Der ländliche Raum wird von jeher als (besonders) lebenswert eingeschätzt und gilt in der Vorstellung vieler Menschen als Ort der Geborgenheit und menschlichen Nähe, "Gemeinschaft, Einfachheit, Bescheidenheit und Natürlichkeit, kurz als "Quell des Wahren, Guten und Schönen"
Sicherheit im ländlichen Raum
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Für viele Menschen ist die moderne Großstadt ein Ort der Unsicherheit und Kriminalität. Der ländliche Raum gilt hingegen oftmals als Ort der Geborgenheit und menschlichen Nähe. Tatsächlich bestätigt die Statistik, dass die Kriminalitätsbelastung erheblich mit der Gemeindegröße ansteigt. Prof. Dr. Nina Oelkers stellt zudem fest, dass auch die Unsicherheitswahrnehmungen bzw. die Kriminalitätsfurcht der kleinstädtischen und ländlichen Bevölkerung wesentlich schwächer ausfallen. Ein wichtiger Grund hierfür ist, dass die länger andauernden Sozialkontakte sowohl die informelle Sozialkontrolle als auch das Sicherheitsgefühl fördern.
Sicherheitsmentalitäten im Stadt-Land-Verhältnis
Gemeinhin gilt die moderne Großstadt als Ort der Unsicherheit oder Kriminalität, während ländliche Räume und Kleinstädte häufig mit Vorstellungen wie "hier ist es sicher" sowie informeller Sozialkontrolle und sozialem Zusammenhalt in Verbindung gebracht werden. Informelle Sozialkontrolle beschreibt weitestgehend alle nicht direkt staatlich organisierten Maßnahmen und Prozesse, die auf die Herstellung und Sicherung einer sozialen Ordnung hinwirken, also beispielweise die Kontrolle durch "Privatpersonen" wie Nachbarn, Eltern, Freunde, Bekannte etc. Sozialer Zusammenhalt (auch Kohäsion genannt) ist ein Merkmal von Gruppen, die beispielsweise gemeinsame Werte und Verhaltensanforderungen teilen, sich ihrer Gemeinschaft zugehörig und auch verpflichtet fühlen.
Die Anonymität der Großstadt bzw. die universelle Fremdheit ihrer Bewohner/innen untereinander ("ich kenne niemanden hier") und die Integration in eine sozialräumlich gedachte (ländliche) Gemeinschaft ("hier kennt jeder jeden") stehen sich in der Alltagswahrnehmung der Bevölkerung, aber auch der professionellen Akteure (Polizei, Justiz, Soziale Arbeit etc.) häufig gegenüber. Das Kriminalitätsverständnis wird weitestgehend von (groß)städtischen Unsicherheitserzählungen und Problemlagen geformt. Unsicherheitserzählungen sind jene Geschichten, die über Orte erzählt werden, an denen Furcht und Unsicherheit empfunden wird, aufgrund von tatsächlichen Vorkommnissen ("da wurde schon mal jemand angegriffen") oder Befürchtungen ("da ist es dunkel und manchmal halten sich dort Betrunkene auf"). Bis auf wenige Ausnahmen (z.B. Umweltkriminalität oder das "Familiendrama" in der Vorstadt) fällt es uns schwer, das Verhältnis "Großstadt = Unsicher" zu "Land = Sicher" anders zu denken. Diese Annahmen beeinflussen auch unsere sicherheitsbezogenen Wahrnehmungen, unsere Meinungen und unser Handeln oder anders gesagt: die sogenannten Sicherheitsmentalitäten
Nähert man sich entlang kriminalstatistischer Daten der ländlichen/kleinstädtischen Kriminalitätsbelastung und setzt diese in ein Verhältnis zur großstädtischen, so zeigen sich die o.g. Vorstellungen weitestgehend bestätigt (siehe Tabelle 1). Entlang einer Zeitreihe lässt sich zwar durchweg ein Anstieg der registrierten Kriminalität seit Mitte der 1960er Jahre nach vollziehen, aber die Kriminalitätsbelastung steigt konstant mit der Gemeindegröße an. Das Verhältnis von 1:3 in der Kriminalitätsbelastung, wenn man ländliche Regionen und Metropolregionen vergleicht, bleibt bestehen.
Tab. 1.: Kriminalitätsbelastung in der BRD nach Gemeindegröße: Anzahl der bekannt gewordenen Fälle von Straftaten auf 100.000 Einwohner, ohne Straßenverkehrsdelikte (Gesamtkriminalitätsziffer, nach 1990 Ost und West, entnommen GESIS-ZUMA Abt. Soziale Indikatoren XII Öffentliche Sicherheit und Kriminalität, S. 1-2, Indikator K001)
Insgesamt | Bis 20.000 Einwohner | 20.000-100.000 Einwohner | 100.000-500.000 Einwohner | Über 500.000 Einwohner | |
1964 | 2.998 | 1.520 | 2.097 | 3.601 | 4.616 |
1970 | 3.924 | 1.883 | 2.750 | 4.191 | 6.267 |
1975 | 4.722 | 2.763 | 4.803 | 6.018 | 7.547 |
1980 | 6.198 | 3.565 | 6.469 | 7.806 | 10.078 |
1985 | 6.909 | 3.731 | 6.867 | 8.985 | 12.454 |
1990 | 7.108 | 3.688 | 7.102 | 8.445 | 13.671 |
1995 | 7.774 | 4.846 | 8.353 | 10.552 | 14.260 |
2000 | 7.625 | 4.533 | 7.555 | 9.990 | 13.829 |
2005 | 7.747 | 4.533 | 7.925 | 10.388 | 13.650 |
Hinweis: Mit "insgesamt" ist die Häufigkeitszahl "Straftaten je 100.000 Einwohner" bundesweit gemeint. In den weiteren Spalten wird dies auf die Gemeinegrößenklassen bezogen. Hier wird deutlich, dass in kleinen Gemeinden eine unterdurchschnittliche Kriminalitätsbelastung vorliegt, während Kommunen mit mehr als 100.000 Einwohner größere Häufigkeitszahlen aufweisen.
Dennoch greift eine einfache Gegenüberstellung zu kurz: Auch wenn durch den subjektiven Eindruck der Bevölkerung, sich untereinander zu kennen und den kleinstädtischen und ländlichen Raum überblicken zu können, das Land als gefahrenarm und "sicher" angesehen wird, wird dabei verkannt, dass diese (kollektiven) Sichtweisen von den Besonderheiten eines ländlichen/kleinstädtischen Kohäsionsmodus (siehe oben) geprägt sind, die im Weiteren erläutert werden.
Sicherheitswahrnehmung und das "Kriminalität in der Distanz"–Phänomen
Nicht nur die Kriminalitätsbelastung im kleinstädtischen und ländlichen Raum ist geringer, auch die Unsicherheitswahrnehmungen bzw. die Kriminalitätsfurcht in der Bevölkerung fällt wesentlich schwächer aus (siehe Tabelle 2).
Tab. 2: Kriminalitätsfurcht Standardfrage: Gibt es eigentlich hier in der UNMITTELBAREN Nähe – ich meine so im Umkreis von einem Kilometer – irgendeine Gegend, wo Sie nachts nicht alleine gehen möchten? (auf Grundlage der Daten des ALLBUS 2008, eigene Auswertung)
Einwohner | Ja, gibt es hier | Nein, gibt es hier nicht | Gesamt |
Bis 20.000 | 16,9% | 31,6% | |
Ab 500.000 | 81,1% | 68,4% | |
(n) 1.199 / 100% | |||
Kriminalitätsfurcht, also die Befürchtung einem strafrechtlich relevanten Übergriff zum Opfer zu fallen, ist vor allem als ein großstädtisches Phänomen zu betrachten. Dies zeigt sich in großen Bevölkerungsumfragen (siehe Tabelle 2) ebenso wie in Interviews und Gruppendiskussionen mit ländlich verorteten professionellen Akteuren (bspw. Polizei, Justiz oder Sozialen Arbeit) sowie mit unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen (bspw. Jugendliche, junge Erwachsene, Eltern, ältere Menschen). Kriminalität ereignet sich, nach Einschätzung der Befragten, weitestgehend "woanders". Der ländlich-kleinstädtische Raum wird unter der Prämisse beschrieben, wonach "hier die Welt noch in Ordnung sei". Dies bedeutet, im ländlichen oder kleinstädtischen Nahraum fühlt man sich relativ sicher. Dies bleibt nicht ohne Rückwirkungen auf das alltägliche Handeln: Immer wieder wird von Seiten der Polizei oder privater Sicherheitsdienstleister beschrieben, dass es aufgrund dieser zugrunde liegenden Sicherheitsvorstellungen auch zu Nachlässigkeiten der Anwohner im ländlichen Raum kommt: […] wenn ich jetzt bei uns durch das Dorf fahre, wo ich wohne, dann finde ich von den Hintertüren, nicht die Vorderen, aber von den Hintertüren, finde ich Pi mal Daumen 10 Prozent nicht verschlossen vor, da komme ich rein.[…] (SIMENTA-Gruppediskussion: Experten).
Angleichung der Lebensstile und regionale Unterschiede
Auch wenn die dokumentierte Kriminalitätsbelastung im ländlich-kleinstädtischen Raum geringer ausfällt als in Großstädten, steigt sie im Laufe der Jahre doch kontinuierlich an (siehe Tabelle 1). Dieser Anstieg fällt mit einer Angleichung ländlicher und (groß)städtischer Lebensstile zusammen: Die ländliche und kleinstädtische Bevölkerung ist mobiler und auch hier werden die Lebensstile individueller, sind also weniger traditionell vorgezeichnet. Städtische Zentren sind für weite Teile der Bevölkerung erreichbar und die sozialen Schichtungen und sozialen Milieus in städtischen und ländlichen Regionen haben sich tendenziell angeglichen. Vor diesem Hintergrund fällt es schwer, (groß)städtische und ländliche Lebensstile als entgegengesetzt zu verstehen (unsicher – sicher).
Außerdem sind auch regionale Unterschiede des ländlich-kleinstädtischen Raumes zu beachten: Berücksichtigt werden muss, ob es sich zum Beispiel um sogenannte ländliche bzw. städtische Wachstumsregionen innerhalb des Strukturwandels handelt (zum Beispiel im Sinne von Suburbanisierungsbewegungen rund um regionale Zentren und sogenannte "Speckgürtel" um prosperierende Großstädte) oder um Regionen, die vor erheblichen strukturellen Problemen stehen (bspw. hohe Arbeitslosigkeitsquoten, Abwanderung der Bevölkerung, wirtschaftliche Schwäche etc.). Ähnliches gilt für grenznahe Landkreise oder aber stark touristisch geprägte Orte, die häufig eine erhöhte Kriminalitätsbelastung aufweisen.
Wertorientierungen und die Wahrnehmung sozialer Probleme
Die Frage ist, wie sich die unterschiedlichen Sicherheitswahrnehmungen erklären lassen, wenn es doch weitgehend eine Angleichung der Lebensstile zwischen Stadt und Land gibt. Um diese Frage zu klären, sollte betrachtet werden, wer vor welchem Hintergrund über Sicherheit oder Kriminalität spricht. Bei der Betrachtung der Einstellungen der ländlich-kleinstädtischen und großstädtischen Bevölkerung lassen sich unter anderem Unterschiede auf der Ebene der politischen Präferenzen feststellen (in diesem Falle entlang des sogenannten Inglehart-Index): Zwar dominieren sowohl in ländlichen Regionen wie in Großstädten sogenannte Mischformen von materialistischen bzw. post-materialistischen Wertorientierungen, dennoch lassen sich konservative und konsensorientierte Orientierungen eher ländlichen Regionen zurechnen sowie liberale und individualistisch geprägte Orientierungen verstärkt in großstädtischen Regionen auffinden. Darüber hinaus zeichnen sich ländliche und kleinstädtische Kommunikationsformen durch einen ausgeprägten Gemeinschaftsbezug wie durch eine hohe Konsensorientierung aus. Sie prägen dabei die Einstellungen gegenüber Kriminalität und Strafe, aber auch gegenüber Recht und Ordnung im Allgemeinen. Bedeutsam erscheint darüber hinaus die Wahrnehmung von gesellschaftlichen Konflikten und Problemlagen. Folgt man den Daten von Bevölkerungsumfragen (z.B. der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage in den Sozialwissenschaften, ALLBUS) werden sie vor allem in kleinstädtischen und ländlichen Zusammenhängen tendenziell dramatischer beschrieben. Da die Welt "hier" noch in Ordnung ist, werden gleichzeitig die Probleme der weiten Welt "da draußen" zugerechnet und in dieser als verunsichernd erlebt
Unsicherheitserzählungen und ländlich-kleinstädtische Sicherheitsproblematiken
Aber welche Themen werden in den lokalen Kriminalitäts- und Unsicherheitserzählungen (im sogenannten Crime Talk)
Insgesamt wird deutlich, dass sich im Rahmen von Gruppendiskussionen die Unsicherheitserzählungen auf bestimmte Orte beziehen, die generell und ereignisunabhängig zu bestimmten Zeiten als unsicher wahrgenommen werden. Der sogenannte "Crime Talk" wird hier zum "Place Talk", in dem unsichere Orte thematisiert werden und es weniger um tatsächliche Kriminalitätsereignisse, als vielmehr um als unsicher empfundenen Plätze geht (z.B. spezifische Parks, Bars, Treffpunkte von Jugendlichen, Parkplätze), die aber häufig in keinerlei Beziehung zu einer erhöhten Kriminalitätsbelastung stehen.
Erklärungsansätze, Herausforderungen und Wirkweisen
Wie sind die unterschiedlichen Sicherheitswahrnehmungen zu erklären? Sozialer Zusammenhalt im kommunalen Nahraum durch langjährig stabile Netzwerke von Bekanntschaften sowie durch intensivere Kontakte zu Nachbarn formt im ländlich-kleinstädtischen Raum einen besonderen Umgang mit Abweichungen und Störungen, der sich von der Großstadt unterscheidet. Die soziale Kontrolle mit Nachbarn und durch Nachbarn wird sowohl von professionellen Akteuren als auch von der Bevölkerung als zentral erachtet. Scheitert diese informelle Sozialkontrolle, wird die Polizei in der Pflicht gesehen. Der intensive Kontakt zu Nachbarn und einer Vielzahl bekannter Personen ermöglicht darüber hinaus ein gemeinsames Verständnis geteilter Normen, die vor Ort gültig sind und regt dazu an, sie im Störungsfalle geltend zu machen.
Kulturelle Vorstellungen von Ländlichkeit und ländliche Sicherheitsmentalitäten
Die Situation des Zuzugs von "Fremden" könnte auch als Verstörungen der kulturellen (also traditionellen) Vorstellungen von Ländlichkeit begriffen werden
Die zuvor beschriebenen sicherheitsrelevanten Prozesse werden von Überzeugungen getragen, wonach ländliche und kleinstädtische Settings kriminalitätsarm und weitestgehend sicher sind (ländlichen bzw. kleinstädtischen Sicherheitsmentalitäten). Die Sicherheitsmentalitäten sind geprägt von einer hohen Vernetzung von professionellen Akteuren vor Ort, einer hohen regionalen Einbindung zum Beispiel in Vereine und durch eine längere Wohndauer (bzw. seltene Umzüge) der Bevölkerung. Dieses Setting fördert zusammen mit den ländlich-kleinstädtischen Sicherheitsmentalitäten das Vertrauen in Nachbarn wie in die Nachbarschaft insgesamt ("Jeder achtet auf den anderen"). Da die Einigkeit über Normen und Wertorientierung vorausgesetzt wird, gelten eigene Kontrollaktivitäten (informelle Sozialkontrolle) im öffentlichen Raum als legitim. Es wird bspw. vom Nachbarn eingegriffen, wenn jemand fremdes auf den Hof fährt oder wenn die Kinder aus der Nachbarschaft etwas "anstellen".
Die "dunkle Seite" der Gemeinschaft
Die mit der starken Gemeinschaft im kleinstädtischen und ländlichen Raum zusammenhängende geringe Kriminalitätsbelastung und Kriminalitätsfurcht hat allerdings auch Nachteile. Die beschriebene Form der nachbarschaftlichen Vergemeinschaftung und der damit einhergehenden erhöhten informellen Kontrolle wird von den an der SIMENTA Studie teilnehmenden Experten/innen wie auch Bewohner/innen als ein "zweischneidiges Schwert" beschrieben: Einerseits bietet die starke soziale Kohäsion Sicherheit, andererseits kann diese auch als Einschränkung empfunden werden. Letzteres vor allem auch durch nicht selbst zu steuernden Tratsch und stellenweise unliebsame Kontakte zu Nachbarn. Informelle soziale Kontrolle berührt demnach nicht nur "unliebsame Fremde", sondern auch jeden in seiner persönlichen Freiheit. Generell erscheint die Frage der hohen sozialen Kontrolle ländlicher und kleinstädtischer Räume widersprüchlich. Sie mag für einige schutzgewährend erscheinen, während andere Akteure sie als erheblich einschränkend erleben und sich auch gerade deshalb gegen eine Wohnortwahl im ländlichen Raum entscheiden.
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Prof. Dr. Nina Oelkers ist Inhaberin des Lehrstuhls für Soziale Arbeit am Institut für Soziale Arbeit, Bildungs- und Sportwissenschaften (ISBS) an der Universität Vechta.
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