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Der Bündnisfall der NATO | NATO - Nordatlantikpakt | bpb.de

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Der Bündnisfall der NATO

Nele Marianne Ewers-Peters

/ 7 Minuten zu lesen

Der Bündnisfall nach Artikel 5 des Nordatlantikvertrags gilt als Kern der NATO und wurde bislang nur einmal angewandt. Was einen Bündnisfall auslösen kann, wurde zuletzt ausgeweitet.

Die NATO beruht auf dem gegenseitigen Vertrauen, sich im Falle eines Angriffs kollektiv zu verteidigen: 2024 üben Streitkräfte verschiedener Mitgliedstaaten in der Übung "Steadfast Defender" den Ernstfall, hier am 4. März 2024 im polnischen Korzeniewo. (© picture-alliance, DeFodi Images | Mateusz Slodkowski)

Artikel 5 des Interner Link: Nordatlantikvertrags ist das Kernelement des Prinzips der kollektiven Verteidigung und somit der gesamten NATO-Allianz. Das Auslösen von Artikel 5 wird Bündnisfall genannt und ist zu vergleichen mit dem Motto der drei Musketiere: „einer für alle, alle für einen“. Das heißt: Wenn ein Mitgliedstaat angegriffen wird, wird dies als Angriff auf alle NATO-Mitglieder gewertet. Das Bündnis verteidigt sich dann gemeinsam, also kollektiv.

QuellentextArtikel 5 des Nordatlantikvertrags

„Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.

Vor jedem bewaffneten Angriff und allen daraufhin getroffenen Gegenmaßnahmen ist unverzüglich dem Sicherheitsrat Mitteilung zu machen. Die Maßnahmen sind einzustellen, sobald der Sicherheitsrat diejenigen Schritte unternommen hat, die notwendig sind, um den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit wiederherzustellen und zu erhalten.”

Quelle: Externer Link: NATO

Auch wenn innerhalb der Interner Link: kollektiven Verteidigung von einem Bündnisfall – d. h. von einem Angriff auf die Allianz, also auf alle NATO-Mitgliedstaaten – gesprochen wird, gilt nicht automatisch eine Beistandspflicht. Wird ein NATO-Staat angegriffen, muss dieser Angriff von allen NATO-Mitgliedern als solcher anerkannt werden. Erst dann wird gemeinsam der Bündnisfall im Nordatlantikrat ausgerufen. Auf nationaler Ebene muss im Einklang mit der jeweiligen Verfassung über die Maßnahmen und das Ausmaß der Unterstützung und Beiträge entschieden werden. Somit können nationale Prinzipien und Rechte respektiert und eingehalten werden. Dadurch sind unterschiedliche Arten der Unterstützung möglich: Staaten können militärisch mit Soldaten und Waffen Beistand leisten, aber auch finanzielle Mittel oder andere Hilfen zur Verfügung stellen. Auch können Mitgliedstaaten sich gegen eine direkte Unterstützung entscheiden, wenn sie das als nicht erforderlich ansehen. Die politischen Kosten für eine Verweigerung des Beistands wären jedoch hoch. Aus Artikel 5 besteht dennoch kein rechtlicher Anspruch auf Beistand und militärische Unterstützung der Mitgliedstaaten. Darüber hinaus sind die NATO und ihre Mitgliedstaaten verpflichtet, den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN) über ihre Maßnahmen zu unterrichten.

Aus historischer Perspektive waren die Verhandlungen um Artikel 5 und die Gewichtung des Bündnisfalls innerhalb der NATO kein einfacher Prozess. Der britische Außenminister Ernest Bevin galt dabei als richtungsweisende Kraft und war federführend im Verfassen von Artikel 5. Das Ziel bestand darin, die USA an die Sicherheit und Stabilität europäischer Staaten zu binden und langfristig die US-Sicherheitsgarantien gegen die Bedrohung durch die Sowjetunion zu bewahren. Ursprünglich sollte der Wortlaut zur kollektiven Verteidigung vom Interner Link: Brüsseler Pakt von 1948 übernommen werden. Dieser stieß jedoch insbesondere bei den USA auf Kritik, weil er eine automatische militärische Beistandspflicht vorsah. Die USA plädierten dafür, dass es in nationaler Hand bleibe, in welchem Ausmaß und mit welchen Mitteln ein NATO-Staat Beistand leiste. Mit Artikel 5 einigten sich die NATO-Mitgliedstaaten auf den Kompromiss zwischen dem Wunsch nach US-Sicherheitsgarantien seitens der europäischen Staaten und der politischen Akzeptanz seitens der USA.

QuellentextKollektive Verteidigung im Brüsseler Vertrag

Article IV: "If any of the High Contracting Parties should be the object of an armed attack in Europe, the other High Contracting Parties will, in accordance with the provisions of Article 51 of the Charter of the United Nations, afford the Party so attacked all the military and other aid and assistance in their power."

Artikel IV: „Sollte eine der Hohen Vertragsparteien in Europa Gegenstand eines bewaffneten Angriffs sein, werden die anderen Hohen Vertragsparteien gemäß den Bestimmungen von Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen der angegriffenen Partei alle in ihrer Macht stehenden militärischen und sonstigen Mittel zur Verfügung stellen.“

Quelle: Externer Link: NATO (deutsche Übersetzung durch bpb)

Bündnisfall nach 9/11

In der Geschichte der NATO wurde Artikel 5 bisher nur einmal ausgelöst. Dies geschah nach den Interner Link: terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001 (9/11) auf die USA. Als Akt der Solidarität lösten die NATO-Mitgliedstaaten bereits einen Tag nach den Anschlägen am 12. September 2001 Artikel 5 aus. Direkt im Anschluss wurde der UN-Sicherheitsrat durch den damaligen Generalsekretär Lord Robertson darüber informiert. Als Reaktion auf 9/11 fanden zunächst Konsultationen im NAC statt. Nach Aufforderung der USA wurde daraufhin die NATO aktiv, indem sie ihre ersten Operationen zur Terrorismusbekämpfung unter den Namen „Eagle Assist“ und „Operation Active Endeavour“ startete. Während „Eagle Assist“ zur direkten Sicherung der USA durch Luftraumüberwachung beitrug, zielte „Operation Active Endeavour“ auf die Bekämpfung terroristischer Aktivitäten im Mittelmeerraum ab.

Auf die Angriffe vom 11. September 2001 und die Ausrufung des Bündnisfalls folgten weitere militärische Operationen der NATO oder einzelner Mitglieder: Einzelne NATO-Staaten übernahmen das Kommando über die von den Vereinten Nationen ins Leben gerufene Interner Link: International Security Assistance Force (ISAF) in Afghanistan, die anfänglich vor allem in und um Kabul tätig war. Parallel dazu liefen US-Militäroperationen gegen die Taliban („Operation Enduring Freedom“) im Rest des Landes, an denen sich einzelne NATO-Staaten wie Großbritannien, Kanada, Frankreich und auch Deutschland direkt militärisch beteiligten. Im August 2003 übernahm die NATO offiziell das Kommando über ISAF.

Bündnisfall nach dem 11. September 2001Die acht Maßnahmen der NATO

Am 4. Oktober 2001 einigten sich die damals 19 Mitgliedstaaten des Nordatlantikrats einstimmig auf ein Paket von acht Maßnahmen zur Unterstützung der USA.

  • Verbesserter Informationsaustausch und Zusammenarbeit bei der Terrorismusbekämpfung (bilateral und innerhalb der NATO-Strukturen)

  • Unterstützung derjenigen Staaten, die durch ihr Anti-Terror Engagement höheren Risiken terroristischer Anschläge ausgesetzt sind

  • Erhöhung der Sicherheit von US-Einrichtungen (auch außerhalb der USA)

  • Bereitstellung von NATO-Mitteln zur Terrorismusbekämpfung

  • Überfluggenehmigungen zur Terrorismusbekämpfung

  • Zugangsgenehmigungen zu Häfen und Flugplätzen zur Terrorismusbekämpfung

  • Stationierung Ständiger Seestreitkräfte im östlichen Mittelmeer

  • Einsatz Teile der NATO Airborne Early Warning Force für die Terrorismusbekämpfung

Die Anwendung des Artikel 5 beschränkt sich basierend auf Artikel 6 des Nordatlantikvertrags auf das geographische Territorium der NATO-Mitgliedstaaten sowie ihrer international tätigen Streitkräfte. Mit der Entscheidung von 1951 wurden die Überseegebiete der Mitgliedstaaten inbegriffen. Mit jeder NATO-Erweiterung vergrößert sich das Territorium unter Artikel 5.

Ausweitung auf Cyber- und Weltraumsicherheit

Aufgrund technischer Fortschritte und dem Wandel der sicherheitspolitischen und strategischen Herausforderungen im 21. Jahrhundert haben die NATO-Mitgliedstaaten auf ihrem Interner Link: Gipfeltreffen in Wales 2014 beschlossen, dass Artikel 5 auch auf Angriffe im Cyberraum anwendbar ist. Dies zielt auf Hacker- und Cyberangriffe ab, die im Einzelfall durch den NAC als Bündnisfall beschlossen werden können. Die NATO hat für einen solchen Fall allerdings keine genauen Leitlinien festgesetzt und stützt sich daher auf eine Einzelfallbewertung basierend auf Umfang und Ausmaß eines Cyberangriffs. Sie stellt jedoch fest, dass kumulative Hacker- oder Cyberangriffe unterhalb der Schwelle eines bewaffneten Angriffs in ihrer Gesamtheit ausreichen können, um diese als „bewaffneten Angriff“ unter Artikel 5 zu bewerten. Durch die sich verändernde globale Sicherheitspolitik und das Ringen um wichtige Ressourcen und Einflussbereiche wurde auf dem NATO-Gipfeltreffen in Brüssel 2019 der Weltraum als fünftes Einsatzgebiet neben Land, Luft, See und dem Cyberraum bestimmt. Die NATO passt ihr Territorium für die kollektive Verteidigung also stetig ihrer strategischen und sicherheitspolitischen Umwelt an.

Debatten um den Bündnisfall

Die Debatten um Artikel 5 bleiben trotz dessen Anpassungen nicht aus. Umso mehr, als nach dem Ende des Kalten Kriegs die Interner Link: zerfallene Sowjetunion als größte Bedrohung für die NATO-Allianz und ihre Mitgliedstaaten wegfiel. Doch die Interner Link: jüngsten sicherheitspolitischen Entwicklungen mit der aggressiven Außenpolitik Russlands sorgten für eine neue Bedrohungswahrnehmung, die sich auch auf die Debatten um die Bündnisverteidigung auswirkt.

Seit der Interner Link: Gründung der NATO haben sich in Europa andere intergouvernementale Organisationen etabliert, wie die Interner Link: Europäischen Union (EU) und die Interner Link: Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Die NATO gilt nicht mehr als alleiniger sicherheitspolitischer Akteur. Allen voran die EU mit ihrer Interner Link: Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und der Interner Link: Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) bietet den europäischen Staaten ein weiteres Forum für Konsultationen, Aktionen und Einsätze. Über Zeit hat dieInterner Link: EU ihre sicherheits- und verteidigungspolitischen Instrumente erweitert und verstärkt, insbesondere mit der Einführung der Externer Link: Solidaritätsklausel (Artikel 222, AEUV) und der Externer Link: gegenseitigen Verteidigungsklausel (Artikel 42.7, EUV) des Vertrags von Lissabon. Beide Klauseln sind vergleichbar mit der Beistandspflicht der NATO. Auch EU-Staaten können frei entscheiden, ob sie einem angegriffenen Mitgliedstaat militärisch oder auf anderem Wege beistehen wollen.

Ein Großteil der Abschreckungsfähigkeit der NATO beruht auf dem Vertrauen darin, dass die Mitgliedstaaten und insbesondere die USA ihren Verbündeten im Falle eines Angriffs militärisch beistehen. Wiederholte Äußerungen des ehemaligen US-Präsidenten und voraussichtlich erneuten republikanischen Präsidentschaftskandidaten Donald Trump drohen, dieses Vertrauen zu beschädigen. Trump stellte zuletzt erneut infrage, ob die USA bei einem Angriff Russlands auf das Bündnisgebiet militärisch Hilfe leisten würden. Diese Verunsicherung der Verbündeten hatte bereits während seiner letzten Präsidentschaft (2017 bis 2021) dazu geführt, dass die europäischen Staaten über eine eigene strategische Autonomie bzw. Souveränität und Sicherheitsstrukturen abseits der NATO diskutierten.

Zugleich gibt es das politische Bekenntnis zur NATO und ihrer Beistandspflicht in europäischen Staaten. Nach dem russischen Angriffskrieg versicherte beispielsweise der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz „jeden Quadratzentimeter“ des Bündnisgebiets zu verteidigen. Auch der französische Präsident Emmanuel Macron revidierte seine Aussage von 2019, die NATO sei „hirntot“. Zugleich betonte er die Bedeutung und Wirksamkeit von Artikel 5 für die Abschreckung gegenüber Russland.

Eine Reihe an Studien zeigen außerdem, dass das öffentliche Meinungsbild in den NATO-Mitgliedstaaten zur Beistandspflicht ihres Landes variiert und sich mit der sicherheitspolitischen Lage verändert: Vor dem russischen Angriff auf die Ukraine 2022 gab es in vielen NATO-Mitgliedstaaten keine Mehrheit für den militärischen Beistand nach Artikel 5. Das hat sich mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine geändert. Vergleichsstudien zeigen, dass die Bedrohungswahrnehmung und zugleich auch die Zustimmung zur NATO und zum Prinzip der kollektiven Verteidigung in europäischen Staaten nach dem Februar 2022 gestiegen ist.

Auch in anderen Staaten hat die russische Aggression zu einem radikalen Wandel der öffentlichen Meinung gegenüber der NATO geführt: So sind mit Finnland 2023 und Schweden 2024 zwei europäische Staaten der NATO beigetreten, die sich traditionell außen- und sicherheitspolitisch neutral positioniert hatten. Beide Länder gaben ihre jahrzehnte- bis jahrhundertelange militärische Bündnisfreiheit auf, nach dem sich die öffentliche Meinung innerhalb nur eines Jahres zugunsten eines NATO-Beitritts praktisch gedreht hatte. Der Kern von Artikel 5, das gegenseitige Vertrauen darauf, sich gemeinsam gegen Angriffe zu verteidigen, bleibt demnach bis heute das zentrale Versprechen der NATO.

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Dr. Nele Marianne Ewers-Peters ist Assistant Professor for European Security an der Faculty of Arts and Social Sciences der Maastricht Universität. Zuvor arbeitete sie u.a. am Lehrstuhl für Internationale Sicherheit und Konfliktforschung der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen auf der NATO, der Europäischen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Sicherheitskooperation und Global Governance.