Migration und Kriminalität – Erfahrungen und neuere Entwicklungen
Christian Walburg
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Von Migranten verübte Straftaten erfahren in Zeiten hoher Zuwanderung eine große öffentliche Aufmerksamkeit. Ein differenzierter Blick auf aktuelle Kriminalstatistiken und Studien zeigt, dass es keine einfache Formel für Zusammenhänge zwischen Migration und Kriminalität gibt.
Auch unter Migranten wird nur ein kleiner Teil straffällig. Allerdings fallen Migranten(-nachkommen) insgesamt häufiger mit Straftaten auf als Nichtmigranten. Die Unterschiede sind z.T. mit einer unterschiedlichen Alters- und Geschlechtszusammensetzung sowie mit belastenden Lebensumständen und -erfahrungen in einigen Zuwandergruppen zu erklären.
Erwachsene Migranten mit Aussicht auf Zugang zum Arbeitsmarkt fallen allgemein recht selten mit Straftaten auf.
Bei Gewaltdelikten von Geflüchteten spielen unter anderem Konflikte in Gemeinschaftsunterkünften, geringe soziale Bindungen, Belastungen durch die prekäre Lebenssituation sowie mögliche frühere Gewalterfahrungen eine Rolle.
Unter jungen Menschen aus bereits länger ansässigen Migrantenfamilien war die Kriminalitätshäufigkeit zuletzt, wie auch bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund, deutlich rückläufig.
1. Einleitung
Von Migranten verübte Straftaten erfahren in Zeiten hoher Zuwanderung eine große öffentliche Aufmerksamkeit. Kriminalität, das heißt der Verstoß gegen zentrale soziale Normen, gilt häufig als Inbegriff von Integrationsproblemen. Generelle Verunsicherungen, die zum Beispiel von sozialem Wandel, globalen Ungleichheiten, ökonomischen Krisen, Kriegen und Konflikten in Nachbarregionen sowie von dadurch bedingten Migrationsprozessen ausgelöst werden, erhalten durch Berichte über von Zuwanderern verübte Straftaten einen konkreter fassbaren Bezugspunkt. Bei alledem sind bestimmte Formen der Zuwanderung, insbesondere die Fluchtmigration, für die Zuwanderer zunächst einmal mit dem erheblichen Risiko verbunden, selbst Opfer einer Straftat zu werden. Dies beginnt bei repressiven und brutalen Regimen und (Bürger-)Kriegsparteien in den Herkunftsländern und kann sich während der Flucht in Transitländern mit finanzieller Ausbeutung, Gewalt und sexuellen Übergriffen durch Schlepper, Sicherheitskräfte oder in Flüchtlingslagern fortsetzen. In den Aufnahmeländern können Zuwanderer zudem fremdenfeindlichen Anfeindungen und Übergriffen ausgesetzt sein.
In den Aufnahmegesellschaften wird der Blick hingegen in erster Linie auf Kriminalität als von Zuwanderern ausgehende mögliche Folge von Zuwanderung gerichtet. Dies lässt sich auch im Zusammenhang mit dem Zuzug einer außergewöhnlich hohen Zahl an Asylsuchenden im Jahr 2015 und zu Beginn des Jahres 2016 wieder beobachten. Über Straftaten, an denen Flüchtlinge und Migranten beteiligt sind, wird besonders intensiv berichtet, und sie bestärken Bedenken, inwiefern die Zuwanderungsprozesse zu bewältigen sind. Daneben artikulieren sich Sorgen vor einem Rückgang der gesellschaftlichen Akzeptanz und des Engagements für Flüchtlinge. Keineswegs neu ist der Umstand, dass politische Akteure im In- und Ausland das emotional besetzte Thema Kriminalität zum Schüren von Ängsten und Ressentiments gegenüber Migranten nutzen und das verzerrte Bild eines Landes zeichnen, in dem beständig immer mehr Straftaten verübt werden. Bei diesen Akteuren steht das Thema Kriminalität im Mittelpunkt einer allgemeinen Krisen- und Notstandsrhetorik – auch, um damit Forderungen nach immer harscheren Maßnahmen der Migrationsabwehr zu untermauern. In letzter Zeit hat sich in diesem Zusammenhang, nicht zuletzt durch neue Kommunikationsformen im Internet, ein regelrechter Kampf um die Deutungshoheit über seit jeher in hohem Maße interpretationsbedürftige offizielle Kriminalstatistiken entwickelt.
In dieser besonderen Gemengelage lohnt ein Blick auf klassische und neuere Befunde aus wissenschaftlichen Untersuchungen zu Zusammenhängen zwischen Migration und Kriminalität. Anders als teilweise unterstellt, ist dieses Thema keineswegs wissenschaftlich tabuisiert, sondern im In- und Ausland seit Jahrzehnten Gegenstand kriminologischer Studien und Debatten. Die Antworten auf Fragen nach der Auswirkung von Zuwanderungsprozessen auf das Kriminalitätsgeschehen, nach der Kriminalitätsbeteiligung von Migranten sowie nach entsprechenden Ursachen sind jedoch komplex. Denn Migrationsprozesse, Zuwanderergruppen und Aufnahmebedingungen in den Ankunftsländern sind ebenso vielfältig wie Formen strafbaren Verhaltens; es gibt weder "die Migranten", noch "die Kriminalität". Gleichwohl lassen sich aus der Forschung und aus aktuellen Eindrücken aus Kriminalstatistiken bestimmte Grundmuster und Tendenzen erkennen.
2. Deutsche und Ausländer in Kriminalstatistiken
Insgesamt betrachtet sind Migranten in westeuropäischen Gesellschaften unter den polizeilich erfassten Tatverdächtigen, den gerichtlich Verurteilten und den Strafgefangenen überrepräsentiert. In vielen Ländern, so auch in Deutschland, lässt sich die Registrierungshäufigkeit von Migranten allerdings nicht direkt aus Kriminalstatistiken ablesen, da darin meist nicht das Geburtsland erfasst wird. Es lassen sich jedoch zumindest Aussagen zur Registrierungshäufigkeit der ausländischen Bevölkerung treffen. Dabei ist aber im Blick zu behalten, dass diese Gruppe nicht mit der Migrantenbevölkerung identisch ist: 2018 hatten bundesweit 38% der im Ausland Geborenen (etwa als (Spät-)Aussiedler oder eingebürgerte Arbeitsmigranten) die deutsche Staatsangehörigkeit (Schaubild 1). Unter den im Inland geborenen Nachkommen von Migranten gilt dies für die große Mehrzahl (75%). Nicht alle Migranten(-nachkommen) sind also Ausländer.
Zudem finden sich unter den ausländischen Tatverdächtigen (neben nicht eingebürgerten Migranten oder Nachkommen von Migranten) auch Menschen, die sich etwa als Touristen, Durchreisende oder gezielt zur Begehung von Straftaten nur vorübergehend in Deutschland aufhalten und hier wegen einer Straftat aufgefallen sind. Es handelt sich also auch nicht bei allen tatverdächtigen Ausländern, die in den Kriminalstatistiken erfasst sind, um im Inland lebende (und in der hiesigen Bevölkerungsstatistik erfasste) Menschen mit eigener oder elterlicher Migrationsgeschichte (s. im Überblick Schaubild 2).
Bei den "nichtmigrantischen" ausländischen Tatverdächtigen geht es durchaus um eine relevante Gruppe. Laut Polizeilicher Kriminalstatistik hatten im Jahr 2019 insgesamt 11,8% der ermittelten ausländischen Tatverdächtigen (ohne ausländerrechtliche Verstöße wie Einreise und Aufenthalt ohne erforderliches Visum oder Aufenthaltstitel) ihren Wohnsitz im Ausland. Bei weiteren 12% konnte die Polizei keinen (festen) Wohnsitz ermitteln. All dies betrifft vor allem Diebstahlsdelikte. Bei Kfz-Diebstählen betrug der Anteil der ausländischen Tatverdächtigen mit Wohnsitz im Ausland an allen ausländischen Tatverdächtigen sogar 36,4%. Die häufig vorgenommene pauschale Gegenüberstellung des Gesamtanteils aller ausländischen Tatverdächtigen (alle Delikte ohne ausländerrechtliche Verstöße 2019: 30,4%) mit dem Anteil der Ausländer in der bei den Meldeämtern registrierten Bevölkerung (2019: ca. 12,5%) ergibt deshalb ein unzutreffendes, überhöhtes Bild der Registrierungshäufigkeit von hier lebenden Ausländern.
Im längerfristigen Trend unterlag der Ausländeranteil an allen Tatverdächtigen erheblichen Schwankungen, die eng mit jeweils neuen armuts- oder kriegsfluchtbedingten Zuwanderungsprozessen und zum Teil auch mit Veränderungen bei grenzüberschreitenden Diebstahlsdelikten zusammenhingen. Mit der deutlichen Zunahme der Zuwanderung nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes und mit dem Ausbruch der Jugoslawienkriege ist der Ausländeranteil unter den Tatverdächtigen ab Ende der 1980er Jahre erheblich angestiegen und hat Anfang der 1990er Jahre einen Höchststand erreicht (s. Schaubild 3). Nach 1993 ist der Anteil dann jedoch wieder kontinuierlich zurückgegangen und erreichte bis 2008 mit 20% (Diebstahlsdelikte) bzw. 23,5% (Gewaltdelikte) in etwa den Wert von 1987. Seit 2008 hat die Zahl der Zuwanderer wieder stark zugenommen, ablesbar etwa an einer erheblich gestiegenen Zahl der ausländischen Bevölkerung (von 6,7 Mio. auf zuletzt mehr als 10 Mio. Einwohner/-innen). Dadurch, und durch die sinkenden Tatverdächtigenzahlen unter Deutschen in dieser Phase, ist der Ausländeranteil zuletzt wieder stark angestiegen und lag 2019 bei 38,0% (Diebstahlsdelikte) bzw. 37,5% (Gewaltdelikte).
Der Anstieg des Ausländeranteils unter den Tatverdächtigen bedeutet deshalb nicht, dass sich die relative Registrierungshäufigkeit der ausländischen Bevölkerung in dieser Zeit insgesamt wesentlich erhöht hätte. Es ist also nicht so, dass "die Ausländer" pro Kopf insgesamt häufiger wegen Straftaten erfasst würden als noch vor zehn Jahren. Für die bereits länger ansässige ausländische Bevölkerung ergaben sich zuletzt vielmehr, ebenso wie in der deutschen Bevölkerung, eher rückläufige Tendenzen.
Genauere Berechnungen zur Registrierungshäufigkeit in der ausländischen Wohnbevölkerung legen nahe, dass die Gesamt-Tatverdächtigenanteile (mit etablierteren und neu zugewanderten Ausländern) über die Jahre relativ konstant geblieben sind. Nach der Polizeilichen Kriminalstatistik des Landes Berlin wurden 2019 beispielsweise 2,4% der dort als wohnhaft gemeldeten deutschen Staatsangehörigen wegen einer Straftat (ohne ausländerrechtliche Verstöße) polizeilich registriert, von den in Berlin gemeldeten ausländischen Staatsangehörigen waren es insgesamt 4,6%. Eine Sonderauswertung in Schleswig-Holstein hat für die dort wohnhaften Deutschen im Jahr 2016 eine Registrierungsquote von 1,8% ergeben, die der ausländischen Wohnbevölkerung lag dort bei 4,2%. Ähnliche Relationen wurden bereits für das Jahr 2006 in Bayern ermittelt: In der deutschen Bevölkerung lag der Tatverdächtigenanteil bei 2%, in der dortigen ausländischen Bevölkerung ergab sich damals ein Wert von 4%.
Nicht berücksichtigt sind bei solchen Gesamtvergleichen zum Teil erhebliche soziodemografische Unterschiede zwischen den betrachteten Gruppen. Ein gewisser Teil der häufigeren Registrierung von Ausländern ist schlicht darauf zurückzuführen, dass diese Bevölkerungsgruppe anteilig mehr junge Männer (und zum Beispiel weniger Frauen im Seniorenalter) aufweist als die deutsche Bevölkerung. Bei Männern im Übergang vom Jugend- zum Erwachsenenalter sind in allen Gesellschaften und zu allen Zeiten die höchsten Kriminalitätsraten zu beobachten. Besonders bedeutsam ist dieser Umstand bei der Einordnung der Registrierungshäufigkeit von in den letzten Jahren zugezogenen Asylsuchenden, unter denen sich erheblich mehr Männer in einem "kriminologisch relevanten" Alter befanden als in der Gesamtbevölkerung (s. Abschnitt 6).
Von Bedeutung ist schließlich noch ein weiterer grundlegender Aspekt. Offizielle Kriminalstatistiken bilden nur einen Teil aller strafbaren Verhaltensweisen ab. Erfasst werden die Vorkommnisse, die der Polizei und Justiz (vor allem durch Anzeigen, zu einem kleineren Teil durch proaktive Tätigkeit der Behörden) bekannt geworden sind und von den Instanzen zum Zeitpunkt der statistischen Erfassung (bei der Polizei bei Abgabe der Ermittlungen an die Staatsanwaltschaft) als (wahrscheinlich) strafbar beurteilt worden sind (sogenanntes Hellfeld der Kriminalität). Ein Vergleich der "tatsächlichen" Kriminalitätsbeteiligung verschiedener sozialer Gruppen (zum Beispiel jüngere und ältere, ärmere und reichere oder zugewanderte und nicht zugewanderte Menschen) auf Basis offizieller Statistiken setzt daher voraus, dass die Wahrscheinlichkeit, dass strafbares Verhalten entdeckt, angezeigt und offiziell registriert wird sowie anschließend zu einer Verurteilung führt, in den entsprechenden Gruppen annähernd gleich hoch ist. Davon ist jedoch nicht immer ohne Weiteres auszugehen.
Im Zusammenhang mit Migration haben Befragungsstudien zum Beispiel gezeigt, dass die Entscheidung eines jugendlichen Opfers einer Gewalttat, Strafanzeige zu erstatten, neben vielen anderen Faktoren (wie der Tatschwere oder der persönlichen Bekanntschaft mit dem Täter) auch davon abhängt, ob der Täter als "fremd" wahrgenommen wird. Für Minderheitenangehörige kann sich daraus insgesamt eine erhöhte Wahrscheinlichkeit ergeben, wegen einer Straftat angezeigt zu werden. Umgekehrt bleibt im Blick zu behalten, dass strafbares Verhalten innerhalb vergleichsweise abgeschlossener Milieus, die es (auch) unter Migranten zum Teil gibt, besonders selten nach außen dringt.
Inwieweit Menschen ausländischer Herkunft zudem häufiger polizeilich kontrolliert werden, wurde bislang in Deutschland recht wenig untersucht. Bekannt gewordene Fälle und europaweite Befragungen unter Minderheitenangehörigen deuten indes darauf hin, dass es zuweilen zu Personenkontrollen kommt, die sich primär auf äußerliche Merkmale stützen (Racial/Ethnic Profiling). Dabei spielen auch gesetzliche Vorschriften eine Rolle, die anlass- und verdachtsunabhängige Kontrollen etwa im Zugverkehr zur Feststellung illegaler Einreisen ermöglichen.
Im Hinblick auf Entscheidungen von Staatsanwaltschaften und Gerichten gibt es insgesamt keine ganz einheitlichen Befunde bezüglich einer möglichen Benachteiligung von Ausländern und Migranten. Eine neuere Studie ergab allerdings Hinweise auf eine etwas härtere Strafzumessung gegenüber ausländischen Angeklagten, vor allem solchen aus Nicht-EU-Staaten. Die Unterschiede waren 2010 aber geringer als noch im Jahr 1998. Seit Langem ist zudem erkennbar, dass bei ausländischen Beschuldigten eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit besteht, dass während des Strafverfahrens Untersuchungshaft angeordnet wird, da hier erheblich häufiger Fluchtgefahr angenommen wird.
Auf den verschiedenen Ebenen von Anzeigeerstattung, polizeilicher Arbeit und justiziellen Entscheidungen gibt es somit durchaus Hinweise auf Verzerrungen zu Lasten von Ausländern bzw. Migranten. Nichtsdestoweniger ist alles in allem nicht davon auszugehen, dass unterschiedliche Registrierungshäufigkeiten allein mit divergierenden Anzeigehäufigkeiten, intensiveren polizeilichen Kontrollen oder auch Unterschieden in der Strafzumessung zu erklären sind.
4. Unterschiede nach Deliktsbereichen
Die Gesamtregistrierungshäufigkeit und der Gesamttatverdächtigenanteil von Ausländern sind für sich genommen wenig aussagekräftig. Dies beruht zum einen auf dem bereits angeführten Umstand, dass viele Migranten(-nachkommen) keine Ausländer und manche ausländischen Tatverdächtigen keine Migranten sind. Neue Zuwanderungsprozesse, gegenwärtig beispielsweise von syrischen Flüchtlingen, lassen sich durch das Merkmal der Staatsangehörigkeit jedoch noch vergleichsweise gut abbilden. Hinzu kommt aber, dass Migranten, ebenso wie Nichtmigranten, keine homogene Gruppe sind. Die dahinterstehenden Zuwanderungsprozesse und damit verbundenen Lebenslagen sind höchst vielfältig. Dementsprechend ist auch mit Bezug auf Kriminalität, die es ebenfalls in sehr unterschiedlichen Facetten gibt, zu differenzieren.
So hat sich im In- und Ausland wiederholt gezeigt, dass Migranten der ersten Generation, das heißt Menschen, die selbst im Erwachsenenalter zugewandert sind, regelmäßig nicht besonders häufig mit Straftaten auffallen. Dies gilt insbesondere dann, wenn eine Chance auf Zugang zum Arbeitsmarkt besteht. In Deutschland war dies beispielsweise bei den sogenannten Gastarbeitern und später etwa auch für im Erwachsenenalter zugewanderte (Spät-)Aussiedler zu beobachten. Angesichts zunächst oft geringer sozialer Bindungen und Teilhabe mag ein solches Ergebnis möglicherweise etwas überraschend erscheinen. Erklärt wird es häufig damit, dass in diesen Fällen oft eine hohe Motivation besteht, Fuß zu fassen und das Migrationsvorhaben nicht durch Straftaten zu gefährden. Zugleich ist das Alter relevant. Denn die in vielen Fällen durchaus einschneidende Migrationserfahrung vollzieht sich in einem Lebensalter, in dem die Persönlichkeitsentwicklung und die Normsozialisation bereits im Wesentlichen stattgefunden haben. Ein "Einstieg in die Kriminalität" erst in der dritten oder gar vierten Lebensdekade ist nach Erkenntnissen der kriminologischen Verlaufsforschung generell wenig wahrscheinlich.
Diebstahlsdelikte
Bei einer genaueren Betrachtung und Unterscheidung nach Deliktsbereichen und Herkunftsländern ist in Westeuropa gegenwärtig zu erkennen, dass Migranten aus sogenannten westlichen Ländern (das heißt vor allem aus anderen "EU 12"-Ländern) über viele Deliktsbereiche hinweg häufig vergleichsweise niedrige Registrierungsraten aufweisen. Ähnliches gilt, bei Diebstahlsdelikten, beispielsweise auch für die ehemaligen Arbeitsmigranten ("Gastarbeiter") und deren Nachkommen. Andere Gruppen werden hingegen überdurchschnittlich häufig wegen Diebstählen registriert. Gründe für höhere Tatverdächtigenanteile etwa unter Zuwanderern aus Balkanstaaten bei Diebstahlsdelikten sind vor allem ein massives Wohlstandsgefälle zwischen Südost- und Westeuropa, instabile gesellschaftliche Verhältnisse und erheblich marginalisierte Bevölkerungsgruppen in den Herkunftsländern, prekäre Lebensverhältnisse und ungünstige Perspektiven mancher Zuwanderer in Westeuropa sowie zum Teil grenzüberschreitend tätige Bandenstrukturen. Bis 2015 war die Zahl der Tatverdächtigen aus Balkanstaaten (ohne EU) bei Diebstahlsdelikten deutlich angestiegen (Schaubild 4). Mit dem erheblichen Rückgang der Zuwanderung aus dieser Region ist sie aktuell allerdings wieder stark rückläufig. Etwas zurückgegangen ist zuletzt auch wieder die absolute Zahl der rumänischen Tatverdächtigen, die mit der erheblichen Neuzuwanderung aus diesem Land seit Mitte der 2000er Jahre ebenfalls angestiegen war. In all diesen Fällen ist im Übrigen zu bedenken: Es zeigen sich zwar überdurchschnittliche Diebstahls-Registrierungsraten, gleichwohl darf natürlich nicht verallgemeinert werden. Der jeweils deutlich überwiegende Teil der Betroffenen fällt nicht durch Diebstähle oder andere Straftaten auf. So betrug die Zahl der wegen Diebstahls registrierten rumänischen Tatverdächtigen 2019 rund 23.800 (wovon ein gewisser Teil nicht in Deutschland gemeldet gewesen sein dürfte) – dies bei insgesamt knapp 750.000 rumänischen Staatsangehörigen, die Ende 2019 im Ausländerzentralregister als hier wohnhaft erfasst waren.
Mit dem Zuzug von Zuwanderern aus nordafrikanischen Staaten hatte die Zahl der wegen Diebstahls Tatverdächtigen aus diesen Ländern seit 2012 in besonders starkem Maße zugenommen. Aus der Entwicklung der absoluten Tatverdächtigenzahlen ist erkennbar, dass ein (nicht präzise prozentual bezifferbarer) Teil der jungen männlichen Neuzuwanderer aus Nordafrika recht bald an Diebstählen und anderen Delikten beteiligt war, um damit Einnahmen zu erzielen. Auch für diese Gruppe, bei der manche bereits vor ihrer Einreise straffällig waren, und die sowohl in den Herkunftsländern als auch in Europa ungünstige Perspektiven hat, ist jedoch seit 2017 ein deutlich rückläufiger Trend zu beobachten. Bei dem in Schaubild 4 ebenfalls erkennbaren Anstieg der absoluten Tatverdächtigenzahl bei Flüchtlingen aus Kriegs- und Krisenländern wie Syrien, Afghanistan und Irak ist schließlich zu berücksichtigen, dass diese in Relation zu ihrer stark gestiegenen Bevölkerungszahl bislang vergleichsweise selten wegen Diebstahlsdelikten registriert worden sind.
Gewaltdelikte
Mit Blick auf Gewaltdelikte ergeben sich zum Teil etwas andere Muster. Hinweise auf eine erhöhte Gewaltbelastung finden sich in westeuropäischen Aufnahmegesellschaften insbesondere bei männlichen Jugendlichen aus Einwandererfamilien, das heißt in der zweiten Migrantengeneration. In Deutschland war dies anhand von Kriminalstatistiken und Befragungsstudien etwa bei "Gastarbeiter"-Nachkommen sowie bei im Kindes- oder Jugendalter "mitgenommenen" jungen männlichen Spätaussiedlern zu erkennen. Aber auch in der ersten Generation der Zuwanderer sind teilweise erhöhte Gewaltrisiken zu beobachten.
Bezüglich der Ursachen sind zunächst einmal bei einigen Migrantengruppen vermehrt anzutreffende belastende Lebensumstände sowie Bildungsunterschiede in den Blick zu nehmen. Darüber hinaus wird darauf verwiesen, dass die Herkunft aus stärker patriarchalisch geprägten Gesellschaften mit geringer entwickeltem staatlichem Gewaltmonopol gewaltsames Verhalten von Männern zusätzlich begünstigen kann. Die Reichweite solcher Einflüsse wird kontrovers diskutiert, wobei Einigkeit darüber besteht, dass sich Pauschalurteile und einseitige Erklärungen verbieten. Gewalt, zumal in schwereren Formen, betrifft auch unter Migranten nur eine kleine Minderheit, und sie kommt natürlich auch unter Nichtmigranten vor. Insgesamt ist interkulturell von einer weitgehenden Ähnlichkeit zentraler Verbotsnormen (Stehlen, Töten, Rauben etc.) auszugehen, die große Mehrzahl der tatsächlich verübten Delikte ist also im Herkunfts- und im Aufnahmeland gleichermaßen strafbar. Zudem ist zu bedenken, dass auch die Herkunftsgesellschaften kulturell heterogen sind. Überdies sind traditionelle Geschlechterrollenbilder nicht pauschal mit Gewaltbereitschaft gleichzusetzen. Gleichwohl ist erkennbar, dass Vorstellungen männlicher Dominanz, die in manchen Zuwanderergruppen weiter verbreitet sind als in der Gesamtbevölkerung, gewaltsames Verhalten in bestimmten Situationen zusätzlich begünstigen können. Unterschiede in der Gewalthäufigkeit zwischen Migranten und Nichtmigranten sind Studien zufolge zuweilen , aber nicht immer vollständig durch ungünstigere Lebensverhältnisse zu erklären, was Raum lässt für ergänzende "herkunftsbezogene" Erklärungen. Insbesondere soweit es um Gewaltdelikte geht, die mit der Verteidigung der eigenen oder familiären "Ehre" begründet werden, sind solche Einflüsse plausibel.
5. Jugendkriminalität
Was Delinquenzrisiken im Jugendalter betrifft, so waren in den vergangenen Jahrzehnten in vielen westeuropäischen Aufnahmegesellschaften bei jugendlichen Migranten oder Nachkommen von Migranten tendenziell erhöhte Belastungen zu erkennen. Wiederholte und schwere Straffälligkeit betreffen allerdings auch unter Jugendlichen aus Migrantenfamilien nur einen kleinen Teil. Erhöhte Täteranteile sind bei alledem nicht auf ein bestimmtes Herkunftsland oder eine einzelne religiöse Gruppe beschränkt. Als direkte Erklärungsfaktoren lassen sich – wie auch bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund – die Zugehörigkeit zu devianten Freundeskreisen sowie, teilweise dadurch bestärkt, eine geringe Normbindung ausmachen. Beides wird durch ein Aufwachsen unter den Bedingungen sozialer Randständigkeit befördert. So ist beispielsweise ein "Code of the Street" länder- und kulturenübergreifend vermehrt bei marginalisierten jungen Männern (gegebenenfalls aus benachteiligten Stadtvierteln) zu beobachten. Dieser zeichnet sich dadurch aus, dass durch ein Zurschaustellen von Gewaltbereitschaft eigene Stärke und Durchsetzungsfähigkeit demonstriert werden sollen, um so Selbstwert und Anerkennung in der Gruppe zu erlangen. Marginalisierungswahrnehmungen können aus geringeren ökonomischen Ressourcen und ungünstigeren Bildungs- und Berufsperspektiven resultieren. Solche Umstände sind, als Hintergrundfaktoren, bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund grundsätzlich ebenso von Bedeutung wie bei Jugendlichen aus Einwandererfamilien. Darüber hinaus können bei Jugendlichen ausländischer Herkunft individuelle und innerfamiliäre Schwierigkeiten der Eingewöhnung in eine neue kulturelle Umgebung sowie Ausgrenzungserfahrungen das Gefühl des Nichtdazugehörens verstärken und so dazu beitragen, abweichende Normorientierungen, Selbstbilder und Lebenswege zu fördern. Zusätzliche Risiken können sich Forschungsbefunden zufolge aus in manchen Migrantenfamilien in besonderem Maße eingeschränkten Möglichkeiten der elterlichen Aufsicht sowie aus tradierten Männlichkeitsbildern und gewaltsamen Erziehungsstilen ergeben.
In den letzten Jahren war zu erkennen, dass die Verbreitung von Kriminalität nicht nur bei Jugendlichen ohne Migrationshintergrund, sondern auch bei (in der Regel bereits im Inland geborenen oder seit Längerem hier lebenden) Jugendlichen aus Migrantenfamilien zum Teil erheblich zurückgegangen ist (s. Schaubild 5). So ist etwa nach wiederholten Befragungsstudien des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen der Anteil der 15-jährigen mit Migrationshintergrund, die angegeben haben, im Vorjahr mindestens eine Körperverletzung begangen zu haben, zwischen 2007/08 und 2015 von 16,5% auf 7,3% gesunken. In einigen regionalen Untersuchungen hatte sich für die dritte Generation der Gastarbeiternachkommen bereits Mitte der 2000er Jahre eine Annäherung der Gewaltrisiken gezeigt, etwa in Duisburg; eine wesentliche Rolle spielt dabei eine verbesserte Bildungsteilhabe. Ein deutlich rückläufiger Trend ließ sich zuletzt auch aus der bundesweiten Polizeilichen Kriminalstatistik ablesen. Jugendliche türkischer Herkunft, die vor dem Jahr 2000 (das heißt vor dem Inkrafttreten des reformierten Staatsangehörigkeitsrechts) geboren wurden, besaßen mehrheitlich noch nicht die deutsche Staatsangehörigkeit. Die anhand von Daten der Kriminalstatistik und des Ausländerzentralregisters jedenfalls näherungsweise ermittelbare Registrierungshäufigkeit von Jugendlichen mit türkischer Staatsangehörigkeit besaß deshalb bis zum Jahr 2014 noch eine vergleichsweise hohe Aussagekraft. Der Anteil der wegen eines Gewaltdeliktes registrierten männlichen türkischen Jugendlichen ist danach zwischen 2007 und 2014 von rund 6% auf etwa 2,5% zurückgegangen.
6. Flüchtlinge und Kriminalität
Insbesondere durch den außergewöhnlich hohen Zuzug von Asylsuchenden in den Jahren 2015 und 2016 hat die Zahl der in Deutschland lebenden Schutzsuchenden (einschließlich anerkannter und abgelehnter Asylbewerber) zuletzt erheblich zugenommen und ist zwischen 2012 und Ende 2018 von 550.000 auf knapp 1,8 Mio. angestiegen.
Befunde aus aktuell durchgeführten wissenschaftlichen Studien zu Kriminalitätsrisiken unter Geflüchteten stehen derzeit noch überwiegend aus. Bewertungen beziehen sich bislang in erster Linie auf Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik, die einer genaueren Einordnung bedürfen. So lässt sich der politisch aufgeladene "Flüchtlings"-Begriff nur bedingt durch kriminalstatistische Erfassungskategorien abbilden. Die Polizeibehörden greifen in diesem Zusammenhang seit 2015 auf die bereits etablierten Tatverdächtigen-Kategorien von Asylbewerbern, Kontingentflüchtlingen, Geduldeten und illegal Aufhältigen zurück, die in den Jahresberichten und in neu geschaffenen Lagebildern nun zusammenfassend als "Zuwanderer" bezeichnet werden. Seit 2016 (in der bundesweiten Statistik seit 2017) werden zusätzlich anerkannte Flüchtlinge zu den tatverdächtigen "Zuwanderern" gezählt; zuvor waren diese nicht gesondert erfasst worden und gingen in eine große Restkategorie "Ausländer mit sonstigem legalen Aufenthalt" ein. Gezählt werden nicht nur im jeweiligen Erfassungsjahr neu zugewanderte Personen, sondern auch Migranten, die sich bereits seit Längerem mit entsprechendem Aufenthaltsanlass (bspw. in einem Asylverfahren, als Geduldete oder als anerkannte Flüchtlinge) im Inland aufhalten.
Der von den Behörden gewählte, recht weite Begriff "Zuwanderer" erfasst also nicht alle zugewanderten Tatverdächtigen, etwa nicht Migranten aus EU-Staaten oder Personen aus Drittstaaten, die sich mit Aufenthaltstitel beispielsweise zur Arbeitsaufnahme in Deutschland aufhalten. Umgekehrt sind unter den tatverdächtigen "Zuwanderern" aber auch nicht ausschließlich Schutzsuchende. Noch nicht ausreichend untersucht ist in diesem Zusammenhang, in welchem Maße die Zuordnung von Tatverdächtigen zu den entsprechenden Aufenthaltsanlässen in der polizeilichen Praxis zuverlässig erfolgt, und inwiefern es möglicherweise zu Doppelerfassungen etwa aufgrund von Namensfehlerhebungen kommt. Darüber hinaus lassen sich bei "Zuwanderern" nicht ohne Weiteres präzise relative Registrierungshäufigkeiten angeben, da die hierzu erforderlichen Bevölkerungszahlen gerade in Phasen hohen Zuzugs (etwa im Laufe des Jahres 2015) stark schwanken und weiterhin vergleichsweise ungenau sind. Insbesondere die Zahl der Menschen, die sich illegal im Land aufhalten, kann naturgemäß nicht genau beziffert werden.
Nichtsdestoweniger lassen sich anhand der Zahlen der Kriminalstatistik gewisse Grundtendenzen für die offiziell erfasste Kriminalität ablesen. So ist zu erkennen, dass Delikte von neu zugezogenen Flüchtlingen eng mit deren limitierten Lebensumständen zusammenhängen. Das Deliktsspektrum ist gegenwärtig, wie auch schon im Rahmen des Flüchtlingszuzugs in den 1990er Jahren, stark durch meist leichtere Diebstähle, Fahren ohne Fahrschein, aber auch durch Körperverletzungsdelikte geprägt (s. für das Jahr 2019 Tabelle 1).
Tabelle 1: Absolute Zahl der tatverdächtigen "Zuwanderer" 2019 nach Deliktsbereich
Delikt
Zahl der tatverdächtigen "Zuwanderer"
Anteil an allen Tatverdächtigen
Alle Delikte (ohne ausländerrechtliche Verstöße)
151.009
8,0%
Körperverletzung (ges.)
45.687
10,0%
Diebstahl (ges.)
36.158
9,6%
Beförderungserschleichung
20.236
15,8%
BtM-Delikte
22.200
7,8%
Straftaten gegen die sex. Selbstbestimmung
5.425
10,4%
… davon Vergewaltigung / schwere sex. Nötigung
1.242
15,2%
Straftaten gegen das Leben
443
11,5%
… davon vollendete Fälle (Mord/Totschlag)
44 Fälle (2018)
8,3% (2018)
Quelle: Bundeskriminalamt, Polizeiliche Kriminalstatistik; eigene Darstellung.
Gewalt- und Sexualdelikte
Bei Gewaltdelikten ergibt sich aus Kriminalstatistiken einiger Bundesländer, dass es dabei in den Jahren 2015 und 2016 häufig um Auseinandersetzungen in Gemeinschaftsunterkünften ging. Das Landeskriminalamt Baden-Württemberg hat beispielsweise angegeben, dass im Jahr 2016 bei rund 60% aller Flüchtlingen zugeordneten Körperverletzungsdelikte eine Flüchtlingsunterkunft als Tatörtlichkeit erfasst worden ist. Dass ein beengtes Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Aufenthaltsperspektive, darunter überdurchschnittlich oft jungen Männern, in einer durch Ungewissheit über die Zukunft, unstrukturierte Tagesabläufe und eingeschränkte Autonomie geprägten Lebenssituation ohne ausreichende Privatsphäre zu Konflikten führt, ist leicht absehbar. Häufig entzünden sich solche Auseinandersetzungen an alltäglichen Fragen des Zusammenlebens, zum Teil spielen dabei auch ethnische und religiöse Abgrenzungen eine Rolle. Auch soweit es außerhalb von Flüchtlingsunterkünften zu Gewaltdelikten kommt, dürften Belastungen durch die Flucht und die aktuelle Lebenssituation, Frustrationserfahrungen, fehlende Beschäftigung und geringe Alltagsstruktur, frühere Gewalterfahrungen, Gruppendynamiken und eine fehlende soziale Kontrolle durch die Familie von wesentlicher Bedeutung sein. Künftige Studienergebnisse werden hierzu ein genaueres Bild ergeben können.
Besonders stark wahrgenommen werden in diesem Zusammenhang schwerste Gewaltverbrechen, die allgemein, aber natürlich auch unter Flüchtlingen sehr selten vorkommen. Die Gesamtentwicklung etwa bei Kapitaldelikten war in den letzten 20 Jahren deutlich rückläufig. So wurden insgesamt zuletzt rund ein Drittel weniger Fälle eines vollendeten Tötungsdeliktes (Mord und Totschlag) registriert als zur Jahrtausendwende (Schaubild 6). Im Berichtsjahr 2019 ist in 43 von insgesamt 494 polizeilich aufgeklärten Fällen mindestens ein "Zuwanderer" als Tatverdächtiger ermittelt worden.
Was Sexualdelikte betrifft, so sind die registrierten Fallzahlen seit dem Jahr 2017 infolge der im November 2016 in Kraft getretenen weitreichenden Gesetzesänderungen in diesem Bereich nicht ohne Weiteres mit denen der Vorjahre vergleichbar; es sind nun Verhaltensweisen (als Sexualdelikt) strafbar, bei denen dies zuvor nicht der Fall war. Auch das Anzeigeverhalten kann durch die intensiven öffentlichen Debatten verstärkt worden sein. Der Anteil tatverdächtiger "Zuwanderer" an allen Tatverdächtigen bei Delikten gegen die sexuelle Selbstbestimmung (gesamt) betrug im Jahr 2019 10,4%, bei Vergewaltigung, schwerer sexueller Nötigung und sexuellem Übergriff im besonders schweren Fall 15,2%. Die Entwicklung der Fallzahlen war in diesem Bereich in den letzten 20 Jahren insgesamt eher stabil, teilweise auch deutlich rückläufig. Dies gilt etwa für die bis 2017 gesondert als "überfallartig" klassifizierten Vergewaltigungs- bzw. schweren sexuellen Nötigungsdelikte (2000: 2.493 Fälle, 2017: 1.068 Fälle, mit einer zwischenzeitlichen Zunahme auf 1.357 Fälle 2016 infolge der Übergriffe in der Silvesternacht 2015/16). Bei diesen Delikten ist der Anteil von Ausländern/Flüchtlingen klar überdurchschnittlich. Gleichwohl fällt natürlich auch unter allen Ausländern/Flüchtlingen nur ein äußerst kleiner Teil mit schweren "überfallartigen" Sexualdelikten auf (absolute Zahl ausländischer Tatverdächtiger als "Einzeltäter" 2017: 265; aus Gruppen: 55). Bei alledem ist zu bedenken, dass die Mehrzahl der Sexualdelikte nicht überfallartig durch einen fremden Täter geschehen, sondern im sozialen Nahbereich verübt werden und – bei Einheimischen wie bei Flüchtlingen – im häuslichen/privaten Umfeld bzw. wohl auch in Gemeinschaftsunterkünften ein vergleichsweise großes Dunkelfeld besteht.
Entwicklungen von 2015 bis 2019
Insgesamt sind die absolute wie auch die relative Zahl der polizeilich registrierten Straftaten – bei Letzterer geht es um die aussagekräftigere sogenannte Kriminalitätshäufigkeitsziffer (KHZ) der Straftaten pro 100.000 Einwohner – in den letzten Jahren kaum angestiegen, in vielen Deliktsbereichen (Diebstahl, Raub) war sie sogar weiter rückläufig. Das zuweilen gezeichnete Bild einer mit dem Flüchtlingszuzug einhergehenden dramatischen Kriminalitätsentwicklung wird durch diese Zahlen nicht gestützt. Dessen ungeachtet haben die Zahl und der Anteil der Delikte, bei denen mindestens ein "Zuwanderer" als Tatverdächtiger erfasst worden ist, im Einklang mit der starken Zunahme des Zuzugs von Asylsuchenden bis zum Jahr 2016 kontinuierlich zugenommen. Ab 2017 ist die absolute Tatverdächtigenzahl bei "Zuwanderern" im Bereich von Diebstahlsdelikten wieder deutlich unter die Zahl von 2015 zurückgegangen, bei Gewaltdelikten deutet sich mit dem Berichtsjahr 2019 ein rückläufiger Trend an (s. Schaubild 7). Da Tatverdächtige mit Flüchtlingsanerkennung bis zum Jahr 2016 noch nicht gesondert erfasst wurden und diese bis dahin deshalb nicht in die Gesamtzahl der tatverdächtigen "Zuwanderer" eingingen, sind die Zahlen der Jahre 2017, 2018 und 2019 mit denen der Vorjahre allerdings nicht ganz vergleichbar. Die absoluten Tatverdächtigenzahlen sind hier zuletzt zurückgegangen, obwohl die zugrundeliegende Bevölkerungsgruppe durch weiteren Zuzug und eine Erweiterung der polizeistatistischen Definition weiter angewachsen ist.
Auffällig ist, dass anerkannte Flüchtlinge bislang sehr selten als Tatverdächtige registriert worden sind. Auch wenn hier genauere Analysen, auch zur Zuverlässigkeit der Erfassung in dieser neu eingeführten Erhebungskategorie, noch ausstehen, so steht dies durchaus im Einklang mit ausländischen Befunden, und es findet in ersten eingehenderen deutschen Analysen zur Bedeutung des Aufenthaltsstatus für Kriminalitätsrisiken Bestätigung. Eine vergleichsweise geringe(re) Belastung anerkannter Flüchtlinge erscheint theoretisch plausibel, schließlich geht es dabei doch um diejenigen, deren Lebenssituation sich tendenziell verbessert hat und deren Perspektiven vergleichsweise günstig sind.
Insgesamt werden "Zuwanderer" häufiger als Tatverdächtige registriert, als es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. 2019 stellten sie 8% der Tatverdächtigen (ohne ausländerrechtliche Verstöße). Der Bevölkerungsanteil kann allerdings nur grob (auf gut 2%) geschätzt werden, insbesondere die Gesamtzahl der sich illegal im Land aufhaltenden Ausländer kann naturgemäß nicht genau beziffert werden. Die größere Registrierungshäufigkeit ist zu einem gewissen Teil – aber nach bisherigen Eindrücken nicht nur – darauf zurückzuführen, dass die "Zuwanderer"-Population einen deutlich höheren Anteil junger Männer in einem allgemein "kriminalitätsrelevanten" Alter aufweist als die Gesamtbevölkerung. Zum Vergleich: Unter allen Asylerstantragstellern der Jahre 2015 und 2016 waren 34% Männer im Alter von 16 bis 29 Jahren, in der deutschen Bevölkerung lag deren Anteil Ende 2015 bei 7,8%. Auch eine gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöhte Sichtbarkeit von Straftaten aufgrund einer nicht verfestigten Lebenssituation und dem Aufenthalt in Gemeinschaftsunterkünften kann in bestimmten Konstellationen eine Rolle spielen. Insgesamt gibt es unter Flüchtlingen, wie auch in der Gesamtbevölkerung, einen kleinen Teil von Hochbelasteten, während die große Mehrheit nicht straffällig wird.
Unterschiede nach Herkunftsländern
Bei alledem sind zum Teil deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen Herkunftsgruppen zu erkennen. Kriegsflüchtlinge aus Syrien, dem Irak oder Afghanistan fallen relativ betrachtet bislang vergleichsweise selten durch Straftaten zur Erzielung von Einnahmen (Diebstähle, Raub oder Drogenhandel) auf. Hier haben junge Zuwanderer aus nordafrikanischen Ländern, aber zum Teil auch aus bestimmten Subsahara-Staaten, bei zuletzt allerdings teilweise wieder deutlich rückläufigen Tatverdächtigenzahlen, weiterhin die höchsten Anteile. Auch unter den Mehrfachauffälligen sind diese Gruppen tendenziell stärker vertreten. Plausible Erklärungen hierfür beziehen sich auf soziodemografische Unterschiede in der Zusammensetzung der verschiedenen Herkunftsgruppen, aber auch auf für viele junge Zuwanderer etwa aus Nordafrika gering ausgeprägte Perspektiven, einen gesicherten Aufenthaltsstatus zu erlangen, der einen Zugang etwa zu Integrationskursen und zum regulären Arbeitsmarkt ermöglicht. Manche mehrfach Straffällige waren Berichten von Praktikern zufolge bereits vor ihrer Zuwanderung an Straftaten beteiligt und sind für Polizei, Justiz und Sozialarbeiter nach aktuellen Eindrücken nur schwer erreichbar – auch, weil sie wenig zu verlieren haben. Es bleibt abzuwarten, inwieweit Maßnahmen zur Förderung der Rücknahme der Betroffenen durch die Herkunftsländer, aber auch Hilfsangebote zur Reintegration Wirkungen erzielen, und sich die zuletzt beobachtbare rückläufige Tendenz etwa bei der Zahl der nordafrikanischen Tatverdächtigen in den kommenden Jahren fortsetzt.
Bei Flüchtlingen mit Bleibeperspektive ist es wichtig, lange Phasen der Statusunsicherheit, Passivität sowie gewaltbegünstigende Formen der Unterbringung so weit es geht zu vermeiden. Möglichst schnell sollten Kontakte zur Gesellschaft und Zugänge zum Arbeitsmarkt gefördert werden. Mit Blick auf die Kinder spielen Kindertagesstätten und Schulen eine Schlüsselrolle, werden hier doch Teilhabechancen sowie eine Bindung an die Gesellschaft und deren Werte und Normen vermittelt.
Bei Zuwanderern mit unterstellter geringer Bleibeperspektive könnte es sich als problematisch erweisen, diese aus migrationspolitischen Erwägungen (Abschreckung unerwünschter Zuwanderung) von Integrationsmöglichkeiten völlig auszuschließen. Ein Teil wird in die Herkunftsländer zurückkehren, bei manchen wird sich der Aufenthalt jedoch nach früheren Erfahrungen verstetigen. Ein langer Aufenthalt in separierten Unterkünften, Kettenduldungen und ein Ausschluss etwa vom Arbeitsmarkt können dann ein langfristiges Leben am Rande der Gesellschaft befördern. So hat Studien zufolge bei manchen kurdischen und palästinensischen Zuwanderern aus libanesischen Flüchtlingslagern in einigen deutschen Großstädten neben dem spezifischen soziokulturellen "Gepäck" von bereits ausgeprägten patriarchalen, familial-kollektivistischen Orientierungen die restriktive Flüchtlingsintegrationspolitik der 1980er und 1990er Jahre – mit lange Zeit ungesichertem Aufenthaltsstatus, Ausbildungs- und Arbeitsverboten in der Erwartung der baldigen Rückkehr – zur Entwicklung und Vertiefung von Clanstrukturen und Kriminalität (Drogenhandel, Schutzgelderpressung) beigetragen.
7. Fazit
Eine einfache Formel für Zusammenhänge zwischen Migration und Kriminalität gibt es nicht. Zu vielfältig sind die damit verbundenen Lebenslagen und Kriminalitätsphänomene. Der alleinige Blick auf Ausländeranteile in den Kriminalstatistiken verwischt diese Erkenntnis eher, als dass er etwas erhellt. Insgesamt zeigen sich in Kriminalstatistiken und Befragungsstudien tendenziell erhöhte Anteilswerte unter Migranten. Bei näherem Hinsehen geht es dabei je nach Deliktsbereich um nach Aufenthaltsstatus, Einwanderungszeitpunkt, sozialer Teilhabe, Herkunft und demografischer Zusammensetzung unterschiedliche, mitunter kleine Teilgruppen. Erhöhte Risiken hängen häufig mit limitierten und belastenden Lebensumständen und -erfahrungen zusammen. Ein wesentlicher Aspekt ist dabei der Zugang zum Arbeitsmarkt. Schwere und wiederholte Straffälligkeit betrifft auch unter Migranten und deren Nachkommen nur eine kleine Minderheit.
Mit Blick auf die etablierte Migrantenbevölkerung, etwa die "Gastarbeiter" und deren Nachkommen oder die in den 1990er Jahren zugewanderten (Spät-)Aussiedler, waren zuletzt zum Teil deutlich rückläufige Tendenzen erkennbar. Mit dem in jüngerer Zeit erfolgten hohen Zuzug von Flüchtlingen, darunter vielen allein eingereisten jüngeren Männern mit teilweise ungünstigen Perspektiven und individuellen Vorbelastungen, stellen sich zum Teil neue Herausforderungen. Generell gilt es bei neu zugewanderten Flüchtlingen, gewaltbegünstigende Formen der Unterbringung, Phasen der Statusunsicherheit und Separierung von der Gesellschaft möglichst zu vermeiden bzw. kurz zu halten. Die flüchtlingsrechtlichen Veränderungen, die in den letzten Jahren einen früheren Zugang zu Integrationskursen oder zum Arbeitsmarkt ermöglicht haben, dürften auch kriminologisch vorteilhaft sein. Als risikoreich kann sich ein migrationspolitisch motivierter Ausschluss mancher Zuwanderergruppen von Integrationsmöglichkeiten und -angeboten erweisen. Bei Kindern aus Zuwandererfamilien sind Anerkennungserlebnisse und Perspektiven, die vor allem mit der Bildungsteilhabe verknüpft sind, von zentraler Bedeutung. Das große zivilgesellschaftliche Engagement leistet hier wichtige Beiträge, nichtsdestoweniger sind die Bildungseinrichtungen so weit wie möglich angemessen auszustatten.
Dr. Christian Walburg forscht am Institut für Kriminalwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster zum Thema Migration und Kriminalität.
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