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Die OSZE – ein Erfolgsmodell muss sich neu erfinden | OSZE | bpb.de

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Die OSZE – ein Erfolgsmodell muss sich neu erfinden

Lutz Schrader

/ 9 Minuten zu lesen

In der Ukraine-Krise hat sich gezeigt, dass die OSZE unentbehrlich ist. Doch steckt die Organisation spätestens seit 2010 in einer tiefen Krise. Die westlichen Staaten und Russland sind sich uneinig darüber, in welche Richtung sich die Organisation entwickeln soll.

US-Präsident Gerald Ford (links), Sowjet-Präsident Leonid Breschnew und der sowjetische Ministerpräsident Andrei Gromyko (rechts) vor der Botschaft der UdSSR in Helsinki während der CSCE-Konferenz im August 1975. (© dpa, Lehtikuva)

Die Gründung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) geht auf die Hochphase der Entspannungspolitik zwischen Ost und West Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre zurück. Damals sind die westlichen Staaten auf die Vorschläge der Sowjetunion eingegangen, die von Moskau seit den 1950er Jahren zu unterschiedlichen Anlässen und in unterschiedlichen Formulierungen vorgebracht worden waren.

Der Westen war lange nicht bereit gewesen, sich mit der UdSSR und ihren mittel- und osteuropäischen Verbündeten auf Verhandlungen über eine Entspannung, Verregelung und Weiterentwicklung der gegenseitigen Beziehungen einzulassen. Konservative Kräfte hofften vielmehr, den "Ostblock" hauptsächlich mit Mitteln des überlegenen militärischen Drucks, der Beschränkung des wirtschaftlichen und technologischen Austauschs und der aktiven Propaganda eindämmen, schwächen und zurückdrängen zu können.

Die KSZE als Erfolgsmodell

Erst mit der Veränderung der politischen Stimmung und der Mehrheitsverhältnisse in wichtigen westlichen Staaten Mitte der 1960er Jahre eröffnete sich die Chance für eine politische Neuausrichtung. Die Blaupause für die "Neue Ostpolitik" formulierte Egon Bahr am 15. Juli 1963 an der Evangelischen Akademie Tutzingen. Bahr war damals Pressesprecher und Berater des Regierenden Bürgermeisters von Westberlin, Willy Brandt (SPD). In seiner programmatischen Rede formulierte Bahr das zentrale Motto dieser Politik: "Wandel durch Annäherung".

Das Neue daran war, dass nicht das Trennende, sondern das Verbindende zwischen Ost und West in den Vordergrund gerückt wurde. Bei Anerkennung unterschiedlicher Sichtweisen und Positionen wurde die Suche nach gemeinsamen Interessen und Möglichkeiten der Verständigung und Zusammenarbeit in den Vordergrund gerückt. Friedenssicherung durch Abrüstung, Akzeptanz des territorialen und machtpolitischen Status quo, Entwicklung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und Erleichterungen im grenzüberschreitenden humanitären Austausch bildeten die Eckpfeiler des Konzepts.

Ende der 1960er Jahre wurden diese Ideen schrittweise in praktische Politik umgesetzt. Dazu gehörten neben der Normalisierung der bilateralen Beziehungen der Bundesrepublik zu den mittel- und osteuropäischen Staaten, darunter der DDR, der Beginn von Verhandlungen über nukleare und konventionelle Rüstungskontrolle und Abrüstung und eben auch der Start von Gesprächen zu einer von der Sowjetunion und ihren Verbündeten vorgeschlagenen "gesamteuropäischen Sicherheitskonferenz".

Nach zweijährigen Verhandlungen (September 1973 bis Juli 1975) wurde am 1. August 1975 die Schlussakte von Helsinki unterschrieben. Dabei handelt es sich nicht um einen völkerrechtlichen Vertrag, sondern um eine Selbstverpflichtung der Unterzeichnerstaaten. Sie betreffen drei Bereiche der Zusammenarbeit – die sogenannten Körbe. "Korb I" beschäftigt sich mit Sicherheitsfragen. Kern sind die zehn Prinzipien, nach denen die Teilnehmerstaaten künftig ihre Beziehungen gestalten wollten. Außerdem enthält der Abschnitt Absprachen über vertrauensbildende Maßnahmen im militärischen Bereich. Gegenstand von "Korb II" ist die Zusammenarbeit in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft, Technik und Umwelt. "Korb III" umfasst die Vereinbarungen über die Zusammenarbeit im humanitären und kulturellen Bereich mit dem sensiblen Thema der Menschenrechte.
Die historische Bedeutung der Schlussakte besteht darin, dass es gelang, die Repräsentanten der zwei sich erbittert bekämpfenden politischen Systeme auf Regeln eines grundsätzlich friedlichen und kooperativen Wettbewerbs festzulegen. Beide Seiten verpflichteten sich, sowohl in ihren Beziehungen als auch innerhalb ihrer Staaten und Gesellschaften auf die Anwendung von Gewalt zu verzichten. Der "Geist von Helsinki" hat zweifellos mit dazu beigetragen, dass der politische und soziale Wandel in den realsozialistischen Staaten Mittel- und Südosteuropas weitgehend friedlich verlaufen ist.

Die Gründung der OSZE

Die Implosion des sowjetischen Imperiums in Mittel- und Osteuropa Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre veränderte die geopolitischen und normativen Koordinaten der europäischen Politik tiefgreifend. Das westliche liberale Politik- und Wirtschaftsmodell schien sich endgültig durchgesetzt zu haben. Das spiegelte sich auch in der "Charta für ein neues Europa" wider, die die Staats- und Regierungschefs der 34 KSZE-Staaten auf ihrem Gipfeltreffen vom 19. bis 21. November 1990 in der französischen Hauptstadt verabschiedeten.

In dem Dokument heißt es: "Nun ist die Zeit gekommen, in der sich die jahrzehntelang gehegten Hoffnungen und Erwartungen unserer Völker erfüllen: das unerschütterliche Bekenntnis zu einer auf Menschenrechten und Grundfreiheiten beruhenden Demokratie, Wohlstand durch wirtschaftliche Freiheit und soziale Gerechtigkeit und gleiche Sicherheit für alle unsere Länder." Die Charta von Paris verhieß den Wandel der KSZE von einer vorübergehenden Übereinkunft zwischen rivalisierenden Staaten hin zu einer auf gemeinsamen Werten gegründeten internationalen Organisation.

Die Hochphase der KSZE gipfelte 1994 konsequenterweise in ihrer Umwandlung in die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Der Beschluss trat am 1. Januar 2005 in Kraft. Der OSZE gehören heute 57 Staaten in Nordamerika, Europa und Asien an. Sie ist damit die weltweit größte regionale Sicherheitsorganisation. Sie hat sich auf ihre Fahnen geschrieben, für die mehr als eine Milliarde Menschen in ihren Mitgliedsstaaten für Frieden, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Stabilität zu wirken.

Die Krise der Organisation

Doch bereits in den Anfangsjahren der OSZE wurde das Fortbestehen tiefer Interessenunterschiede zwischen den westlichen Staaten auf der einen Seite und Russland und seinen Verbündeten auf der anderen Seite deutlich. Die USA waren nicht an der Stärkung der OSZE interessiert. Die Zustimmung der damaligen US-Administration unter Bill Clinton zur Umwandlung der KSZE in eine Organisation entsprang vorrangig dem Kalkül, den Russen eine NATO-Osterweiterung schmackhafter zu machen, indem man russischen Vorschlägen geringfügig entgegengekommen sei, den Status der KSZE zu erhöhen. Bereits auf dem Prager Treffen des Hohen Rates (März 1995) erteilten die amerikanischen Vertreter dem russischen Vorschlag, die OSZE zu einer Organisation für "universelle und umfassende Sicherheit im 21. Jahrhundert" weiterzuentwickeln, eine Absage.

Die USA und die meisten westlichen Länder setzten weiterhin unbeirrt auf ihre bevorzugte Strategie, Sicherheit und Zusammenarbeit auf dem europäischen Kontinent hauptsächlich durch die Erweiterung der NATO und der EU zu stärken. Mandat und Tätigkeit der OSZE sollten dagegen vorrangig auf die Überprüfung der Einhaltung der Menschenrechte sowie die Vorbeugung und Regelung ethnischer und religiöser Spannungen und Konflikte in Südosteuropa und im post-sowjetischen Raum beschränkt bleiben.

Beides – die Ablehnung der russischen Vorschläge über die Entwicklung der OSZE zu "einer Art regionalen UNO" und die Verengung ihres Mandats auf die Überwachung von Wahlen und Menschenrechten und die Konfliktregelung auf die Staaten des ehemaligen "Ostblocks" – löste in Moskau zunehmend Frust aus. Von russischer Seite wurde immer nachdrücklicher auf die "eklatante Unausgewogenheit im politischen Profil der OSZE verwiesen, und zwar sowohl funktional (Überbetonung der Menschenrechts- und Demokratiethemen) als auch geographisch (die östlichen Teilnehmerstaaten würden immer wieder kritisch betrachtet, die NATO- und EU-Mitgliedstaaten kaum)."

In den folgenden Jahren hat die "wohlwollende Vernachlässigung" (Jonathan Dean) der OSZE durch die USA und die meisten anderen westlichen Staaten mit dazu beigetragen, genau jene Entwicklungen herbeizuführen, die eigentlich mit der westlichen Strategie "NATO first" verhindert werden sollten: das Wiedererstarken antiwestlicher Ressentiments und imperialer Ambitionen in Russland. Die mangelnde Berücksichtigung der russischen Interessen und Initiativen durch den Westen hat Moskau dazu veranlasst, sich verstärkt nach Alternativen zur strategischen Partnerschaft mit dem Westen im Allgemeinen und zur OSZE im Besonderen umzusehen. Der Westen, der sich als Gewinner der Geschichte fühlte, verpasste so die historische Chance, Russland kooperativ und "auf Augenhöhe" in die Werte- und Interessengemeinschaft der liberalen westlichen Staaten einzubinden.

Bemühungen um einen Neuanfang

Seitdem die Krise auf dem bislang letzten Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer der OSZE am 1. und 2. Dezember 2010 in der kasachischen Hauptstadt Astana offen ausgebrochen war , änderte sich zunächst nicht viel. Zwar gab es mehrere Initiativen, Gesprächsrunden und Zusammenkünfte mit dem Ziel, die Krise zu überwinden und die Organisation zu reformieren. Auf den "Korfu-Prozess" (2009) folgten die "V-V-Dialoge" ("from Vancouver to Vladivostok via Vienna and Vilnius") (2011) und der "Helsinki+40-Prozess" (2012). Die Initiatoren sahen im für 2015 anstehenden 40jährigen Jubiläum der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki eine gute Gelegenheit, Bilanz zu ziehen und der gemeinsamen Arbeit an einer paneuropäischen Sicherheitsgemeinschaft einen neuen Impuls zu geben. Doch zerschellten alle Bemühungen an den unterschiedlichen Positionen und Interessen Russlands und der westlichen Staaten.

Immerhin wurde die Organisation breiter und bunter. Auf der Suche nach einer gestärkten Legitimität und nicht zuletzt dank der Initiativen der Länder, die in den letzten Jahren den Vorsitz innehatten, kamen zahlreiche neue Tätigkeitsfelder und Aufgaben hinzu. Dies zeigt, dass die Staaten der euro-atlantischen Region nach wie vor eine ähnliche Wahrnehmung bestehender Bedrohungen teilen und über zahlreiche gemeinsame Interessen verfügen.

Die Tätigkeitsfelder der OSZE (© OSCE, Externer Link: http://www.osce.org/node/35780)

Die heutigen Handlungsfelder der OSZE sind:

  • Arms control (Rüstungskontrolle)

  • Border management (Stärkung des Grenzmanagement)

  • Combating human trafficking (Bekämpfung des Menschenhandels)

  • Combating terrorism (Bekämpfung des Terrorismus)

  • Conflict prevention and resolution (Konfliktprävention und -lösung)

  • Democratization (Demokratisierung)

  • Economic activities (wirtschaftliche Aktivitäten)

  • Education (Bildung)

  • Elections (Wahlbeobachtung)

  • Environmental activities (Umweltschutz)

  • Gender equality (Gender-Gerechtigkeit)

  • Good governance (Gutes Regieren)

  • Human rights (Einhaltung und Schutz der Menschenrechte)

  • Media freedom and development (Freiheit und Entwicklung der Medien)

  • Minority rights (Minderheitsschutz)

  • Policing (Polizeireform)

  • Reform and cooperation in the security sector (Reform und Zusammenarbeit im Sicherheitssektor)

  • Roma and Sinti (Schutz und Förderung von Sinti und Roma)

  • Rule of law (Stärkung von Rechtsstaatlichkeit)

  • Tolerance and non-discrimination (Toleranz und Nicht-Diskriminierung)

Die Eskalation der Ukraine-Krise im Herbst 2013 und Frühjahr 2014 läutete eine so kaum noch erwartete Renaissance der OSZE ein. Während der dramatischen Ereignisse konnten weder die NATO noch die EU als glaubwürdige Vermittler auftreten. Sie waren in der sich von Jahr zu Jahr verhärtenden Rivalität zwischen den westlichen Staaten und Russland zu Konfliktparteien geworden. Als Organisation, die den Job glaubwürdig übernehmen konnte, kam allein die OSZE in Frage.

In dieser Situation war es ein Glücksfall, dass am 1. Januar 2014 die Schweiz den Vorsitz der OSZE übernahm. Sie sorgte mit ihrem Standing und ihrer Erfahrung nicht nur für eine schnelle Aktivierung der Frühwarnung und den Einsatz der Special Monitoring Mission vor Ort (siehe auch: Interner Link: Die OSZE und der Ukraine-Konflikt: erste Lehren für das Krisenmanagement), sondern nutzte zugleich das Momentum, um einen neuen Anstoß für eine grundlegende Reform der Organisation zu geben. Dazu rief der damalige Amtierende Vorsitzende, der Schweizer Außenminister und Bundespräsident der Schweizerischen Eidgenossenschaft, Didier Burkhalter, im Dezember 2014 einen "Weisenrat" aus fünfzehn namhaften Persönlichkeiten aller OSZE-Regionen ins Leben. Das Gremium hat bisher mehrere programmatische Dokumente erarbeitet. Im Juni 2015 erschien ein Bericht zu den Erfahrungen des Engagements der OSZE in der Ukraine ("Lessons learned for the OSCE from its engagement in Ukraine"). Im Dezember 2015 folgte unter dem Titel "Back to Diplomacy" ein Bericht mit Empfehlungen zur "europäischen Sicherheit als gemeinsames Projekt".

Die Erklärung und die Empfehlungen des "Weisenrates" laufen insgesamt auf eine Bekräftigung der bisherigen westlichen OSZE-Strategie hinaus. Bereits während der Beratungen zeichnete sich ab, dass der russische Vertreter, Sergey Karaganov, der Erklärung nicht zustimmen würde. In einem "Brief des Nichteinverständnisses", der dem Dokument beigefügt ist, heißt es: "Das Papier ist in Substanz, Logik und Empfehlungen grundsätzlich ein altes westliches (auch wenn ich mit einigem davon einverstanden bin)."

Die OSZE steht offenbar vor einem Scheideweg. Entweder sie hält an der Vision einer vom westlichen Modell geprägten Wertegemeinschaft fest und setzt darauf, dass Russland und seine Verbündeten früher oder später einlenken. Oder sie besinnt sich wieder stärker auf ihre Erfahrungen als Brückenbauer zwischen Ost und West. Ein erster Schritt könnte sein, dass sich Vertreter politischer Parteien, Medien, wissenschaftlicher Institute und zivilgesellschaftlicher Organisationen in unterschiedlichen Foren unvoreingenommen darüber austauschen, wie ihre politischen und wirtschaftlichen Systeme funktionieren. Dadurch könnten das gegenseitige Verständnis und Vertrauen wieder wachsen.

Literatur

Links

Weitere Inhalte

Dr. Lutz Schrader (Jg. 1953) ist freiberuflicher Dozent, Berater und Trainer mit dem Schwerpunkt Friedens- und Konfliktforschung sowie Konfliktberatung. Arbeits- und Forschungsthemen sind die Konflikte im westlichen Balkan, Handlungsmöglichkeiten zivilgesellschaftlicher Akteure in bewaffneten Konflikten und Post-Konfliktgesellschaften, Verfahren der Konflikttransformation sowie Friedens- und Konflikttheorien.