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Konventionelle Rüstungskontrolle in Europa | OSZE | bpb.de

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Konventionelle Rüstungskontrolle in Europa Notwendigkeiten und Möglichkeiten für einen neuen Anlauf

Ulrich Kühn

/ 8 Minuten zu lesen

Russland und der Westen befinden sich in einem neuen Kalten Krieg. Besonders das Baltikum entwickelt sich zu einem Hotspot der Auseinandersetzung. Obwohl konventionelle Rüstungskontrollmaßnahmen mehr Sicherheit für beide Seiten versprechen würden, ist mit positiven Schritten derzeit nicht zu rechnen.

Ein polnischer Panzer des Typs PT-91 am 14. Januar 2017 in Warschau. (© picture-alliance/AP)

Die konventionelle Rüstungskontrolle – das ist die Begrenzung nicht-nuklearer schwerer militärischer Waffensysteme – befindet sich in Europa seit über 15 Jahren in einem Verfallsprozess. Die Ursachen dafür sind eng mit den momentanen Auseinandersetzungen zwischen dem Westen und Russland verbunden. Auch wenn Europa dringend wieder ein gemeinsames Sicherheitssystem im konventionellen Bereich bräuchte und der deutsche OSZE-Vorsitz jüngst einen entsprechenden diplomatischen Vorstoß wagte, sind die Aussichten sehr gering. Vor allem drei Hindernisse blockieren ein Vorankommen: die komplexen militärischen Ungleichgewichte zwischen der NATO und Russland, die russische Strategie der "Sicherheit durch Instabilität" und das offen antagonistische Verhältnis zwischen Moskau und Washington.

Die Notwendigkeit konventioneller Rüstungskontrolle

Russland und der Westen befinden sich in einem neuen Kalten Krieg. Zwar fehlen ehemals wichtige Strukturmerkmale wie eine tiefe ideologische Systemauseinandersetzung, das internationalistische Sendungsbewusstsein der Sowjetunion und die Teilung der Welt in zwei konkurrierende Blöcke. Die russischen Versuche, "westliche Werte" in Kontrast zu "traditionellen russischen Werten" zu setzen und die sich beschleunigende Rüstungsspirale machen die aktuelle Auseinandersetzung jedoch nicht weniger gefährlich. Besonders Europa ist davon betroffen. Standen sich früher hochgerüstete konventionelle Armeen, unterstützt von integrierten Nuklearstreitkräften, an der innerdeutschen Grenze gegenüber, so ist heute die östliche Grenze der NATO von der Ostsee und dem Baltikum über Polen hin zum Schwarzen Meer (Rumänien und Bulgarien) die neue Konfrontationslinie.

Fast täglich kommt es zu gefährlichen Zwischenfällen mit russischen Kampfjets. Gleichzeitig droht der Kreml offen mit seinem Nuklearpotential, verlegt nuklearwaffenfähige Systeme nach Kaliningrad, hält Großmanöver mit bis zu 120.000 Soldaten ab und kündigt wichtige Rüstungskontrollverträge mit den USA auf. Die NATO wiederum reagiert zunächst so, wie man es aus dem Kalten Krieg kennt: Aufrüstung der östlichen Mitgliedsstaaten, verstärkte öffentliche Sicherheitszusagen und die Konzentration auf die Abschreckung Russlands. Weil beide Seiten sich vor allem der gegenseitigen Abschreckung widmen und Russland dabei immer mindestens zwei Schritte weitergeht, wächst die Gefahr einer unbeabsichtigten oder zufälligen Eskalation.

Das Verhältnis zwischen Russland und der NATO ist heute äußerst instabil. Genau um eine solche Instabilität und letztlich einen möglichen Nuklearkrieg zu verhindern, hatten amerikanische Strategen das Zwillingskonzept aus Abschreckung und Rüstungskontrolle entwickelt. Beide Konzepte zielen zunächst auf die Verhinderung von Krieg. Während die Abschreckung dabei eher auf die eigene militärische Stärke setzt, zielt die Rüstungskontrolle auf die Stärke gemeinsam ausgehandelter Regeln für Beschränkung und Kontrolle. Im Zusammenspiel – so die Theorie – verhindern beide Ansätze, dass sich die feindlich gesinnten Parteien in einem endlosen und hoch riskanten Rüstungswettlauf verfangen. Auch heute braucht Europa wieder ein solches Dualsystem aus Stärke und Kooperation. Die Voraussetzungen dafür sind jedoch ungleich schlechter als zu Zeiten des Kalten Kriegs.

Militärische Ungleichgewichte – damals und heute

Schon während der Ost-West-Konfrontation in den 1970er und 1980er Jahren hatten westliche Militärstrategen die vermeintliche Schwäche der eigenen konventionellen Streitkräfte in Europa gegenüber den zahlenmäßig überlegenen Truppen des Warschauer Pakts als Problem ausgemacht. Die damalige Antwort war das Konzept der erweiterten Abschreckung – also die grundsätzliche Bereitschaft der USA, einen konventionellen Angriff jederzeit auch mit nuklearen Schlägen zu beantworten. Den Teufelskreis aus perzipierter Unsicherheit und regionalem Ungleichgewicht konnten letztlich aber erst die gemeinsam-ausgehandelte konventionelle Rüstungskontrolle und der Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (siehe Kasten) aufbrechen.

Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE)

Nach über 15 Jahren erfolgloser Gespräche begannen 1989 die Verhandlungen über die Reduzierung der konventionellen Streitkräfte und Waffensysteme in Europa (KSE) unter dem Dach der damaligen Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa – der späteren OSZE. Nur ein Jahr später unterzeichneten die Staaten des Warschauer Pakts und der NATO ein gemeinsames Begrenzungs- und Abrüstungsregime, welches zur Vernichtung von ca. 75.000 schweren Waffensystemen führte. Im Zuge der ersten Runde der NATO-Osterweiterung verlangte Russland Ende der 1990er Jahre regionale Anpassungen zum KSE-Vertrag, welche schließlich in der Zeichnung des "Angepassten KSE-Vertrags" (AKSE) 1999 in Istanbul mündeten. Da Russland jedoch seiner politisch verbindlichen Zusage zum Abzug von Truppen und Militärgerät aus den sezessionistischen Gebieten Transnistrien (Moldau) sowie Abchasien und Südossetien (beide Georgien) nicht vollständig nachkam, weigerten sich die NATO-Staaten ab 2002, den AKSE-Vertrag zu ratifizieren. Mit Hinweis auf die nicht erfolgte Ratifizierung suspendierte Moskau 2007 daraufhin einseitig den gesamten KSE-Vertrag. Alle Versuche der westlichen Staaten, die konventionelle Rüstungskontrolle mit Russland zu reanimieren, sind seither gescheitert.

Angesichts des Fehlens vertraglich fixierter Regeln verstärken sich die Sicherheitsbedenken auf beiden Seiten. Russland fühlt sich auf regionaler europäischer Ebene den konventionellen Truppen der NATO quantitativ unterlegen. Für den Extremfall eines NATO-Angriffs auf russisches Territorium vermuten westliche Analysten den präventiven Einsatz einiger weniger russischer Nuklearwaffen mit kurzer Reichweite zur Verhinderung weiteren Landgewinns. Ob diese Doktrin der "de-eskalierenden Schläge" wirklich realen Sicherheitsüberlegungen entspricht, ist nicht auszumachen. Fest steht jedoch, dass Russland seine Nuklearstreitkräfte in fast alle größeren Manöver integriert, um im Ernstfall schnell reagieren zu können.

Die NATO sieht sich ihrerseits auf subregionaler Ebene, insbesondere im Baltikum, klar im Nachteil. Quantitativ und qualitativ sind die baltischen Streitkräfte den russischen Truppen im angrenzenden westlichen russischen Militärbezirk deutlich unterlegen. Hinzu kommt die russische Fähigkeit, den Nachschub möglicher nachrückender NATO-Truppen sowohl aus der Luft als auch über die offene See nachhaltig zu stören. Ein weiterer Faktor ist die ungleich größere geographische Tiefe des russischen Gebiets, die Moskau mehr Nachschuboptionen lässt. Und schließlich ist die Frage eines engeren Zusammenwirkens von konventionellen und nuklearen Streitkräften bzw. Waffensystemen in der Allianz sehr umstritten. Zusammengenommen ergibt sich daher für die meisten westlichen Analysten das Bild einer auf sub-regionaler Ebene strategisch im Nachteil befindlichen Allianz.

Das Zusammenspiel aus regionaler konventioneller Überlegenheit der NATO, sub-regionaler Unterlegenheit der NATO im Baltikum und russischer Abhängigkeit von den eigenen Nuklearwaffen verkompliziert denkbare kooperative Lösungen.

Russlands Strategie der Sicherheit durch Instabilität

Das eigentliche Hindernis für einen Neustart der konventionellen Rüstungskontrolle ist jedoch Russlands Strategie der "Sicherheit durch Instabilität". Was sich zunächst widersprüchlich anhört, entfaltet im Rückblick eine durchaus eigene Logik. Seit nunmehr über 20 Jahren haben alle russischen Führungen versucht, die NATO-Osterweiterung zu verhindern – zunächst durch Gespräche und Sicherheitsabkommen und schließlich mittels lautstarker Beschwerden und Drohungen. Seit 2008 – dem Jahr des fünftägigen georgisch-russischen Kriegs – greift Russland nun zu einer ungleich erfolgreicheren und gleichzeitig äußerst zynischen Verhinderungsstrategie. Dies vollzieht sich auf zwei Ebenen.

Gegenüber seinen post-sowjetischen Nachbarstaaten verteidigt Russland seinen Machtanspruch mit allen Mitteln und schreckt dabei auch nicht vor dem Einsatz militärischer Gewalt zurück (siehe Georgien und die Ukraine). Moskau will so verhindern, dass diese Staaten in den "westlichen Orbit" wechseln. Gegenüber den NATO-Staaten agiert der Kreml geschickt unterhalb der Schwelle militärischer Gewalt und sucht die Allianz, als auch die westlichen Gesellschaften, wo immer möglich, zu verunsichern. Kombiniert ergibt sich ein geopolitisch-gedachter "Gürtel der Instabilität" entlang der russischen Grenzen bzw. der Grenzen des post-sowjetischen Raums. Dieses Vorgehen soll jegliche Aussicht auf eine weitere Ausdehnung der NATO nach Osten im Keim ersticken.

Das erste Opfer dieser unter Wladimir Putin entwickelten Strategie war der KSE-Vertrag. Bereits Ende der 1990er Jahre hatte der amerikanische Kongress den Abzug der russischen Truppen aus Transnistrien (Moldau) sowie Abchasien und Südossetien (Georgien) im Zusammenhang mit dem AKSE-Vertrag verlangt (siehe Kasten). Diese Forderung war für den Kreml ein "No-Go". In der Folge zeigte die weitere Verhärtung der politischen Fronten bis zur russischen Suspendierung des KSE-Vertrags, dass der Wille der russischen Führung zur Umsetzung gemeinsamer, kooperativer Sicherheit seine Grenzen hat. Diese Grenzen verlaufen dort, wo Russland die Bedrohung seines eigenen geopolitischen Macht- und Einflussbereichs wittert. Russland ist momentan offenbar fest davon überzeugt, dass es aus der selbstverantworteten Instabilität und Unsicherheit entlang seiner Grenzen ein höheres Maß an politischem Gewinn und Sicherheit zieht, als aus gemeinsam verhandelten Rüstungskontrollabkommen mit dem Westen. Und diese Politik ist für Europa nicht nur tragisch, sie ist vor dem Hintergrund der zunehmenden Spannungen zwischen der NATO und Russland auch brandgefährlich.

Konzepte und Initiativen für konventionelle Rüstungskontrolle

Um eine weitere Eskalation zu verhindern, hat sich der Westen auf eine Politik der kleinen Schritte verlegt. Zunächst einmal sucht die NATO den Dialog mit Russland zur Verhinderung gefährlicher militärischer Zwischenfälle über der Ostsee und dem Luftraum ihrer östlichen Mitglieder. Vorschläge, wie die Wiederbelebung und Ausdehnung des ehemaligen bilateralen amerikanisch-sowjetischen Abkommens zur Verhinderung von Zwischenfällen über der offenen See (INCSEA) auf alle NATO-Staaten plus Russland, machen die Runde. Eine erste Antwort Russlands zur verbindlichen Aktivierung der Transponder von Militärflugzeugen wurde von der Allianz als nicht ausreichend zurückgewiesen.

Der Grund: Brüssel und Washington wollen vor allem die bedenkliche russische Praxis der Ad-hoc-Manöver an den eigenen Bündnisgrenzen unterbinden oder zumindest transparenter gestalten. Um Klarheit über Umfang und Ausrichtung dieser Manöver zu erlangen, versuchen vor allem die USA, die russische Führung zur Modernisierung des "Wiener Dokuments" der OSZE zu bewegen. Dieser, ebenfalls auf den Kalten Krieg zurückgehende politisch verbindliche Mechanismus sieht die vorherige Meldung und Überprüfung von Manövern und Übungen vor. Der amerikanische Vorschlag zielt besonders auf die Verhinderung der russischen Praxis der Aufsplittung größerer Manöver in kleinere Übungen (die bisher unter dem "Wiener Dokument" nicht meldepflichtig sind) und deren rechtzeitige Vorankündigung ab.

Einen deutlichen Schritt weiter ging jüngst der Vorschlag des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier zur Wiederbelebung der konventionellen Rüstungskontrolle. Er bringt letztlich die Idee regionaler Begrenzungen, wie sie im KSE-Vertrag vereinbart waren, wieder ins Spiel. Gerade aus deutschen Denkfabriken kam dazu in den vergangenen Monaten eine ganze Reihe konzeptionell-interessanter Vorschläge, wie beispielsweise ein spezielles sub-regionales Begrenzungs- und Transparenzregime für den baltischen Raum mit reziproken Rechten und Verpflichtungen für die NATO und Russland. Obwohl Steinmeier den momentanen deutschen OSZE-Vorsitz repräsentiert und die ersten Reaktionen aus Moskau zumindest nicht ablehnend waren, erteilte Washington der deutschen Initiative bei den OSZE "Security Days" im Oktober 2016 in Wien eine klare Absage.

Der russisch-amerikanische Antagonismus

Und damit rückt das dritte große Hindernis für die Wiederbelebung der konventionellen Rüstungskontrolle in den Blick: das inzwischen offen konfrontative Verhältnis zwischen Russland und den USA. Vor dem Hintergrund der höchstwahrscheinlich von russischen Hackern durchgeführten Cyberattacken auf den Parteivorstand der US-Demokraten, des Abbruchs der Syrien-Gespräche und der russischen Aufkündigung von zwei Abkommen zur Plutoniumkonversion ist es sehr wahrscheinlich, dass die künftige amerikanische Administration einen (noch) härteren Kurs gegenüber Moskau einschlagen wird. Die Leidtragenden dieser "Wie-Du-mir,-so-ich-Dir"-Strategie wären einmal mehr die europäischen Staaten. Statt ein wenig mehr kooperativer Sicherheit werden die kommenden Jahre mit hoher Wahrscheinlichkeit ein deutliches Mehr an Abschreckung und militärischer Aufrüstung bringen. Für die konventionelle Rüstungskontrolle unter dem Dach der OSZE gilt erneut: Warten auf bessere Zeiten.

Literatur

Charap, Samuel/ Shapiro, Jeremy (2016): US-Russian relations: The middle cannot hold, in: Bulletin of the Atomic Scientists, 72. Jg., Nr. 3, S. 150-155.

Kühn, Ulrich (2013): Conventional Arms Control 2.0, in: Journal of Slavic Military Studies, 26. Jg., Nr. 2, S. 189-202.

Zellner, Wolfgang/ Schmidt, Hans-Joachim/ Neuneck, Götz (Hrsg.) (2009): Die Zukunft konventioneller Rüstungskontrolle in Europa, Baden-Baden: Nomos Verlags-Gesellschaft.

Links

Externer Link: Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa (1990)

Externer Link: Übereinkommen über die Anpassung des Vertrags über konventionelle Streitkräfte in Europa (1999)

Weitere Inhalte

Dr. Ulrich Kühn ist Associate am Carnegie Endowment for International Peace in Washington, D.C. und Fellow am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg (IFSH). Davor arbeitete er für das Auswärtige Amt. Kühn ist Vorsitzender der "Standing Group on Non-Proliferation and Arms Control" der European Initiative on Security Studies (EISS) und Alumnus der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius. Er publiziert zu den Themen Rüstungskontrolle, internationale Sicherheitsinstitutionen und transatlantische Sicherheit.