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Innere Sicherheit in der Europäischen Union

Thorsten Müller

/ 6 Minuten zu lesen

Das intensivere Zusammenwachsen der EU-Mitgliedstaaten hat auch zu einer verstärkten Zusammenarbeit im Bereich innere Sicherheit und Kriminalitätsbekämpfung geführt. Supranationale Abstimmungsprozesse bei Gesetzen und Behörden spielen eine immer größere Rolle.

Grenzschutzpolizisten aus Polen (links), Rumänien (rechts) und Deutschland (Mitte) bei einem gemeinsamen FRONTEX-Kontrolleinsatz auf dem Frankfurter Flughafen. (© AP)

Zunehmender Einfluss europäischer Politik auf das Alltagsleben

Die Europäische Union ist aus dem Alltag der Bürgerinnen und Bürger nicht mehr wegzudenken. Viele Lebensbereiche werden inzwischen durch EU-Institutionen und -gesetze maßgeblich beeinflusst. Im Rahmen des europäischen Binnenmarktes haben die Nationalstaaten freiwillig auf Souveränität verzichtet und in ihrer Mehrzahl die eigenen Währungen abgeschafft.

Der zunehmende Einfluss europäischer Politik betrifft inzwischen auch Politikbereiche, die zu den Kernaufgaben der Nationalstaaten gehören: Außen- und Sicherheitspolitik sowie die innere Sicherheit. Die Sicherheitsbehörden der Mitgliedstaaten arbeiten zwecks Bekämpfung von Terrorismus, organisierter Kriminalität, illegaler Einwanderung oder Extremismus immer enger zusammen, um grenzüberschreitender Kriminalität besser begegnen zu können.

Verwirklichung des Binnenmarktes

Innerhalb der Europäischen Union ist es in den vergangenen Jahrzehnten gelungen, eine Region des Friedens, der Freiheit und des Wohlstands zu schaffen, in der Demokratie herrscht, die Menschenrechte und Grundfreiheiten geachtet und rechtsstaatliche Prinzipien durchgesetzt werden.

Kern der wirtschaftlichen Zusammenarbeit war die Verwirklichung eines Binnenmarktes, der alle Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten verbindet. Die Aufhebung von Zöllen, die Durchsetzung gemeinsamer (Wettbewerbs-)Regelungen oder die Vereinbarung von Mindeststandards im Arbeitsrecht oder Verbraucherschutz zeichnen diese Integration aus. Mit dem Schengener Übereinkommen von 1985 und dem Schengener Durchführungsübereinkommen von 1995 wurden schrittweise die Grenzkontrollen zwischen den teilnehmenden Vertragsstaaten aufgehoben. Inzwischen ist die Reisefreiheit ohne Grenzkontrollen weitgehend umgesetzt. Auch die Nicht-EU-Staaten Norwegen, Island und die Schweiz nehmen daran teil.

Mit der Aufhebung der Binnengrenzkontrollen verzichteten die einzelnen Mitgliedstaaten auf ein wichtiges Kontrollinstrument an ihren nationalen Außengrenzen. Im Gegenzug sollen gemeinsame Standards an den europäischen Außengrenzen und eine intensive grenzüberschreitende Polizeikooperation etabliert werden. In den vergangenen Jahren entwickelte die EU außerdem eine gemeinsame Visapolitik, Ansätze einer Asylpolitik sowie Grundzüge einer Einwanderungspolitik.

Herausforderungen für die innere Sicherheit

Die vier Freiheiten des europäischen Binnenmarktes – freier Personen-, Dienstleistungs-, Waren- und Kapitalverkehr −haben einen hohen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Nutzen. Gleichzeitig lassen sich jedoch konkrete Gefahren für die innere Sicherheit identifizieren, deren erfolgreiche Bekämpfung nur durch eine enge Kooperation der Mitgliedstaaten möglich sein wird. Zu diesen Herausforderungen zählen unter anderem Terrorismus, organisierte Kriminalität und illegale Einwanderung.

Terrorismus

Mit den Anschlägen vom 11. September 2001 ist die internationale Dimension des islamistisch ausgerichteten Terrorismus ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Die auf die westliche Zivilisation und Wirtschaftsform gerichteten Anschläge fanden ihre europäische Fortsetzung in den Anschlägen in Madrid (2004) und London (2005).

Die Herausforderung des internationalen Terrorismus ist somit für die Europäische Union nicht mehr nur eine abstrakte Bedrohung. Der Aspekt des "home grown terrorism", das heißt der Radikalisierung einzelner Muslime, die in den westlichen Gesellschaften sozialisiert und integriert waren, hat seit Ende der 1990er Jahre an Bedeutung gewonnen.

Organisierte Kriminalität

Die Bekämpfung der grenzüberschreitenden organisierten Kriminalität konzentriert sich neben anderen auf folgende Themenbereiche: Menschenhandel, Drogenhandel, Geldwäsche, Geldfälschung und Cyberkriminalität. Über die neuesten Entwicklungen in der organisierten Kriminalität informiert das Europäische Polizeiamt Europol in einem zweijährlich erscheinenden Bericht (OCTA: EU Organised Crime Threat Assessment). Alle genannten Kriminalitätsfelder weisen ein hohes Maß an Professionalisierung, Organisation und grenzüberschreitender Vernetzung auf. Dahinter stehen hierarchisch organisierte Strukturen. Besonders deutlich wird dies am international ausgerichteten Drogenhandel. Die einzelnen Mitgliedstaaten und ihre Strafverfolgungsbehörden sind alleine nicht mehr in der Lage, diese Organisationen erfolgreich zu zerschlagen. Die internationale und insbesondere die europäische Vernetzung ist also wesentliche Voraussetzung für die Bekämpfung des Drogenhandels. Cyberkriminalität spielt erst seit einigen Jahren eine größere Rolle, ihre Bekämpfung ist somit noch ein recht junges Handlungsfeld. Mit der Einführung des Internets und insbesondere durch internetgestützte Zahlungsvorgänge und die Abwicklung von Käufen und Verkäufen nimmt hier die Kriminalität stark zu.

Illegale Einwanderung

Die illegale Einwanderung bildet die dritte große Herausforderung für die EU. Angesichts der Stabilität, des Friedens und des wirtschaftlichen Wohlstands auf dem europäischen Kontinent sind die Mitgliedstaaten begehrte Zielländer von illegalen Einwanderern aus den verschiedenen Weltregionen. Die EU verfolgt eine repressive Einwanderungspolitik. Zum Beispiel wurde zwecks Bekämpfung der illegalen Einwanderung im Jahre 2004 die Grenzschutzorganisation Frontex errichtet, die auf der Basis einheitlicher Kontrollstandards die Mitgliedstaaten bei der Bewältigung ihrer Aufgabe unterstützen soll. Diese Standards wurden im Schengener Grenzkodex formuliert, der von den Mitgliedstaaten die Bereitstellung geeigneter Grenzschutzbeamte in ausreichender Zahl mit einer angemessenen Qualifikation fordert, die in der Lage sind, an allen Außengrenzen der Schengener Mitgliedstaaten ein vergleichbar hohes Sicherheitsniveau zu gewährleisten.

"Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts"

Die Herausforderungen an die innere Sicherheit innerhalb der Europäischen Union haben sich in den vergangenen 20 Jahren deutlich verändert. Deshalb mussten sich die europäischen Sicherheitsakteure stärker vernetzen, um mit der Entwicklung der internationalen Kriminalität Schritt zu halten.

Die Europäische Union hat mit dem Maastrichter Vertrag von 1993 erstmals den Bereich der Innen- und Justizpolitik als "dritte Säule" der EU formuliert, neben den beiden Säulen Europäische Gemeinschaft und Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Die Zusammenarbeit war intergouvernemental ausgerichtet, das Einstimmigkeitsprinzip galt durchgehend.

Mit dem Amsterdamer Vertrag von 1999 wurde die EU als Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bezeichnet. Freiheit meint hier neben der Personenfreizügigkeit auch die Freiheit des Waren-, Kapital- und Dienstleistungsverkehrs im gemeinsamen Binnenmarkt. Freiheit bedeutet auch die Aufhebung der Grenzkontrollen sowie die Gewährleistung von Asyl für Verfolgte bzw. die Herausbildung einer gemeinsamen Einwanderungspolitik.

Mit dem Aspekt der Sicherheit wird die Zusammenarbeit der Polizeibehörden der Mitgliedstaaten betont, insbesondere im Rahmen des Europäischen Polizeiamtes Europol, von Frontex, der Europäischen Polizeiakademie und vieler anderer Organisationsstrukturen.

Die enge Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten macht auch eine Regelung der juristischen Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen nötig, beispielsweise durch die sogenannte Einheit für justizielle Zusammenarbeit der Europäischen Union (Eurojust). Für alle Bürgerinnen und Bürger gelten die Regelungen der Grundrechtecharta der Europäischen Union. Damit sollen die Menschenrechte in allen Mitgliedstaaten der EU gewährleistet werden.

Der Lissaboner Vertrag (2009) hob die bisherige Säulenstruktur mit unterschiedlichen Entscheidungs- und Beteiligungsverfahren des Europäischen Parlaments und des Europäischen Gerichtshofs weitgehend auf und brachte in die bis dahin sehr unterschiedlichen Verfahren mehr Transparenz sowie mehr Einfluss für die europäischen Institutionen.

Die Europäische Union entwickelt die Zusammenarbeit in der inneren Sicherheit fortlaufend weiter. Dazu gibt sie sich umfangreiche Arbeitsprogramme (Tampere 1999, Den Haag 2004 und Stockholm 2009); auch die Europäische Kommission beteiligt sich zunehmend an der strategischen Weiterentwicklung der Zusammenarbeit (EU-Strategie der inneren Sicherheit 2010).

Vernetzung der Sicherheitsbehörden: Europol und Frontex

Eine Reihe von Institutionen und Agenturen befassen sich inzwischen auf der europäischen Ebene mit Fragen der inneren Sicherheit. Neben der Europäischen Kommission und dem Rat der EU haben neu geschaffene Strukturen wie Europol, Frontex oder Eurojust eigene Kompetenzen erhalten, um die Vernetzung der Sicherheitsbehörden zu gewährleisten. Das Europäische Polizeiamt Europol mit Sitz in Den Haag nahm seine Arbeit im Jahr 1999 vollständig auf. Mit mehr als 700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und einem Budget von über 83 Mio. Euro (2011) konzentriert sich Europol auf die Bekämpfung der grenzüberschreitenden schweren Kriminalität. Dabei verfügt es über keine operative Kompetenzen, sondern fungiert als Dienstleister für die nationalen Polizeibehörden, indem die Informationen aus den Mitgliedstaaten vernetzt, Risiken analysiert sowie Vorschläge für Maßnahmen entwickelt werden.

Bei der europäischen Grenzschutzagentur Frontex mit Sitz in Warschau arbeiten knapp 300 Beschäftigte. Die Agentur verfügt ebenfalls über ein Budget von 83 Mio. Euro (2011) und hat Zugriff auf Flugzeuge, Hubschrauber sowie Patrouillenboote und Grenzschutzpersonal der Mitgliedstaaten. Frontex unterstützt bei Bedarf die nationalen Grenzschutzeinheiten, die weiterhin für die Sicherung der Außengrenzen zuständig bleiben. Dabei analysiert Frontex die Gefahrenlage sowie Schleusungsrouten und koordiniert die Einsatzkräfte der Mitgliedstaaten bei konkreten Maßnahmen.

Die Tätigkeit von Frontex ist umstritten. So werfen Flüchtlingsorganisationen der Agentur immer wieder vor, gegen das Seerecht und die Genfer Flüchtlingskonvention zu verstoßen – zum Beispiel, weil Bootsflüchtlinge abgewiesen werden, ohne die Möglichkeit zu erhalten, einen Asylantrag zu stellen.

Europäisierung der inneren Sicherheit

Die Gewährleistung von Sicherheit gehört zu den klassischen Kernaufgaben eines Nationalstaats, die er angesichts der internationalen Vernetzung von Terrorismus und organisierter Kriminalität bei einem gleichzeitig hohen Maß an Freiheit innerhalb der EU nicht mehr alleine gewährleisten kann. Insofern spiegeln die vertraglichen Veränderungen von Maastricht, Amsterdam und Lissabon eine Reaktion der Mitgliedstaaten auf die veränderten Rahmenbedingungen und Herausforderungen wider.

Die hier skizzierte Integrationsentwicklung von dem rein national ausgerichteten und durch Souveränität gekennzeichneten Aufgabenbereich der inneren Sicherheit hin zu einer deutlich ausgeprägten Kooperation auf europäischer Ebene verändert langfristig die Qualität der Staatlichkeit im Bereich der inneren Sicherheit. Es verstetigt sich ein Prozess der Europäisierung, der sich schon heute in der konkreten Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden auf der operativen Ebene zeigt.

Weitere Inhalte

Prof. Dr. Thorsten Müller lehrt an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW am Studienort Hagen die Fächer Politikwissenschaft und Soziologie. Er wurde an der Universität zu Köln mit einer Dissertation zur Innen- und Justizpolitik der Europäischen Union promoviert.