Der junge, aber schnellwachsende Bereich der Terrorismusstudien wurde durch mehrere Ereignisse gekennzeichnet, die zu neuen theoretischen und konzeptionellen Entwicklungen und Schwerpunksetzungen geführt haben. Nach 9/11 hat sich die Erforschung des islamistischen Terrorismus deutlicher profiliert; die Anschläge in Madrid (11. März 2004) und London (7. Juli 2005) haben dem Westen die Problematik des "hausgemachten" Terrorismus und der "Radikalisierung" vor Augen geführt.
Der Aufstieg des Islamischen Staates und die Ausrufung des Kalifates, aber vor allem die Flut an aus Europa stammender Auslandskämpfer haben schließlich nach neuen Konzepten und neuen Erklärungsansätzen verlangt. So haben nun Subkultur und die Subkulturtheorie die neu entstandene Lücke erstmal gefüllt. Auch andere, "klassischere" Ansätze wurden fortgesetzt, vor allem deshalb, weil noch immer nicht geklärt ist, ob die Radikalisierung der Auslandskämpfer sui generis ist oder lediglich eine Weiterentwicklung der bisher bekannten Arten von Radikalisierungsprozessen. Auch wurden spezifische, historische Ansätze oder solche aus der Perspektive der Islamwissenschaften vorgeschlagen
Bemerkenswerterweise sind die IS-Anhänger teilweise nicht nur jung, sondern sehr jung. Eine quantitative Auswertung der persönlichen Hintergründe von 677 Personen, die aus Deutschland in Richtung Syrien oder Irak ausgereist sind, kommt auf einen Altersmittelwert von 25,9 Jahren, wobei die jüngsten Dschihadisten gerade mal 15 Jahre alt sind. Des Weiteren sei die zahlenmäßig größte Altersgruppe zwischen 22 und 25 Jahre und die nächstgrößte Altersgruppe zwischen 18 und 21 Jahre alt
Verfolgt man die Nachrichten und Selbstdarstellungen in sozialen Medien, ohne den typischen salafistischen Inhalten Aufmerksamkeit zu schenken, so könnte man den Eindruck gewinnen, dass es sich um eine ganz "normale" Jugendkultur handelt. Auch die Diskussionen in Foren drehen sich nicht nur um religiöse Gebote oder logistische Fragen, sondern auch um tagtägliche, jugendspezifische Themen. Liebe spielt eine nicht unbeträchtliche Rolle und kommt dem heldenhaften männlichen Selbstbild sehr entgegen. Manche junge Frauen verlieben sich tatsächlich in Dschihadisten oder finden sie zumindest attraktiv
Subkultur ist also nicht gleich Jugendkultur
Die stark politische Natur der Dschihad-Subkultur ist eine wichtige Erkenntnis, die dem möglichen Vorwurf entgegnet, das Konzept der Subkultur sei verniedlichend. Das hat auch Konsequenzen für die Art und Weise, wie sich diese Subkultur im individuellen Lebensverlauf entfaltet. Sie kann, muss aber nicht unbedingt "nur" eine Jugenderscheinung sein. Dementsprechend werden für manche Mitglieder die Träume von Ruhm, der Teilnahme am Erschaffen einer Utopie oder von Abenteuer platzen, sobald sie sich gezielt oder zufällig wieder im normalen Leben einfinden. Andere bleiben dabei und bauen ihren Lebensweg, ihre Karriere darauf auf
Was sind die Charakteristika der Dschihad Subkultur im Westen? Wir haben es erstens mit einem Lebensstil zu tun, bei dem der Fokus darauf liegt "ein guter Muslim" zu sein, was sich aber in keinerlei Weise darauf bezieht, wie viel Spiritualität man an den Tag legt oder inwiefern man sich in Islam(kunde), Ideologie (siehe hier
Darüber hinaus spielen auch andere Subkultur-typische Merkmale bei dieser Entscheidung eine Rolle, wie z.B. die Vorstellung einer Gemeinschaft, eines gemeinschaftlichen Lebens – viele der Männer reisen samt Ehefrauen; das Ausleben von Maskulinität, vom Martialischen
Wer sich um die Umwelt, Demokratie oder soziale Gerechtigkeit Sorgen macht, scheint hier bestens aufgehoben. Bilder, die entweder vom IS oder von westlichen Jugendlichen selbst verbreitet werden, zeigen Bio-Obst und Gemüse
Was uns neben der Frage nach den Charakteristika der Dschihad-Subkultur vielleicht am meisten beschäftigt, ist die Motivation der Ausreisenden, also die Frage: warum sie a) zu Dschihadisten werden und b) sich entscheiden nach Syrien zu fahren. Hier unterscheiden sich zwei Hauptansätze, sowohl in der Forschung, als auch in der "Praxis" – d.h. in der Deradikalisierungsarbeit. Einige Autoren haben den Dschihadismus beschrieben als ein autonomes System von Normen und Werten, das als Reaktion auf Frustration einen radikalen Gegenentwurf zum Mainstream darstellt
Der Fall Deso Dogg könnte z.B. auf verschiedene Weise interpretiert werden: als Rapper oder als ehemaliger Kleinkrimineller. Gemeinsam ist beiden die Betonung subkultureller Elemente, sowohl als Ausdrucksform, aber auch als Rekrutierungsmittel. Ob sie aus der Not heraus oder aus dem Wunsch nach Veränderung entsteht, die Motivation der gegenwärtigen jungen Dschihadisten ist stark subkulturell geprägt. Das hat wiederum Konsequenzen für die Art und Weise, wie man Radikalisierungsprozesse und Radikalisierungsmechanismen versteht und analysiert. Subkultur relativiert das "rationale" an Radikalisierung. Zum einen ist die bewusste Entscheidung einer Gruppe beizutreten, ein Foto zu posten oder bestimmte Kleidung zu tragen, von spezifischen, subkulturellen Merkmalen gekennzeichnet, die nicht immer im engen Sinne bewusst ausgewählt werden – siehe z.B. die Rolle des "Geschmacks" oder der "Mode". Die Rolle der Klicke als Resonanzboden ist größer als je zuvor und der Großteil des Radikalisierungsprozesses kann sich in Online-Gemeinschaften abspielen. Zum anderen bedarf es weniger Kenntnisse, um junge Rekruten zu begeistern. Früher ergab sich die Autorität des Predigers oder des Anwerbers aus besonderen religiösen oder politischen Kenntnissen oder der Kampferfahrung. Heute genügt eine imposante, rambo-artige Erscheinung, die durch Muskeln und provokante Sprüche imponiert: je krasser, desto besser.
In welcher Beziehung zum Mainstream steht letztlich die Dschihad-Subkultur? Im Normalfall ist die Beziehung zwischen Subkultur und Mainstream komplex und geht über einfache Konzepte von Distanz, Anderssein und Opposition hinaus. Auf der individuellen Ebene ist Subkultur durch ein Paradox des Individuellen und des Allgemeinen gekennzeichnet: der Nonkonformismus von Kleidung, Musik, Essen und Gewohnheiten in Bezug auf den Mainstream wird zum strikten Konformismus innerhalb der Gemeinschaft. Im ästhetischen Bereich ist diese Beziehung ein Hin und Her zwischen Individualisierung und Verallgemeinerung. Subkultur ist "Bricolage": eine Mischung aus bereits bestehenden Elementen, die zu etwas Neuem und Spezifischem werden. Dieses Spezifikum bleibt wiederum nur solange bestehen, bis der Mainstream es entdeckt und in sich integriert. Auf den ersten Blick würde das im Fall des Dschihadismus kaum geschehen – zu abstrus und menschenfeindlich sind die Symbole und die Handlungen, die sie inspirieren; die IS-Fahne wird vermutlich nie Platz auf einem Button bzw. größeren Zuspruch finden, wie es die Symbole der Friedens- oder Anti-AKW-Bewegung getan haben. Gleichzeitigt scheinen sich typische dschihadistische Termini in die "normale subkulturelle" Sprache einzuschleichen. So tauchen Zeilen wie "fick Karma ich bin Monotheist" oder "Messer ziehen Richtung Paradies" in den Texten aktueller deutscher Rapsongs auf