Lange ging man davon aus, dass islamistischer Radikalismus ein Importgut sei. Die in den letzten Jahren im Phänomenbereich "Islamistischer Terrorismus" gewonnenen Erkenntnisse belegen aber, dass Radikalisierungsprozesse auch in europäischen Gesellschaften stattfinden können. Die geschätzte Zahl der aus der EU nach Syrien und den Irak ausgereisten "ausländischen Kämpfer" liegt bei 7000 Personen. Diese Zahl ist jedoch relativ, da in den verschiedenen EU-Staaten uneinheitlich gezählt wird. Die meisten dieser Kämpfer kommen aus westeuropäischen Ländern mit einer großen muslimischen Gemeinde und hatten vor ihrer jeweiligen Ausreise regen Kontakt zur jeweiligen salafistischen
Syrien-Ausreisende und -Rückkehrer Ein Überblick
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Rund 680 Personen aus Deutschland zwischen 13 und 63 Jahren haben sich auf den Weg nach Syrien gemacht, um sich der Terrormiliz IS anzuschließen. Die meisten sind zwischen 16 und 25 Jahre alt. Was motiviert vor allem junge Männer, für den Islamischen Staat zu morden? Wie sollen wir mit den Rückkehrern umgehen?
Gründe für die Radikalisierung
Es gibt viele Ursachen für Radikalisierung. Sie ist keine Frage des Geschlechts oder der sozialen Herkunft und kann in allen Ebenen der Gesellschaft stattfinden, unabhängig von wirtschaftlichen Gegebenheiten oder Schulabschlüssen. Obwohl Radikalisierung ein individueller Prozess ist, lassen sich zumindest bei den deutschen Aktivisten Ähnlichkeiten in der Biographie feststellen: Bei den Ausreisenden handelt es oft um Jugendliche mit Identitätsproblemen auf der Suche nach starken Gruppenerlebnissen und Lebenssinn. Sie wollen eine Rolle in der Gesellschaft haben, die ihnen oft – so ihre eigene Wahrnehmung – verwehrt wird. Von ihren Eltern bekommen sie den Vorwurf zu hören "wie die Deutschen zu sein", von der Gesellschaft werden sie als "Muslime" problematisiert. So brechen viele im Kontext ihrer Radikalisierung mit ihrem bisherigen sozialen Umfeld. Die Loslösung von der Familie und dem bisherigen Freundeskreis im Vorfeld der Ausreise wird meistens von der wachsenden Einbindung in eine salafistische Gruppe begleitet.
Bei genauer Betrachtung lassen sich die Ausreisenden grob in vier Kategorien typisieren, wobei Mischmotivationen die Regel sind:
ideologisch Überzeugte,
Abenteurer und Mitläufer,
"Neu- und Wiedergeborene", die ihre meist kriminelle Vergangenheit damit abbüßen wollen
und diejenigen, die glauben, dass sie ihre Gewalt- und Tötungsphantasien im Bürgerkrieg unbestraft ausleben können.
Die Betroffenen sehen Gewalt als berechtigtes Instrument im Jihad, um übergeordnete Ziele zu erreichen.
Ideologische Dimension des Radikalisierungsprozesses
Jihadistische Salafisten vertreten eine islamistische Ideologie, die sich an dem Vorbild der Gründerväter der islamischen Religion orientiert und eine vermeintlich ideale islamische Gesellschaft erschaffen will. Die grundlegenden Quellen des Islam – der Koran und die Überlieferungen des Propheten Muhammad (Sunna) – sind ihre unveränderbaren Grundfesten. In Abgrenzung zu der Mehrheit der Muslime lehnen sie jede Anpassung der Interpretation der autoritativen Quellen an veränderte gesellschaftliche und politische Gegebenheiten als "unislamische Neuerungen" (arab. bid’a) kategorisch ab. Diese Neuerungen führen – der salafistischen Vorstellung nach – zwangsläufig zum "Unglauben". Zudem vertreten sie ein dualistisches Weltbild, das nur noch aus Gläubigen und Ungläubigen (arab. kuffar) besteht. Zu diesen Ungläubigen zählen neben den "üblichen" Atheisten, Juden und Christen auch alle nichtsalafistischen Muslime.
Ein Umgang mit diesen ist zu begrenzen und wenn möglich ganz zu vermeiden, da sie die "wahren" Muslime diskriminieren würden. Eben diese Diskriminierungsgefühle werden geschürt und instrumentalisiert, um Anhänger anzuwerben. Die jihadistischen Salafisten legitimiert ihre Aktionen durch die Religion und vertreten die Position, dass der militärische Jihad eine Pflicht für jeden Muslim ist und im Prinzip keine Beschränkungen in der Wahl der Mittel kennt. Dies gilt bis das Ziel der universellen Umsetzung islamisch-weltanschaulicher Prinzipien erreicht wurde. Somit ist der Jihadismus eine klare Kampfdoktrin, die jeden Gläubigen verpflichtet, den Kampf für die Errichtung und Bewahrung eines islamischen Staates aufzunehmen.
Politische Dimension des Radikalisierungsprozesses
Betrachtet man die Funktionsweise und Rekrutierungsstrategie des IS, so wird man feststellen, dass die Ideologisierung und die Polarisierung das Hauptelement ihrer Erfolgsstrategie darstellt.
Des Weiteren wird von ihnen angekreidet, dass sie in den westlichen Gesellschaften aufgrund ihrer religiösen Identität ausgegrenzt werden.
Psychologische Dimension des Radikalisierungsprozesses
Der IS profitiert von unterschiedlichen sozial-psychologischen Elementen innerhalb der Islamdiaspora. Viele junge Menschen leben und denken durch die mediale Verbindung zu ihren Herkunftsländern an und in heimischen Konflikten.
Solche Erfahrungen prägen Kinder sowie Heranwachsende und machen sie besonders sensibel für vermeintliche Ungerechtigkeiten. Man kann bei diesem komplexen Vorgang von einem kannibalischen Narzissmus sprechen, denn es läuft eine kontinuierliche Entwertung der bestehenden Machtverhältnisse ab.
Soziologische Dimensionen des Radikalisierungsprozesses
Radikalisierungsprozesse laufen oft in salafistischen Gruppen ab. Dabei liefert die Gruppe eine Gruppenidentität, die die individuelle Identität mit all ihren Schwächen überschattet.
Die Kräfte, die dadurch entwickelt werden, können auch in Sekten beobachtet werden. Je stärker sich eine Person in die Gruppe eingliedert, umso weiter entfernt sie sich von ihrer ursprünglichen Lebenswelt. Eine Integration in die Gruppe bedeutet die komplette Auflösung des Individuums im Sinne der Gruppenidentität und der damit verbundenen hierarchisch einbahnigen totalen Kontrolle durch die Gruppe. Von religiösen Sekten wissen wir, dass nicht nur soziale Kontakte vorgeschrieben werden, sondern auch, dass Verehelichung von Gruppenmitgliedern diktiert wird. In salafistischen Gruppen können wir ähnliche Strukturen beobachten. Zwischen den Gruppenmitgliedern entwickeln sich im Laufe der Zeit existenzielle Bindungsverhältnisse.
Umgang mit Syrienrückkehrern – zwischen Repression und Reintegration
Etwa ein Drittel der Ausgereisten ist wieder zurückgekehrt. Für deutsche Behörden stellen vor allem diejenigen Jihadisten, die vom "Heiligen Krieg" zurückkehren, eine besondere Bedrohung dar, weil sie Erfahrungen im Kampfeinsatz, in der Schusswaffennutzung, im Bombenbau oder in der Rekrutierung von neuen Anhängern mitbringen. Einige der Rückkehrer sind traumatisiert und desillusioniert, andere sind radikalisiert und kommen mit dem Auftrag und dem Willen zurück, den Terror nach Deutschland zu bringen. Ihre Hemmschwelle zu aktiver Gewalt könnte deutlich gesunken sein. Daher müssen Syrienrückkehrer gemäß der derzeitigen Rechtsprechung damit rechnen, dass gegen sie Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat geführt werden. Das hat damit zu tun, dass die Bundesanwaltschaft die Mittel des Terrorismusstrafrechts möglichst effektiv einsetzen möchte, um die Bevölkerung vor möglichen Anschlägen zu schützen, denn die Rückkehrer werden als unkalkulierbares Risiko gesehen. In diesem Kontext wurden die Mittel für Bundespolizei, Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz erhöht und 750 neue Stellen geschaffen.
Bei vielen Rückkehrern ist es trotz Ermittlungsverfahren oft unbekannt, ob sie tatsächlich militärisch ausgebildet wurden. Und vor allem ist es sehr schwer ihnen rechtstaatlich nachzuweisen, dass und in welchem Umfang sie an Kriegsverbrechen beteiligt waren. Zumal die rechtliche Grundlage für eine Verurteilung dieser nicht unbedingt sicher ist. Somit sind die Gerichte auf die Aussagen von Betroffenen angewiesen.
In der Stadt Aarhus in Dänemark hat sich eine andere Philosophie durchgesetzt. Dort wird argumentiert, dass Jihadisten, die in Syrien oder im Irak gekämpft haben, nach der Rückkehr in ihre Heimatländer eine Gefahr sein können, wenn sie ausgegrenzt werden. Daher wurde dort ein Sonderprogramm eingeführt, das die Betroffenen, denen man nicht nachweisen kann, dass sie an terroristischen Aktionen beteiligt waren und die damit nicht verurteilt werden können, in die Gesellschaft eingliedern soll. Die Reintegration in die Gesellschaft umfasst psychologische und medizinische Hilfe und die Unterstützung bei der der Job- und Wohnungssuche. Des Weiteren wird den Rückkehrern ein Mentor zur Seite gestellt.
Dieser Ansatz aus Dänemark macht deutlich, dass im Kontext einer rechtsstaatlichen Kultur die Reintegration dieser Personen unerlässlich ist. Selbst wenn man diesen Personen Gesetzesverstöße nachweisen kann, stellt sich unmittelbar nach der Verurteilung die Frage, wie verhindert werden kann, dass diese Personen in der Haft radikalisierend auf andere Insassen einwirken bzw. wie eine Deradikalisierung der betroffenen Personen erfolgen kann. Hierbei muss immer bedacht werden, dass die Resozialisierung, also die Wiedereingliederung von Verurteilten in das soziale Gefüge der Gesellschaft, eines der Ziele einer Haftstrafe ist. Die Abkehr von Radikalität und extremistischen Neigungen ist ein langwieriger Lernprozess und bedarf der intensiven Sozialarbeit. Trotz der vielen Fälle und der steigenden Anzahl von Verurteilungen haben wir in Deutschland keine flächendeckenden Projekte der Resozialisierung.
Diejenigen, die nach Rückkehr mangels Beweise nicht verurteilt werden, sind eine besondere Herausforderung sowohl für die sicherheitspolitisch relevanten Akteure als auch die Präventionsarbeit. Für Polizei und Verfassungsschutz sind sie gewissermaßen eine deutliche Überforderung, die die Kapazität überdehnt. Eine 24-Stunden-Überwachung ist derart personal- und ressourcenintensiv, dass sie illusorisch wirkt. Auf der anderen Seite ist die Präventionsarbeit auf die freiwillige Teilnahme der Personen angewiesen. Es gibt keine gesetzliche Handhabe sie in die Maßnahme zu zwingen. Die Präventions- und Deradikalisierungsarbeit mit diesen Personenkreisen ist zeitintensiv und langwierig. Und es fehlt momentan an Projekten und qualifiziertem Personal.
Die Erkenntnisse und die darauf basierenden Einteilung der Motivationen basieren auf biographischen Analysen, Interviews mit Betroffenen und der Auswertung von Experteninterviews. Hierbei wurden Personen befragt, die in der praktischen Präventions- und Deradikalisierungsarbeit aktiv sind. Ferner wurden Gerichtsurteile, Eigendarstellungen von Jihadisten in den Sozialen Foren und propagandistische Verlautbarungen ausgewertet. Dieser Artikel ist ein Extrakt aus einer noch nicht veröffentlichten Studie des Autors.
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Dr. phil., geb. 1975; Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Landeskriminalamt Rheinland-Pfalz, Valenciaplatz 1-7, 55118 Mainz. E-Mail Link: mabouta@yahoo.com
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