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Das aktuelle strategische Konzept der NATO

Matthias Dembinski

/ 7 Minuten zu lesen

Im Juni 2022 wurde nach zwölf Jahren ein neues strategisches Konzept der NATO verabschiedet. Der Kern der neuen Strategie ist die Rückbesinnung auf die kollektive Verteidigung.

Das strategische Konzept der NATO wurde auf dem NATO-Gipfel in Madrid 2022 verabschiedet. (© picture-alliance, NurPhoto, Jakub Porzycki)

Das auf dem Gipfel in Madrid 2022 verabschiedete achte strategische Konzept der NATO reagiert auf denInterner Link: russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und auf Verschiebungen der globalen sicherheitspolitischen Lage. Es stellt bei der Beschreibung der strategischen Lage nüchtern fest, dass in Europa kein Frieden herrscht, dass autoritäre Regime die Interessen der Mitgliedsländer mit militärischen und hybriden Mitteln herausfordern, dass die Interner Link: globale Rüstungskontrolle an Bedeutung verliert und dass Terrorismus sowie die Rückwirkungen von Konflikten und Instabilität in der südlichen und südöstlichen Nachbarschaft die euro-atlantische Sicherheit bedrohen. Erstmals thematisiert ein strategisches Konzept der NATO auch die sicherheitspolitischen Risiken, die mit dem Aufstieg und dem robusten Auftreten Chinas verbunden sind. Ein weiterer Bruch findet hingegen nur am Rande Erwähnung: das Scheitern der fast 20 Jahre währenden Interner Link: NATO-Missionen in Afghanistan und der Abzug der internationalen Truppen im Sommer 2021.

Verglichen mit der düsteren Lagebeschreibung liest sich die Darstellung der Kernaufgaben traditionell. Die NATO hält an dem 2015 erstmals genannten 360-Grad-Ansatz fest, demzufolge sie Bedrohungen aus allen Richtungen im Blick behält. Und sie folgt dem strategischen Konzept von 2010 und nennt als Kernaufgaben die drei großen Blöcke Interner Link: Abschreckung und Verteidigung, Krisenprävention und -management sowie Kooperative Sicherheit. Die angesichts der radikal veränderten Lage erstaunliche Kontinuität hat Gründe: Strategische Konzepte sind Konsensdokumente, die jedem Mitgliedstaat die Möglichkeit geben, seine Interessen und Sichtweisen einzubringen. Dies begünstigt Pfadabhängigkeiten, weil früher gefundene Gemeinsamkeiten konsensfähiger sind als neue Ideen und Konzepte.

Kollektiven Verteidigung als zentrale Aufgabe

Aufgrund dieser Pfadabhängigkeit buchstabiert das strategische Konzept von 2022 den Wandel der Allianz weniger grundlegend und umfassend aus, als er sich tatsächlich darstellt. Russland gilt als die zentrale Bedrohung der NATO und die kollektive Verteidigung wieder als die wichtigste Aufgabe des Bündnisses. Das Strategische Konzept verspricht, dass die NATO „jeden Quadratmeter des Bündnisterritoriums verteidigen“ wird. Unter dem in dem Konzept genannten Stichwort der Vorneverteidigung („We will deter and defend forward (…)“, Paragraf 21) verstärkt die NATO ihre Präsenz in den Staaten der sogenannten Ostflanke.

Die „enhanced Forward Presence“ (eFP) genannten Einheiten in der Größenordnung von zunächst jeweils etwa 1.000 Soldatinnen und Soldaten, Interner Link: die 2017 in die drei baltischen Staaten und nach Polen entsandt worden waren, werden zu Brigaden verstärkt. Auch die kleineren „tailored Forward Presence“ (tFP) genannten Verbände in Rumänien und Bulgarien werden aufgestockt und zusätzlich Einheiten in der Slowakei und Ungarn stationiert. Diese rotierenden Verbände werden unter NATO-Kommando von den Streitkräften der Bündnispartner gestellt. Deutschland geht noch einen Schritt weiter und will eine Brigade von etwa 5.000 Soldatinnen und Soldaten dauerhaft in Litauen stationieren. Die USA bauen in nationaler Regie ein festes Hauptquartier in Polen auf und verstärken ihre Truppen in dem Land.

Zum anderen plant die Allianz mit dem ebenfalls in Madrid 2022 beschlossenen „New Force Model“ eine Verachtfachung der schnell einsatzbereiten und verlegbaren Verbände. Während die frühere NATO Response Force eine Stärke von 40.000 schnell verlegbaren Landstreitkräften vorsah, die in 15 Tagen marschbereit sein sollten, sollen die NATO-Staaten, sobald das New Force Model vollständig implementiert ist, dazu in der Lage sein, 100.000 Soldatinnen und Soldaten in zehn Tagen und weitere 200.000 in zehn bis 30 Tagen zu mobilisieren. Eine Truppenstärke von mindestens weiteren 500.000 soll innerhalb von 30 bis 180 Tagen einsatzbereit sein. Die europäischen Mitgliedstaaten, die im Rahmen dieser Planungen Verbände gemeldet haben, sehen sich hier mit erheblichen Herausforderungen konfrontiert, die ihre verfügbaren Ressourcen für die nächsten Jahre binden werden.

Ausweitung des Bündnisfalls

Neben militärischen Bedrohungen rechnet die NATO wie im Interner Link: Kalten Krieg auch wieder mit hybriden Bedrohungen, angefangen von Interner Link: Cyberangriffen über Angriffe gegen die kritische Infrastruktur bis hin zu gezielten Destabilisierungsversuchen, beispielsweise durch die gezielte Schleusung von Migrantinnen und Migranten. Auch in diesem Bereich verspricht das strategische Konzept eine kollektive Reaktion auch auf solche Übergriffe, die sich gegen einzelne Mitglieder richten. Wenn beispielsweise Cyberangriffe gegen die kritische Infrastruktur oder feindselige Operationen im oder aus dem Weltall ein Schadensniveau erreichen, das dem eines bewaffneten Angriffs gleicht, könnte die NATO, so das strategische Konzept, den Interner Link: Artikel 5 des Nordatlantikvertrags aktivieren und mit militärischen Mitteln reagieren.

Hybride Bedrohungen

In der Politikwissenschaft existieren unterschiedliche Definitionen zu dem Begriff „hybride Bedrohungen“. Hybride Bedrohungen verbinden die Anwendung verschiedener Methoden der illegitimen und der oftmals verdeckten Einflussnahme unterhalb der Schwelle der offenen Kriegführung wie Desinformation, Cyberangriffe, Sabotage sowie den Einsatz irregulärer bewaffneter Gruppen. Die Interner Link: hybride Kriegführung verbindet den Einsatz dieser Methoden mit dem nationaler Streitkräfte. Hybride Bedrohungen zielen auf die verschiedenen Ebenen der staatlichen Verwundbarkeit ab, also dem gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen, militärischen oder technologischen Bereich.

Weitere Informationen:

Wahrscheinlicher sind allerdings hybride Übergriffe mit geringerem Schadensniveau. Wie die NATO in derartigen Fällen reagieren würde, und wie sie zur Resilienz gegen nicht-militärische Bedrohungen und Risiken beitragen will (Strategisches Konzept, Paragraf 26), ist weniger klar. Ähnliches gilt für den angekündigten Kampf gegen terroristische Bedrohungen (Strategisches Konzept, Paragraf 34). Solche Formulierungen bezüglich terroristischer Bedrohungen finden sich in allen Communiqués von NATO-Gipfeln der letzten Jahre und gehen vermutlich auf Initiativen der Türkei zurück, die ihr militärisches Vorgehen gegen die – von der EU und vielen NATO-Staaten als terroristische Vereinigung eingestufte – Interner Link: Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die Interner Link: bewaffnete kurdische Miliz „Volksverteidigungseinheiten“ (YPG) in Nordsyrien als Anti-Terror-Kampf legitimiert.

Krisenprävention und -management

Ähnlich unbestimmt ist das Aufgabenfeld Krisenprävention und -management. Die NATO hatte den sogenannten 360-Grad-Ansatz 2015 entwickelt und das Krisenmanagement in der MENA Region – die Staaten des Nahen und Mittleren Ostens und Nordafrikas – auf dem Gipfel in Warschau unter dem Stichwort „Stabilität fördern“ („projecting stability“) neben die Kernaufgabe der Abschreckung und Verteidigung gestellt. Mit Blick auf die Unsicherheiten in dieser Region nach dem Scheitern des Interner Link: Arabischen Frühlings und den Bedrohungen durch den Interner Link: Islamischen Staat gab der Generalsekretär 2016 die folgende Losung aus: „Um unsere Territorien zu schützen, müssen wir bereit sein, Stabilität über unsere Grenzen hinaus zu fördern.“ („to protect our territories, we must be willing to project stability beyond our borders“) Hierzu entwickelte die NATO nach dem Warschauer Gipfel im Jahr 2016 ein Programm („NATO’s Framework for the South“), unter anderem um Reformen und gute Regierungsführung in der MENA Region zu fördern.

2018 nahm das beim Joint Force Kommando in Neapel angesiedelte „NATO Strategic Direction-South HUB“ (NDS-S HUB) die Arbeit auf. Es soll zum Verständnis regionaler Konflikte beitragen und die Zusammenarbeit mit anderen relevanten Akteuren wie mit Nichtregierungsorganisationen stärken. Sicherlich könnte die NATO über ihre Mitgliedstaaten in einzelnen Fällen wie dem schweren Erdbeben in Pakistan 2005 Katastrophenhilfe leisten. Ob die NATO aber tatsächlich über institutionelle Vorteile etwa gegenüber der EU oder den Mitgliedstaaten im Bereich der Krisenprävention verfügt, wird selbst von Staaten an der Südflanke des Bündnisses bezweifelt, die diese Programme vorantreiben (Dembinski 2021a; Dembinski 2021b).

Umgang der NATO mit China

Ähnlich unbestimmt bleibt das strategische Konzept in Bezug auf Interner Link: China. Einerseits beschreibt es ausführlich die Bedrohungen der transatlantischen Interessen, Sicherheit und Werte, die von China und seiner Politik ausgehen. Andererseits bleibt es bei der Beschreibung möglicher Reaktionen unbestimmt. Im Abschnitt zur Bedrohungsanalyse spricht das strategische Konzept lediglich davon, dass die Mitglieder chinesische Herausforderungen gemeinsam adressieren und sich beispielsweise für die Freiheit der Seefahrt einsetzen werden.

Im Abschnitt zu den Kernaufgaben der NATO geht das Konzept nur am Rande auf China ein und erwähnt, dass die NATO mit der EU auch bei der Reaktion auf systemische Herausforderungen durch China zusammenarbeiten will. Auch hier liegen die Gründe für die Unbestimmtheit in den auseinanderfallenden Sichtweisen und Interessen der Mitglieder.

Die USA dringen sowohl auf eine Vertiefung der NATO-Partnerschaften mit den zum Teil mit China in Konkurrenz um Seegebiete stehenden ostasiatischen Demokratien als auch auf gemeinsame Strategien etwa im Umgang mit möglicherweise sicherheitsrelevanten Technologien, bei Exportkontrollen oder der Beschränkung chinesischer Investitionen in kritischen Bereichen der Infrastruktur. Dagegen beharren einige europäische Mitglieder, allen voran Frankreich, auf einen differenzierten Umgang mit China und sehen primär die Europäische Union (EU) in der Verantwortung, die sich aus der wirtschaftlichen Verflechtung mit China ergebenden sicherheitspolitischen Risiken einzuschätzen und gegebenenfalls abzufedern. Die Kernaufgabe der kollektiven Verteidigung müsse aus Sicht dieser Staaten geografisch auf die euro-atlantische Region begrenzt bleiben, die Zusammenarbeit mit Demokratien in Ostasien auf sicherheitspolitische Fragen beschränkt werden. Am französischen Widerstand scheiterte auch der Vorstoß, ein Verbindungsbüro der NATO in Tokyo (Japan) einzurichten.

Breiter, teils vager Aufgabenkatalog der NATO

Zusammenfassend beschreibt das strategische Konzept von 2022 einerseits ein Bündnis, das in der kollektiven Verteidigung wieder seine Quintessenz und das Fundament für die Zusammenarbeit gefunden hat. Angesichts der Bedrohung durch Russland gilt sie ihren Mitgliedern in dieser Hinsicht als unverzichtbar. Andererseits weist es die NATO als eine Organisation mit weit darüber hinaus gehenden Ansprüchen und Aufgaben aus. Die Suche nach gemeinsamen Antworten auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen durch China wird in den nächsten Jahren neben der kollektiven Verteidigung den breitesten Raum einnehmen. Unklar bleibt dagegen, inwieweit die NATO als im Kern militärische Allianz und mit ihren konsensualen Entscheidungsverfahren besser zum internationalen Krisenmanagement taugt als Staaten, die EU oder die Vereinten Nationen.

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Dr. Matthias Dembinski ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter im Bereich "Internationale Institutionen" der Hesssichen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt/Main. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Europäische Außen- und Sicherheitspolitik, Transatlantische Beziehungen und die NATO.