit der Wortschöpfung "Leitkultur" habe ich als Ausländer eine Debatte angestoßen. Zwei Jahre nach der oben angegebenen Veröffentlichung habe ich diesen Text komplett überarbeitet und in mein Buch Europa ohne Identität von 1998 (seitdem viele Auflagen, jedoch in drei unterschiedlichen Ausgaben) als Kapitel integriert.
Vorab zu beiden Debatten von 2000 und 2017 gilt es, diese Beobachtung vorzunehmen: Leider lesen die meisten deutschen Meinungsführer die Texte, über die sie eine Debatte führen, einfach nicht; sie unterstellen uninformiert Dinge, die einfach nicht zutreffen, ja sogar schädlich sind. So entsteht eine Slogan-beladene Links-Rechts-Polarisierung, durch die der Gegenstand selbst untergeht. Dies geschieht zudem ohne eine Debating Culture im demokratisch-angelsächsischen Sinne von "We agree to disagree, with respect". So schrieb der Spiegel abfällig, bei Leitkultur gehe es um eine "Operation Sauerkraut" (Heft 47/2000). An der einen Front haben die Linken die Leitkultur als "Hegemonialkonzept gegenüber Minderheiten" verworfen, an der anderen haben die Konservativen ihre "Bewahrung der deutschen Sitten und Gebräuche" als "Leitkultur" missdeutet, an die sich die Zuwanderer anzupassen haben. Beide liegen falsch und ich hoffe, dass mir die Richtigstellung gelingt.
Wertekonsens im Rahmen eines innergesellschaftlichen Friedens
Wer mein Buch Europa ohne Identität gelesen hat, weiß, dass es mir um einen Wertekonsens im Rahmen eines innergesellschaftlichen Friedens geht. Diesem stimmen alle Mitglieder eines kulturell vielfältigen demokratischen Gemeinwesens zu, unabhängig von ihrer Kultur und Religion. Leser meines angeführten Buches wissen, dass ich Anthony Giddens Buch Beyond Left and Right/Jenseits von Links und Rechts als Plädoyer dafür zitiere, die Links-Rechts-Polarisierung zugunsten einer Sach-Diskussion aufzugeben. Dies stieß gleichermaßen 2000 und 2017 auf taube Ohren. In seinem Aufsatz Auf die Frage: Was ist deutsch? bedauerte Theodor W. Adorno, dass Deutsche "unbequeme Gedanken" nicht mögen und "jede Abweichung gereizt ahnden". Dies habe ich als Syrer am eigenen Leibe in Deutschland erfahren.
Prof. Dr. Bassam Tibi, hier als Gast bei "Anne will" im Januar 2015. (© picture-alliance, Eventpress)
Prof. Dr. Bassam Tibi, hier als Gast bei "Anne will" im Januar 2015. (© picture-alliance, Eventpress)
Hier möchte ich meine Argumente als "unbequeme Gedanken" auf der Basis einer Neufassung meines Artikels von 2002 vortragen und eine Bilanz beider Leitkultur-Debatten von 2000 und 2017 ziehen. Mein Ausgang ist, dass jeder Mensch eine personale Identität besitzt, sie kann sich aber auch auf die Großgruppe einer kollektiven bzw. nationalen Identität beziehen. Meine Präferenz ist europäisch: das Individuum als Citoyen. Die zentrale Frage lautet: Wie können Menschen aus verschiedenen Kulturen und Nationen eine gemeinsame Bürgeridentität/Citoyenneté im friedlichen Miteinander ausbilden? In meinem Denken über Integration gehe ich von Individuen, nicht von Kollektiven aus, am allerwenigsten von organisierten Religionsgemeinden.
Mein Versuch, den Begriff einer europäischen (wohl eindeutig nicht deutschen) Leitkultur zu prägen, zielt darauf ab, einen an demokratischer, laizistischer sowie an der zivilisatorischen Identität Europas orientierten Wertekonsens zwischen Deutschen und Einwanderern umzusetzen. Ich tue dies mit dem Hintergrund, ein syrischer Migrant zu sein. Mein Ziel war und ist es, eine politikrelevante und sachliche Diskussion über Rahmenbedingungen von Migration und Integration anzustoßen. Ich muss aber eingestehen, bislang daran gescheitert zu sein. Mein Anspruch war und bleibt ein doppelter: Wir als nur fragil integrierte Migranten beanspruchen mitzureden; wir wollen nicht länger dulden, dass deutsche Gutmenschen als unser Vormund auftreten. Ferner sollte es möglich sein, eine Diskussion endlich in rationale Bahnen zu lenken, ohne Ausgrenzung, Keulen und unsachliche Polemiken, ganz im Sinne einer Debating Culture, die in Deutschland momentan fehlt. Im bereits zitierten Aufsatz Auf die Frage: Was ist deutsch? empfiehlt auch mein Lehrer Adorno Respekt für "unbequeme Gedanken".
Identität und Migration
Vorab möchte ich festhalten, dass sowohl die angestrebte Leitkultur als auch die Bürgeridentität frei von Religion und Ethnizität sein müssen. Warum? Eine ethnische Identität kann nicht erworben oder übertragen werden. So kann beispielsweise ein ethnischer Kurde kein Türke werden, ebenso wie ein Deutscher kein Araber – oder umgekehrt – werden kann. Aber eine zivilisatorische, an Werten als leitkulturellem Leitfaden orientierte Identität eines Citoyen im Sinne der Aufklärung können Menschen unabhängig von ihrer Religion oder Ethnizität erwerben. Ich bin der Meinung, dass ein ethnischer Araber islamischen Glaubens nur dann ein wahldeutscher Verfassungspatriot werden kann, wenn diese Person auf ethno-religiöse Bestimmung verzichtet und parallel dazu, dass Deutsche den Begriff "deutsch" "ent-ethnisieren". Dies geschieht erst dann, wenn die stofflich-ethnische Bestimmung der "Deutschen" zugunsten der Citoyen-Identität aufgegeben bzw. überwunden wird. Dieselbe Leistung müssen jedoch auch Migranten erbringen. Dieses Ziel kann aber nicht durch Selbstverleugnung erfolgen, wie etwa die türkischstämmige Staatsministerin für Migration, Flüchtlinge und Integration, Aydan Özoğuz, es von den Deutschen fordert, indem sie wirklich unzumutbar behauptete, außer der deutschen Sprache gebe es keine spezifisch-deutsche Kultur.
Die gewachsene Identität kann ethnisch-exklusiv sein – wie z. B. beim Deutschtum, Arabertum, Turktum – oder sie kann demokratisch offen sein wie etwa das französische Verständnis von Identität des Citoyen oder die angelsächsische Identität des Citizen. Aus diesem Grunde gibt der US-Soziologe Reinhard Bendix England und Frankreich, nicht aber Deutschland, als Modell für die westlichen Demokratien an. Die historischen Unterschiede zwischen beiden sind immens.
Der zentrale Begriff in meinem Leitkulturkonzept ist Identität. Hier können Europäer von den USA lernen. Francis Fukuyama schreibt: "Tibi’s original notion was exactly on the mark and it´s short shelf-life only serves to indicate how big an obstacle political correctness is to open discussion of national identity". Fukuyama meint, die Europäer könnten von den US-Amerikanern lernen in Bezug auf Erfahrung mit Integration und Identität: "Americans may indeed have something to teach Europeans with regard to the creation of an open national identity"
In Westeuropa hat es schon im 19. Jahrhundert Einwanderung von Ost- nach Westeuropa gegeben; aber diese Migranten (z. B. Polen in Deutschland) waren völlig anders als heutige; beide Migrationsmuster sind nicht vergleichbar. Damals waren die Newcomer zivilisatorisch vorwiegend zugleich Europäer und Christen und konnten so schnell assimiliert werden. Außerdem war die Einwanderung damals – auch statistisch – eher eine Randerscheinung, die nicht den Umfang der Völkerwanderungen von 2015/16 hatte und keine großen sozialen Probleme nach sich zog, wie die, die Europa heute hat. Vielfalt ist also nicht neu für Europa, jedoch nicht im modischen postmodernen Multikulti-Sinne. Ich trete für Pluralismus im klassischen Sinne
Ausnahmen bei der Migration gab es im 19. Jahrhundert bei den europäischen Kolonialmächten Frankreich und Großbritannien, die asiatische und afrikanische Einwanderer aus ihren Kolonien aufgenommen haben.
In unserer Gegenwart, also bereits vor der Flüchtlingskrise von 2015/16 mit der massenhaften Migration, hat es auch große Migrationsschübe gegeben, die die Identität des Kontinents graduell veränderten. Hierfür kennt die reiche und nuancierte deutsche Sprache Differenzierungen, die leider zu wenig genutzt werden. Dazu gehört die Unterscheidung zwischen Zuwanderung (wildwüchsig, schließt illegale Migration und Menschenschmuggel ein) und Einwanderung, die gesteuert, geordnet, rational reguliert erfolgt.
Leider vermisse ich in der deutschen Diskussion über die anstehende Thematik gleichermaßen Fachwissen und Rationalität sowie eine demokratische politische Kultur im Sinne von Debating Culture. Kein Zweifel: Deutschland braucht Einwanderung, nicht aber Zuwanderung, besonders solche nicht, die wildwüchsig verläuft. Der große Migrationsforscher Myron Weiner unterscheidet klar zwischen "wanted migrants", die das Land benötigt, und "unwanted migrants", die das Land belasten, gar bedrohen. Er tut dies in seinem zwei Jahrzehnte alten Standardwerk The Global Migration Crisis
Angesichts der globalen demografischen Veränderungen und des Migrationsdrucks aus Nahost und Afrika stehen europäische Gesellschaften – also nicht nur die deutsche – heute vor der Herausforderung und der Notwendigkeit, sich mit der Problematik der Zuwanderung bzw. Einwanderung auseinanderzusetzen. Dazu gehört ein Integrationskonzept, dass die europäische Identität bestimmt, um die Einwanderer einzugliedern.
Als in Deutschland lebender Einwanderer und Muslim und Urheber des Konzepts einer europäischen Leitkultur, die auch eine europäische Identität für Deutschland fordert, empöre ich mich über die Polemiken gegen dieses Konzept, das ich als Grundlage friedlichen Miteinanders, nicht Nebeneinanders, zwischen Einwanderern und ethnischen Deutschen geschaffen habe. Ich gehe weder hegemonial noch multikulturalistisch, sondern explizit kulturpluralistisch vor, ich nehme die Differenz/Vielfalt wahr, aber essentialisiere sie nicht, und ich lehne die Einordnung der Zuwanderer als Minderheiten mit Kollektivrechten bzw. Kollektividentität ab. Nach meiner Vorstellung von Leitkultur sind Menschen Individuen mit individuellen Rechten im Sinne des Citoyens. In Artikel 1 des Grundgesetzes ist die Rede vom Menschen als Individuum, nicht als Teil eines Kollektivs.
Die Leitkultur-Debatte 2017
Der Begriff Identität ist ein Bestandteil des Konzepts mit kulturpluralistischem Inhalt – in Abgrenzung zur Wertebeliebigkeit des Multikulturalismus; er fand in der Debatte 2017 allerdings keinerlei Beachtung. Außerhalb Deutschlands gilt die zivilisatorische und nationale Identität eines Landes als normal. Aus folgendem Grund ist dies aber ein sehr steiniger Weg in Deutschland: Wie wir aus der Arbeit von Mary Fulbrook wissen, wird diese Debatte über Deutschland von den Übeln der Vergangenheit belastet.
In diesem Klima einer vergifteten politischen Kultur versagt sich Deutschland eine demokratische Leitkultur sowie die hierzu gehörende eigene kulturelle Identität.
Diejenigen, die eine Leitkultur als Klammer zwischen Deutschen und Einwanderern ablehnen, verweisen auf die Gesetze und meinen, deren Befolgung durch Einwanderer sei ausreichend. Dies wäre praktisch eine Gleichsetzung von Verfassungspatriotismus (Sternberger und Habermas) mit einem "BGB-Patriotismus". Das ist natürlich sehr skurril.
Anlässlich einer Debatte im niederländischen Leiden zu einem Projekt über Islam und islamische Migranten in Europa
Selbst das Grundgesetz, das eine neue politische Post-Nazi-Kultur in Deutschland einführen sollte, wird heute – erstaunlicherweise – nicht von einem Demokratie-Theoretiker, sondern vom Präsidenten des Militärischen Abschirmdienstes, Christof Gramm, in der FAZ (vom 20. Juli 2017, S. 8.) zum formaljuristischen Gesetz. Nach Gramm beinhaltet die Verfassungskultur des Grundgesetzes "die Verpflichtung zur Rechtsbefolgung. Diese Grundpflicht gilt […] auch für Zuwanderer und andere Gäste". Ich schreibe laut widersprechend, dass ich als Migrant kein Gast, sondern Citoyen sein will, der durch eine Bürgeridentität und nicht formaljuristisch durch "Rechtsbefolgung" definiert wird. Der Chefredakteur der Neuen Züricher Zeitung, Eric Gujer, hat in seinem Artikel Deutschland, die Zensurrepublik (NZZ vom 13.04.2017) geschrieben: "Die Deutschen haben die tiefsitzende Neigung, alle politischen Auseinandersetzungen als Rechtsprobleme zu behandeln. Sie sollten sich mehr auf die Stärke ihrer Demokratie und die Selbstreinigungskraft der öffentlichen Meinung verlassen und weniger auf Paragrafen."
Auch 2017 bleibe ich dabei, dass Leitkultur hierzulande von dem Gedanken geleitet werden soll, dass Einwanderer durchaus eine Chance für die Deutschen sein können. Die Voraussetzung hierfür ist Bürgeridentität, nicht "Rechtsbefolgung" unter Androhung von Strafe, wie der Präsident des Militärischen Abschirmdienstes meint. Wenn Deutsche erkennen, dass ein demokratisch stabiles und funktionsfähiges Gemeinwesen sich nicht in einem Land entfalten kann, welches sich seine eigene Identität verbietet und durch zunehmende Migration ohne Leitkultur zu einem multikulturellen, d.h. wertebeliebigen – im Gegensatz zu kulturell vielfältigem – Siedlungsgebiet zerfällt, werden sie einsehen, dass eine Leitkultur im Sinne eines Wertekonsenses als Klammer zwischen ihnen und den Migranten benötigt wird. Nochmals: Leitkultur basiert auf kultureller Vielfalt als Kulturpluralismus, nicht auf einem "Anything-Goes"-Multikulturalismus. Auch 20 Jahre nach der Einführung des Konzepts bleibt es eine Aufgabe, die Debatte ernsthaft zu führen und hierbei zwischen demokratischen und undemokratischen Werten zu unterscheiden, also nicht primitiv "Sauerkraut" und "Knoblauch" zu bemühen, um das Konzept zu verfemen und die Debatte abzuwürgen.
Anstatt auf absurde Vorwürfe wie "Unwort des Jahres" oder dumme Überschriften wie Vielfalt statt Leitkultur (SZ vom 1./2. Juli 2017, S. 8) einzugehen, möchte ich anhand von zwei Leserbriefen aus den Reihen der CDU und SPD noch einmal das Niveau der Leitkultur-Debatte von 2000 veranschaulichen, das sich auch 2017 so unverändert zeigt. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hatte auf dem bisherigen Höhepunkt dieser Debatte in ihrer Ausgabe vom 29. Oktober 2000 die Seiten 180-183 meines Buches "Europa ohne Identität?" abgedruckt als einen Versuch, die Diskussion zu versachlichen. Es folgten zahlreiche Leserzuschriften, von denen keine auf den europäischen Inhalt des Begriffes einging, also die europäisch-zivilisatorischen Werte. Besonders bemerkenswert sind die diametral entgegengesetzten Stellungnahmen von zwei hessischen Politikern. Der CDU-Politiker Heinz Daum nimmt die Leitkultur-Debatte unter Berufung auf meinen Beitrag zum Anlass, zu einem Wahlkampf aufzurufen, "um Roten und Grünen die multikulturellen Flausen auszutreiben". Dagegen schreibt der SPD-Politiker Kadelbach auf derselben Leserbriefseite: "Eine deutsche Leitkultur . . . knüpft offen und schonungslos an den gewalttätigen Imperialismus von Wilhelm II. an . . . So wurde für die Nazis der gesellschaftlich-kulturelle Boden bereitet . . . Das ist die deutsche Leitkultur."
Leitkultur als Grundlage des Zusammenlebens
Es soll nochmals betont werden, dass es beim Konzept der Leitkultur darum geht, eine wildwüchsige Zuwanderung in eine an den Bedürfnissen des Landes und seine Fähigkeiten zur Integration orientierte Einwanderung zu verwandeln. Es bedarf einer Policy, um diese Einwanderer im Rahmen einer europäischen Identität zu integrieren. Genau darin besteht das Erfordernis einer rationalen Bewältigung unbestreitbar vorhandener Unterschiede und zugleich der Schaffung eines Konsenses über zentrale Normen und Werte hierzulande. Auch erkenne ich an, dass Einwanderung Grenzen hat sowie die Tatsache, dass das aufnehmende Land eine – wenngleich beschädigte – nationale Identität besitzt.
Zu den Haupthindernissen für die erfolgreiche Integration von Migranten in Deutschland gehört die Ethnisierung des Islam, die parallel zur ethnischen Bestimmung des Bürgers durch die Aufnahmegesellschaft verläuft.
Eine europäische Leitkultur, verbunden mit einer Europäisierung des Islam zum Euro-Islam, ist die Antwort auf die Islamisierung der Islam-Verbände. Dazu gehören
das Primat der Vernunft vor religiöser Offenbarung, d. h. vor der Geltung absoluter Wahrheiten;
individuelle Menschenrechte (also keine Minderheitenrechte als Gruppenrechte), zu denen im besonderen Maße die Glaubensfreiheit zu zählen ist;
eine säkulare, auf der Trennung von Religion und Politik basierende Demokratie
ein allseitig anerkannter Pluralismus sowie ebenso gegenseitig geltende Toleranz, die bei der rationalen Bewältigung von kulturellen Unterschieden hilft.
Die Geltung und Anerkennung dieser Werte als Leitkultur macht die Substanz der Zivilgesellschaft aus, Vielfalt im Rahmen von Pluralismus, nicht eine politische Kultur des "Anything Goes", d. h. der Beliebigkeit.
Auch 2017 bleibe ich meiner Bestimmung des Begriffs der Leitkultur von 1998 treu gegen jeden wertebeliebigen Multikulturalismus, aber auch gegen jede Monokultur. Eine zivilisatorische Selbstverleugnung Europas ist keine Lösung des Problems, ebenso wenig wie ethnisch-religiöse Parallelgesellschaften die Alternative zu einer ausschließlich ethnisch bestimmten Nation sein können. Ein laizistischer Pluralismus bezeichnet das Konzept, nach dem Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen zusammenleben und das Recht auf Anderssein und Andersdenken besitzen, sich gleichzeitig aber zu gemeinsamen Regeln – im Besonderen der gegenseitigen Toleranz und des gegenseitigen Respekts – verpflichten.
Die umrissene Problemlage erfordert ein "Rethinking of Multiculturalism" und eine Versöhnung von "Religious Commitment and Secular Reason".
Ich fasse kurz zusammen: Parallelgesellschaften und pluralistische Demokratie passen zusammen wie Feuer und Wasser. Ich bitte darum, diesen Text von 2017 in Verbindung mit meiner Auswertung der alten Leitkultur-Debatte von 2000 sowie der neuen von 2017 zu lesen.