Das auf dem Gipfel in Madrid 2022 verabschiedete achte strategische Konzept der NATO
Verglichen mit der düsteren Lagebeschreibung liest sich die Darstellung der Kernaufgaben traditionell. Die NATO hält an dem 2015 erstmals genannten 360-Grad-Ansatz fest, demzufolge sie Bedrohungen aus allen Richtungen im Blick behält. Und sie folgt dem strategischen Konzept von 2010 und nennt als Kernaufgaben die drei großen Blöcke
Kollektiven Verteidigung als zentrale Aufgabe
Aufgrund dieser Pfadabhängigkeit buchstabiert das strategische Konzept von 2022 den Wandel der Allianz weniger grundlegend und umfassend aus, als er sich tatsächlich darstellt. Russland gilt als die zentrale Bedrohung der NATO und die kollektive Verteidigung wieder als die wichtigste Aufgabe des Bündnisses. Das Strategische Konzept verspricht, dass die NATO „jeden Quadratmeter des Bündnisterritoriums verteidigen“ wird. Unter dem in dem Konzept genannten Stichwort der Vorneverteidigung („We will deter and defend forward (…)“, Paragraf 21) verstärkt die NATO ihre Präsenz in den Staaten der sogenannten Ostflanke.
Die „enhanced Forward Presence“ (eFP) genannten Einheiten in der Größenordnung von zunächst jeweils etwa 1.000 Soldatinnen und Soldaten,
Zum anderen plant die Allianz mit dem ebenfalls in Madrid 2022 beschlossenen „New Force Model“ eine Verachtfachung der schnell einsatzbereiten und verlegbaren Verbände. Während die frühere NATO Response Force eine Stärke von 40.000 schnell verlegbaren Landstreitkräften vorsah, die in 15 Tagen marschbereit sein sollten, sollen die NATO-Staaten, sobald das New Force Model vollständig implementiert ist, dazu in der Lage sein, 100.000 Soldatinnen und Soldaten in zehn Tagen und weitere 200.000 in zehn bis 30 Tagen zu mobilisieren. Eine Truppenstärke von mindestens weiteren 500.000 soll innerhalb von 30 bis 180 Tagen einsatzbereit sein. Die europäischen Mitgliedstaaten, die im Rahmen dieser Planungen Verbände gemeldet haben, sehen sich hier mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert, die ihre verfügbaren Ressourcen für die nächsten Jahre binden werden.
Ausweitung des Bündnisfalls
Neben militärischen Bedrohungen rechnet die NATO wie im
Hybride Bedrohungen
In der Politikwissenschaft existieren unterschiedliche Definitionen zu dem Begriff „hybride Bedrohungen“. Hybride Bedrohungen verbinden die Anwendung verschiedener Methoden der illegitimen und der oftmals verdeckten Einflussnahme unterhalb der Schwelle der offenen Kriegführung wie Desinformation, Cyberangriffe, Sabotage sowie den Einsatz irregulärer bewaffneter Gruppen. Die
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Wahrscheinlicher sind allerdings hybride Übergriffe mit geringerem Schadensniveau. Wie die NATO in derartigen Fällen reagieren würde, und wie sie zur Resilienz gegen nicht-militärische Bedrohungen und Risiken beitragen will (Strategisches Konzept, Paragraf 26), ist weniger klar. Ähnliches gilt für den angekündigten Kampf gegen terroristische Bedrohungen (Strategisches Konzept, Paragraf 34). Solche Formulierungen bezüglich terroristischer Bedrohungen finden sich in allen Communiqués von NATO-Gipfeln der letzten Jahre und gehen vermutlich auf Initiativen der Türkei zurück, die ihr militärisches Vorgehen gegen die – von der EU und vielen NATO-Staaten als terroristische Vereinigung eingestufte –
Krisenprävention und -management
Ähnlich unbestimmt ist das Aufgabenfeld Krisenprävention und -management. Die NATO hatte den sogenannten 360-Grad-Ansatz 2015 entwickelt
2018 nahm das beim Joint Force Kommando in Neapel angesiedelte „NATO Strategic Direction-South HUB“ (NDS-S HUB) die Arbeit auf. Es soll zum Verständnis regionaler Konflikte beitragen und die Zusammenarbeit mit anderen relevanten Akteuren wie mit Nichtregierungsorganisationen stärken. Sicherlich könnte die NATO über ihre Mitgliedstaaten in einzelnen Fällen wie dem schweren Erdbeben in Pakistan 2005 Katastrophenhilfe leisten. Ob die NATO aber tatsächlich über institutionelle Vorteile etwa gegenüber der EU oder den Mitgliedstaaten im Bereich der Krisenprävention verfügt, wird selbst von Staaten an der Südflanke des Bündnisses bezweifelt, die diese Programme vorantreiben (Dembinski 2021a; Dembinski 2021b).
Umgang der NATO mit China
Ähnlich unbestimmt bleibt das strategische Konzept in Bezug auf
Im Abschnitt zu den Kernaufgaben der NATO geht das Konzept nur am Rande auf China ein und erwähnt, dass die NATO mit der EU auch bei der Reaktion auf systemische Herausforderungen durch China zusammenarbeiten will. Auch hier liegen die Gründe für die Unbestimmtheit in den auseinanderfallenden Sichtweisen und Interessen der Mitglieder.
Die USA dringen sowohl auf eine Vertiefung der NATO-Partnerschaften mit den zum Teil mit China in Konkurrenz um Seegebiete stehenden ostasiatischen Demokratien als auch auf gemeinsame Strategien etwa im Umgang mit möglicherweise sicherheitsrelevanten Technologien, bei Exportkontrollen oder der Beschränkung chinesischer Investitionen in kritischen Bereichen der Infrastruktur. Dagegen beharren einige europäische Mitglieder, allen voran Frankreich, auf einen differenzierten Umgang mit China und sehen primär die Europäische Union (EU) in der Verantwortung, die sich aus der wirtschaftlichen Verflechtung mit China ergebenden sicherheitspolitischen Risiken einzuschätzen und gegebenenfalls abzufedern. Die Kernaufgabe der kollektiven Verteidigung müsse aus Sicht dieser Staaten geografisch auf die euro-atlantische Region begrenzt bleiben, die Zusammenarbeit mit Demokratien in Ostasien auf sicherheitspolitische Fragen beschränkt werden. Am französischen Widerstand scheiterte auch der Vorstoß, ein Verbindungsbüro der NATO in Tokyo (Japan) einzurichten.
Breiter, teils vager Aufgabenkatalog der NATO
Zusammenfassend beschreibt das strategische Konzept von 2022 einerseits ein Bündnis, das in der kollektiven Verteidigung wieder seine Quintessenz und das Fundament für die Zusammenarbeit gefunden hat. Angesichts der Bedrohung durch Russland gilt sie ihren Mitgliedern in dieser Hinsicht als unverzichtbar. Andererseits weist es die NATO als eine Organisation mit weit darüber hinaus gehenden Ansprüchen und Aufgaben aus. Die Suche nach gemeinsamen Antworten auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen durch China wird in den nächsten Jahren neben der kollektiven Verteidigung den breitesten Raum einnehmen. Unklar bleibt dagegen, inwieweit die NATO als im Kern militärische Allianz und mit ihren konsensualen Entscheidungsverfahren besser zum internationalen Krisenmanagement taugt als Staaten, die EU oder die Vereinten Nationen.