Die Annexion der Krim im Frühjahr 2014 und die bis heute anhaltende politische, wirtschaftliche und militärische Unterstützung der prorussischen Separatisten im Osten der Ukraine durch Russland haben die OSZE mit einem Schlag aus ihrem Dornröschenschlaf gerissen. Nachdem 1990 alle Mitglieder der OSZE-Vorgängerorganisation KSZE die Charta von Paris unterzeichnet hatten, war die OSZE in den 1990er und 2000er Jahren in politischer Bedeutungslosigkeit versunken. Angesichts der Bedrohlichkeit und Eskalationsgefahr der Ukraine-Krise erinnerten sich die Staats- und Regierungschefs plötzlich wieder an jene sicherheitspolitische Organisation, in der alle Staaten zwischen Vancouver und Wladiwostok, also auch die Nachfolgestaaten der Sowjetunion sowie die USA und Kanada Mitglied sind.
Dies bewog den deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier dazu, als Repräsentant der Bundesrepublik den OSZE-Vorsitz im Jahr 2016 zu übernehmen. Inmitten der schwersten Krise der europäischen Sicherheitsordnung seit 1990 hoffte die Bunderegierung, mithilfe der OSZE den Dialog zwischen Russland und dem Westen zu erneuern, Vertrauen wiederaufzubauen, und Sicherheit wiederherzustellen. Aber kann die OSZE nun wirklich als Brücke zwischen Ost und West dienen? Um diese Frage beantworten zu können, lohnt ein Blick darauf, was es eigentlich zu überbrücken gilt.
Tiefe Meinungsverschiedenheiten über die Prinzipien der europäischen Sicherheit
Im Hinblick auf die Zukunft des Friedens in Europa haben Russland und der Westen zwei diametral unterschiedliche und sich gegenseitig ausschließende Positionen entwickelt. Beide Seiten interpretieren die Kernprinzipien der europäischen Sicherheitsordnung, wie sie sich gegen Ende einer langen Periode des Kalten Krieges in Europa herausgebildet haben, sehr unterschiedlich: Das Prinzip der staatlichen Souveränität und der territorialen Integrität, das Gewaltverbot, die Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, die Unverletzlichkeit der Grenzen und das nationale Selbstbestimmungsrecht. Die Auseinandersetzung, mit der wir es zu tun haben, dreht sich also um nichts weniger als um die Bedeutung und die Auslegung der Grundprinzipien, auf denen die gesamte europäische Sicherheitsordnung ruht. Diese Prinzipien – insgesamt zehn – wurden in den Gründungsdokumenten der Organisation, der Schlussakte von Helsinki (1975) und der Charta von Paris (1990) verankert.
Die Unterschiedlichkeit der Positionen erklärt sich aus der Geschichte heraus. Der Kreml sah die KSZE-Schlussakte – in der Tradition der Abkommen von Jalta und Potsdam – vor allem als Dokument, das die territoriale Aufteilung Europas in Interessenssphären und Einflusszonen zwischen Russland und dem Westen fortgeschrieben hat. Noch heute begreift Russland den post-sowjetischen Raum als eigene Einflusssphäre – als "Hinterhof". Wenn Moskau also innerhalb der OSZE von der Notwendigkeit eines "neuen Helsinki-Abkommens“ für Europa spricht, meint es in Wahrheit ein "neues Jalta"
Hier sind wir beim Kern des Konflikts zwischen Russland und dem Westen angelangt. Auch wenn Russland im Vergleich zur Sowjetunion einen großen Teil seines Territoriums durch die Loslösung der nicht-russischen Republiken verloren hat, möchte Moskau doch diese neuen Staaten als historisch angestammte Einflusssphäre behalten. Deshalb soll verhindert werden, dass diese Länder dem westlichen Wirtschafts-, Kooperations- und Sicherheitssystem in Gestalt von EU und NATO beitreten. Aus diesem Grund ist aus Russland immer wieder zu hören, dass das Ende der Blockkonfrontation 1990 das Ende "festgefügter Vereinbarungen" eingeläutet und in Europa ein Vakuum hinterlassen habe. Für Moskau ist die nach dem Ende des Kalten Krieges entstandene "neue Weltordnung“ nicht in Stein gemeißelt – und ihre Prinzipien nicht universell gültig.
In den Staaten der Europäischen Union, in den USA und Kanada, aber auch in der Ukraine und in Georgien herrscht demgegenüber die Überzeugung, dass die in der Charta von Paris 1990 vereinbarten Prinzipien und Grundsätze sehr wohl "festgefügte Vereinbarungen" darstellen, die auch für Russland gelten. Sie verweisen darauf, dass die ehemaligen Sowjetrepubliken mit dem Ende der Sowjetunion formell einwilligten, gegenseitig ihre Grenzen und ihre territoriale Integrität zu achten sowie ehemals innerstaatliche Grenzen nun als internationale Grenzen ohne Wenn und Aber anzuerkennen. Auch das freie Bündniswahlrecht für alle OSZE-Mitgliedsstaaten wird explizit im Budapester Memorandum (5.12.1994) und in der NATO-Russland-Grundakte (27.5.1997), beide von Russland unterschrieben, anerkannt.
… und über die Entstehung des Konflikts
Den Positionen Russlands und des Westens liegen ganz unterschiedliche Sichtweisen – man spricht auch von Narrativen – in Bezug auf die Entstehung des aktuellen Konflikts zugrunde. Auch hier spielt die OSZE eine zentrale Rolle. Denn als die Staats- und Regierungschefs die Charta von Paris 1990 unterzeichneten, war die Idee dahinter, eine gemeinsame Friedensordnung festzuschreiben, die von Vancouver bis Wladiwostok reichen sollte. Sie sollte die Verwirklichung dessen sein, was der damalige sowjetische Präsident Michail Gorbatschow unter einem gemeinsamen "europäischen Haus“ verstanden hat und was der damalige US-Präsident George Bush als Ausdruck des "geeinten, freien und friedlichen Europas" bezeichnete.
Heute wirft Russland dem Westen vor, dass dies nach Ende des Kalten Krieges leere Worte geblieben seien. Nach der russischen Argumentation ist es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht gelungen, eine wirkliche gesamteuropäische Sicherheitszone zu etablieren und dadurch die geopolitische Teilung Europas zu überwinden. Stattdessen sei Russland gezwungen worden, sich dem westlichen Siegerdiktat zu beugen und sich einer von der NATO und der EU dominierten europäischen Ordnung unterzuordnen, ohne diese Ordnung selbst entscheidend beeinflussen zu können. Russische Initiativen, die OSZE aufzuwerten und sie als euro-atlantische und eurasische Sicherheitsgemeinschaft zur dominierenden Institution innerhalb der europäischen Sicherheitsarchitektur zu machen, habe der Westen konsequent vernachlässigt. Ein Beispiel sei der russische Vorschlag aus dem Jahre 2008 über einen neuen europäischen Sicherheitsvertrag, den der Westen einfach ignoriert habe. Es sei bis heute nicht gelungen, einen gemeinsamen und unteilbaren Sicherheitsraum ohne Trennlinien und Zonen mit unterschiedlichen Sicherheitsniveaus zu schaffen.
Der Westen argumentiert dagegen, dass der Zusammenbruch der Sowjetunion für die mittel- und osteuropäischen Staaten in erster Linie die Befreiung von sowjetischer Dominanz und Besatzung bedeutete. Das Ende des Kalten Krieges wird nicht als Nullsummenspiel gesehen, bei dem der Westen den Sieg über den Osten davontrug, sondern als Sieg von Freiheit, Demokratie und Selbstbestimmung für alle europäischen Staaten. Dieser Sieg manifestiert sich in der Charta von Paris.
Aus der Perspektive des Westens sind die Erweiterungen von NATO und EU notwendige Schritte gewesen, um das legitime Sicherheitsbedürfnis mitteleuropäischer Staaten zu befriedigen, die jahrzehntelang unter sowjetischer Herrschaft zu leiden hatten, und zu verhindern, dass in der mitteleuropäischen Nachbarschaft eine Zone der Instabilität und des Staatenzerfalls entsteht. Außerdem hat der Westen sich bemüht, diese Erweiterungen nicht als Bedrohung für Russland erscheinen zu lassen und zahlreiche Angebote gemacht, um Russland konstruktiv einzubinden – sei es in Form des NATO-Russland-Rates, sei es durch die Modernisierungspartnerschaft zwischen Russland und der EU. Die Annexion der Krim und das Vorgehen Russlands im Osten der Ukraine haben dazu beigetragen, dass sich die mittel- und osteuropäischen Neu-Mitglieder in ihrer Präferenz für EU und NATO als Garanten für ihre eigene Sicherheit nun zusätzlich bestätigt sehen.
Hier zeigt sich die Unvereinbarkeit beider Ansätze: Moskau möchte sich nicht länger einer Sicherheitsordnung unterwerfen, die seiner Interpretation nach auf rein euro-atlantischen Institutionen und Prinzipien basiert. Der Westen begreift diese Prinzipien als mindestens gesamteuropäisch, wenn nicht gar universell, und die darauf hervorgegangenen Institutionen als Instrumente der Kooperation im Sinne einer strategischen Partnerschaft.
Nicht Brücke, sondern Mittel zur Schadensbegrenzung
Angesichts der fundamentalen Differenzen, die zwischen Russland und dem Westen bestehen, ist klar, dass die OSZE keine Brücke in diesem Konflikt sein kann. Dazu sind die Konfliktparteien zu weit voneinander entfernt, und es gibt keinen hinreichenden Konsens für eine inklusive gesamteuropäische Sicherheitsordnung. Offenkundig wurde diese Spaltung im Abschlussbericht des "Panel of Eminent Persons" – einer Expertenkommission, die 2014 Vorschläge zur Stärkung der OSZE und zur Herausbildung eines krisenresistenteren Systems europäischer Sicherheit entwickelt hat – aber letztendlich keine Einigung mit Russland über Grundsätzliches herstellen konnte – außer über die Tatsache, dass die derzeitige Situation "ernsthafte Gefahren" birgt. Die verschiedenen Narrative stehen im Bericht unvereinbar nebeneinander.
Die OSZE kann vor allem auch deshalb keine Brücke sein, weil Russland eben jene Prinzipien verletzt, auf die die OSZE aufgebaut ist und die in ihren zentralen Dokumenten festgeschrieben sind. Die OSZE ist in diesem Sinne nicht neutral, und die zwei Positionen und Narrative, die sich innerhalb der OSZE gegenüberstehen, sind nicht in gleichem Maße legitim. So lange Russland weiter die zentralen Prinzipien der Organisation und damit die Stützpfeiler der europäischen Friedensordnung infrage stellt, ist die OSZE allenfalls ein Instrument für weitere Schadensbegrenzung.
Inzwischen ist überdeutlich geworden, dass Russland sich selbst als "post-europäischen Staat"
Da es auf absehbare Zeit nicht möglich sein wird, den bestehenden Konflikt zu überbrücken, kann es nur darum gehen, den daraus entstehenden Schaden zu begrenzen. Hier kann die OSZE wertvolle Unterstützung leisten. Sie ist eine der wenigen Plattformen, auf denen ein Dialog mit Russland überhaupt noch möglich ist. Die deutsche Präsidentschaft hat alles versucht, um Gesprächskanäle zu etablieren bzw. offenzuhalten und Fortschritte auf den Gebieten zu erzielen, wo man gemeinsame Interessen vermutet. Außenminister Steinmeiers Vorschläge zu einem Neustart in der Rüstungskontrolle sind dafür ein gutes Beispiel. Aber Dialog darf kein Selbstzweck sein, und wirkliche Fortschritte sind ausgeblieben, vor allem auch bei der Umsetzung von Minsk II. Bislang dient die OSZE dem Kreml in erster Linie als Feigenblatt, um der internationalen Öffentlichkeit die Bereitschaft zur Zusammenarbeit zu suggerieren, ohne tatsächlich dazu bereit zu sein.
Literatur
Links
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