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Die strategischen Konzepte der NATO | NATO - Nordatlantikpakt | bpb.de

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Die strategischen Konzepte der NATO

Matthias Dembinski

/ 7 Minuten zu lesen

Die acht strategischen Konzepte der NATO dienen der Selbstfindung und Selbstbindung. Vor 1990 waren die Strategien geheim und militärstrategisch. Seitdem werden sie veröffentlicht und sind stärker politisch ausgerichtet.

Im Kalten Krieg standen sich die beiden Bündnisse NATO und Waschauer Pakt gegenüber. An der innerdeutschen Grenze in Osthessen, dem sog. "Fulda Gap", erschien das militärische Kräftemessen besonders bedrohlich. Es galt als mögliches Einfallstor von Warschauer-Pakt-Truppen in Richtung Rhein-Main-Gebiet. Die Gedenkstätte Point Alpha (Rasdorf, Hessen) rekonstruiert die Stationierungen und Strategien der beiden Bündnisse. (© picture-alliance, Caro, Bastian)

Die NATO hat im Laufe ihrer bisherigen Geschichte insgesamt acht strategische Konzepte verfasst. Während des Interner Link: Kalten Kriegs entstanden vier dieser Konzepte; nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wurden vier weitere in Abständen von neun bis zwölf Jahren veröffentlicht. In diesen politischen Schlüsseldokumenten beschreibt die NATO ihre Einschätzung der Bedrohungslage, ihre sicherheitspolitischen Ziele sowie ihre Planungen und die Fähigkeiten, die sie benötigt, um diese Ziele zu erreichen.

Zwar veröffentlichen auch viele Staaten nationale Sicherheitsstrategien – Deutschland erstmals 2023 –, für internationale Organisationen wie die NATO haben solche Dokumente aber eine besondere Bedeutung. Sie legen die Ergebnisse eines oftmals kontroversen Diskussionsprozesses fest und verpflichten die Mitgliedstaaten auf gemeinsam beschlossene Vorhaben. Die strategischen Konzepte der NATO sind also Instrumente der Selbstfindung und Selbstbindung.

Von militärischen zu politischen Strategiepapieren

Die bisherigen acht strategischen Konzepte der NATO wurden bis auf das vierte einstimmig vom Nordatlantikrat verabschiedet. Allerdings unterscheiden sich die während des Kalten Kriegs verabschiedeten strategischen Konzepte in ihrem Entstehungsprozess, ihren Adressaten und ihren Funktionen deutlich von denen, die nach 1990 verabschiedet wurden. Vor 1990 wurden sie von militärischen Gremien, in der Regel dem NATO-Militärausschuss (Military Committee, daher die Dokumentkürzel „MC“) erstellt und vom Nordatlantikrat verabschiedet. Sie hatten eher den Charakter von militärstrategischen Dokumenten und wurden damals nicht veröffentlicht.

Mit der stärkeren politischen Ausrichtung der NATO nach 1990 wandelte sich der Charakter der strategischen Konzepte. Bei den letzten vier handelt es sich eher um politische Papiere. Sie dienen auch der Kommunikation mit den nationalen Bevölkerungen und mit anderen Staaten und sollen die Politik der Allianz erklären und begründen. Entsprechend wird die Vorbereitung der Papiere stärker von politischen Akteuren bestimmt. Den Anstoß zum letzten Konzept gaben etwa die Staats- und Regierungschefs auf dem Gipfel von London 2019 mit dem Auftrag an den damaligen NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg, einen „vorwärts gerichteten Reflexionsprozess“ einzuleiten. Dieser Prozess wurde maßgeblich durch den Report einer Reflexionsgruppe unter der Leitung des früheren deutschen Verteidigungsministers Thomas de Maizière und des US-amerikanischen Chefdiplomaten Wess Mitchell gestaltet. Zum anderen brachte der Generalsekretär selbst unter dem Schlagwort „NATO 2030“ eine Reihe von Ideen ein.

Etablierung eine integrierten Militärstruktur

Das erste strategische Konzept verabschiedete die Allianz kurz nach ihrer Gründung im Januar 1950 unter dem Titel „The Strategic Concept for the Defense of the North Atlantic area (DC 6/1)“. Dieses Papier beschrieb die Planungen zur Abschreckung und – sollte diese versagen – zur Verteidigung, und sie steckte den Rahmen für die Arbeit der damals noch vorgesehenen fünf regionalen Planungsgruppen ab. Diese sollten für Nordamerika, den Nordatlantik, Nordeuropa, Westeuropa und Südeuropa/ westliches Mittelmeer zuständig sein. Die westeuropäischen Mitglieder sollten den Großteil der für die Verteidigung ihrer Region nötigen Truppen selbst stellen, die USA sich auf die Sicherung der Seeverbindungen im Nordatlantik konzentrieren. Vor allem sollten die USA mit ihrer Fähigkeit zur Durchführung von strategischen Bombenangriffen auch mit Nuklearwaffen zur Abschreckung und Verteidigung beitragen.

Nach dem Interner Link: Beginn des Korea-Kriegs 1950 und der deutlich gesteigerten Befürchtung eines militärischen Überfalls durch die Sowjetunion in Europa baute die NATO ihre Struktur um und ihre militärischen Kapazitäten aus. Sie löste die regionalen Planungsgruppen bis auf die nordamerikanische auf und schuf stattdessen eine integrierte Militärstruktur unter einem zentralen Kommando mit den beiden Hauptquartieren „Supreme Headquarter Allied Powers Europe“ (SHAPE) und „Supreme Allied Command Atlantic“ (SACLANT).

Strategie der massiven Vergeltung und der flexiblen Reaktion

Die verschärfte Bedrohungslage und die neue Struktur beschrieb das zweite strategische Konzept, das der Nordatlantikrat am 3. Dezember 1952 verabschiedete (MC 3/5(Final)). Allerdings erwiesen sich die Planungen für eine konventionelle Verteidigung der NATO-Staaten als viel zu ambitioniert. Zudem schwenkten die USA unter Präsident Dwight D. Eisenhower unter dem Stichwort „New Look“ auf eine Strategie des frühen und massiven Einsatzes von Nuklearwaffen zur Verteidigung um. Die NATO folgte diesem Schwenk nach langen Diskussionen und verankerte sie im Mai 1957 als Interner Link: „Strategie der massiven Vergeltung“ in ihrem dritten strategischen Konzept (MC 14/2). Massive Vergeltung bedeutet, dass bei einem Angriff auf die europäischen NATO-Staaten – mit oder ohne nukleare Waffen – ein vernichtender nuklearer Gegenschlag der NATO folgen würde (Trachtenberg 1991, 153-168).

Der überraschend schnelle Aufbau einer sowjetischen nuklearen Zweitschlagfähigkeit sowie Krisen wie die um Berlin 1958 und 1961, die das Szenario begrenzter Auseinandersetzungen mit der Sowjetunion und dem Warschauer Pakt nahelegten, begründeten die Vorbehalte der neuen US-Regierung unter John F. Kennedy gegen die Strategie der massiven Vergeltung. Dennoch dauerte es aufgrund der Widerstände einiger europäischer Bündnispartner gegen Reformen der nuklearen Strategie bis zum Interner Link: Austritt Frankreichs aus der integrierten Militärstruktur, bevor im Dezember 1967 ein viertes strategisches Konzept (MC 14/3) verabschiedet werden konnte, das im Wesentlichen die von den USA befürwortete Strategie der Interner Link: flexiblen (nuklearen) Reaktion ausformulierte. Auf einen Angriff würde nach diesem Ansatz eine unvorhersehbare militärische Reaktion folgen – mit oder ohne nukleare Waffen. MC 14/3 wurde von einem neu geschaffenen Ausschuss für Verteidigungsplanung (Defense Planning Committee) verabschiedet, in dem Frankreich nicht vertreten war. Damit ist es das einzige strategische Konzept, das nicht vom Nordatlantikrat und nicht einstimmig von allen NATO-Mitgliedern gebilligt wurde.

Stärkung der politischen Ausrichtung der NATO

Trotz der Kontroversen um Nachrüstung und Entspannung verabschiedete die NATO das nächste strategische Konzept erst nach dem Ende des Ost-West-Konflikts auf dem Gipfel in Rom 1991. Stellt man die radikalen Umbrüche in Rechnung, war das fünfte strategische Konzept ein auf Bewahrung ausgerichtetes Dokument. Sein wichtigstes Anliegen bestand darin, trotz der Auflösung des Warschauer Paktes eine Begründung für die weitere Existenz der NATO zu liefern. Es sprach nicht mehr von akuten militärischen Bedrohungen, sondern von schwer kalkulierbaren Risiken und wollte Sicherheit mit möglichst wenigen Streitkräften schaffen. Das Konzept hielt aber an der Präsenz US-amerikanischer Nuklearwaffen und Truppen in Europa als Garant der Sicherheit fest.

Das sechste strategische Konzept verabschiedete die NATO auf ihrem 50. Jubiläumsgipfel im April 1999 in Washington D.C. Darin beschrieb sie sich selbst als unverzichtbaren Garant transatlantischer Sicherheit und bekräftigte ihre bereits laufende Transformation hin zu einem stärker politisch orientierten Bündnis. Das Konzept hielt einerseits an der Kernaufgabe der kollektiven Verteidigung einschließlich der nuklearen Abschreckung fest, formulierte andererseits ein breiteres Sicherheitsverständnis, das mögliche Rückwirkungen globaler Trends und Risiken wie Terrorismus, die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, ethnische Konflikte, Menschenrechtsverletzungen und sozio-ökonomische Verwerfungen auf die Sicherheit der Mitgliedstaaten in Rechnung stellt. Entsprechend höher gewichtete das Konzept das Engagement der NATO jenseits der eigenen Bündnisgrenzen: zum einen die Partnerschaften mit anderen Akteuren wie Russland, zum anderen militärische Operationen zur Friedensunterstützung und zum Krisenmanagement.

Ebenso wichtig für ihre weitere Entwicklung war das Bekenntnis zur „Politik der offenen Tür“. Nachdem die Allianz kurz vor dem Gipfel im März 1999 mit Polen, Tschechien und Ungarn die ersten drei früheren Mitglieder des Interner Link: Warschauer Paktes aufgenommen hatte, stellte es auf dem Gipfel in Washington D.C. mit der Verabschiedung eines Vorbereitungsprogramms – dem Aktionsplan zur Mitgliedschaft (Membership Action Plan) – die Weichen für die Aufnahme weiterer Mitglieder.

Auf der Suche nach Orientierung

Kurze Zeit später wurde die Neujustierung der strategischen Ausrichtung der Allianz von den Interner Link: Terroranschlägen des 11. September 2001 überrollt. Vordergründig reagierten die NATO und ihre Mitgliedstaaten mit einer Beschleunigung der Transformation. Mit dem Einsatz in Afghanistan wurde das jetzt global gedachte Krisenmanagement zur wichtigsten Aufgabe. Gleichzeitig stolperte die NATO in eine sich vertiefende Krise. Vor dem Hintergrund des Kosovo-Kriegs und der dort zutage getretenen Blockadeneigung aufgrund der am Konsensprinzip orientierten Entscheidungsstrukturen der NATO drängten die USA auf Flexibilisierung. Der damalige US¬-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld sprach sogar von der NATO als einem Werkzeugkasten, aus dem sich „Koalitionen der Willigen“ bedienen könnten (Dembinski 2017: 767).

Der eigentliche Zweck der Allianz wurde angesichts der Weiterentwicklung von Aufgaben immer unklarer; ob und wie die NATO ihre vielen Ziele erreichen könnte, immer ungewisser. Der Streit über die zukünftige Erweiterung um die Ukraine und Georgien zwischen den USA auf der einen und Deutschland sowie Frankreich auf der anderen Seite endete auf dem Gipfel in Bukarest 2008 mit dem Kompromiss, beide Länder aufnehmen zu wollen, aber nicht zu sagen, wann. Das militärische Eingreifen in Libyen 2011 war höchst umstritten. Zudem häufen sich Konflikte auch um harte militärische und politische Interessen insbesondere mit der Türkei – sei es deren militärisches Eingreifen in Nordsyrien gegen die mit den USA im Kampf gegen den Interner Link: Islamischen Staat verbündete kurdische YPG-Milizen, türkische Rüstungskäufe in Russland oder der Streit mit Griechenland um Besitzrechte im östlichen Mittelmeer (Perot 2023).

Hinzu kamen die alten Konflikte um Lastenteilung und als neuer Faktor die Interner Link: Unberechenbarkeit eines US-Präsidenten Donald Trump, der andere NATO-Mitglieder unter Druck setzte, indem er das Beistandsversprechen relativierte und immer wieder mit einem möglichen Rückzug aus der NATO drohte. Die Diagnose des französischen Präsidenten Emmanuel Macron von 2019, die NATO sei „hirntot“, war zwar als provokanter Anstoß für eine Reformdiskussion gemeint, aber nicht völlig aus der Luft gegriffen. Das 2010 verabschiedete Interner Link: siebte strategische Konzept führte zwar die bis heute gültige Unterteilung der Interner Link: Aufgaben der NATO als kollektive Verteidigung, Krisenmanagement und kooperative Sicherheit ein, neue Orientierung verlieh es dem Bündnis aber nicht. Diese fand die Allianz erst nach der Invasion russischer Truppen in die Ukraine 2022, dem das Interner Link: achte strategische Konzept der NATO folgte.

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Dr. Matthias Dembinski ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektleiter im Bereich "Internationale Institutionen" der Hesssichen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) in Frankfurt/Main. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Europäische Außen- und Sicherheitspolitik, Transatlantische Beziehungen und die NATO.