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Ethik der inneren Sicherheit

Matthias Leese

/ 9 Minuten zu lesen

Wozu brauchen wir eine "Ethik der inneren Sicherheit"? Und was ist das überhaupt? Im Folgenden wird dargestellt, warum ein unreflektiertes Sicherheitsdenken zu negativen gesellschaftlichen Folgen führen kann, und warum es wichtig ist, Sicherheit immer wieder kritisch zu hinterfragen und mit der Vorstellung von einem guten Leben und einer lebenswerten Gesellschaft zusammenzubringen. Denn Sicherheit entsteht zumindest potenziell stets auf Kosten anderer Werte.

Ein Aufkleber mit dem Hinweis "Dieser Bereich wird videoüberwacht" klebt an einem Laternenpfahl am Chiemsee (Bayern) (© picture-alliance/dpa)

Sicherheit kann zunächst einmal vieles bedeuten: Sicherheit vor Krieg, Sicherheit vor Kriminalität oder Sicherheit vor Terrorismus. Sicherheit kann heutzutage aber auch Lebensmittelsicherheit, Versorgungssicherheit oder Sicherheit vor den Folgen von Klimawandel und Umweltverschmutzung heißen. Entscheidend ist, dass Sicherheit nicht von alleine entsteht, sondern dass Sicherheit in einer Gesellschaft aktiv hergestellt werden muss. Es müssen dafür Entscheidungen getroffen werden, welche Maßnahmen und Schutzvorkehrungen angebracht sind, um die Gesellschaft gegen unterschiedliche Bedrohungen abzusichern. Sicherheit ist also auch ein politischer Aushandlungsprozess.

Wichtiger Grund für Legitimierung des Staates

Natürlich möchte jeder in Sicherheit leben und nachts ruhig schlafen können, im Vertrauen auf den Staat und seine Institutionen, die Verbrechen verhindern oder zumindest aufklären und die Verantwortlichen vor Gericht bringen. Die Sicherung der bloßen Existenz und später die Sicherung von Eigentum und Rechtssicherheit sind in der Geschichte der Staatstheorie sogar einige der wichtigsten Gründe für die Legitimierung des Staates. Allerdings ist Sicherheit auch immer etwas, das potentiell auf Kosten von anderen gesellschaftlichen Werten entsteht. Und hier beginnen die Probleme.

Die Sicherheit des Einen ist nicht zwangsläufig auch die Sicherheit des Anderen. Was der Eine gern in Kauf nimmt, um tatsächlich oder vermeintlich sicherer zu leben, ist für den Anderen ein nicht zu akzeptierender Eingriff in seine Freiheit, Privatsphäre oder persönliche Lebensführung. Für den Einen ist es beispielsweise in Ordnung, wenn Sicherheitsbehörden personenbezogene Daten aus individuellem Surfverhalten im Internet generieren, wenn öffentliche Plätze mit Videokameras überwacht werden oder an der Grenzkontrolle biometrische Erkennungsmerkmale (z.B. Fingerabdrücke oder Iris-Scans) erfasst und mit Fahndungsdatenbanken abgeglichen werden. Für den Anderen beginnt hier der totale Überwachungsstaat, den George Orwell in seinem Roman "1984" beschrieben hat. Also ein Staat, der in alle privaten Lebensbereiche des Einzelnen vordringt und eine nahezu unbegrenzte Macht entwickelt, weil er alles über seine Bürger weiß.

Abwägung zwischen Werten

Die Frage nach der Akzeptanz von Sicherheitsmaßnahmen ist also davon geprägt, welche Werte wir für wichtig erachten, und wie diese Werte im Verhältnis zum Staat und seinen Institutionen stehen. Privatsphäre wurde beispielsweise vor mehr als hundert Jahren von den US-amerikanischen Juristen Samuel D. Warren und Louis Brandeis definiert als das "Recht, allein gelassen zu werden". Vielen Menschen ist ein solcher Privatraum besonders wichtig, denn sie wollen sich nicht für ihr Verhalten, ihre Vorlieben, und ihren Lebensstil rechtfertigen. Und das geht nur, wenn sie in ihrer Privatsphäre auch wirklich allein sind. Der Philosoph Isaiah Berlin spricht in diesem Zusammenhang davon, dass der Staat die Grundlagen dafür schaffen muss, Freiheit als ein positives Recht wahrzunehmen. Die Freiheit, etwas zu tun und sein Leben so zu gestalten wie man möchte, entsteht nur dann, wenn Bürger/-innen von einer sicheren Perspektive aus handeln können. Was sollen der Staat und seine Sicherheitsbehörden also tun und lassen?

Der entscheidende Punkt ist hier eine Abwägung zwischen der Auslegung von Werten und einer angemessenen Eingriffstiefe des Staates. Wir müssen uns also fragen, welchen Stellenwert wir Werten und Rechten wie Gerechtigkeit, Gleichbehandlung, Privatsphäre und Datenschutz, Mobilität oder auch freier Meinungsäußerung beimessen, und wie diese Werte im Kontext von Sicherheitspolitik positioniert und geschützt werden können. Es ist dabei nicht einfach, eine ausgewogene Balance zu finden. Freie Mobilität für alle kann beispielsweise auch Kriminellen zugutekommen, aber wenn an Grenzen und Sicherheitskontrollen Menschen nach potentiellen (Sicherheits-)Risiken "sortiert" werden, dann leidet darunter das Prinzip der Gleichbehandlung. Wenn beispielsweise Privatsphäre und Datenschutz strikt gewahrt bleiben, dann entgeht den Sicherheitsbehörden vielleicht die entscheidende Information über einen bevorstehenden Terroranschlag – aber wenn der Geheimdienst den gesamten Datenverkehr im Internet überwacht, dann fließen nicht nur sicherheitsrelevante Informationen in die Datenbanken und es entsteht ein "gläserner Bürger".

Für diese Konflikte existieren keine einfachen Lösungen. Es wird im Gegenteil noch komplizierter – denn die Gesellschaft ist keine homogene Einheit, sondern besteht aus Individuen und Gruppen mit verschiedenen Ansichten, Standpunkten und Interessen. Und in einer Demokratie sollten natürlich möglichst alle Meinungen in die Ausgestaltung von Sicherheit auf der politischen Ebene einfließen. Das verkompliziert die Herstellung von Sicherheit zusätzlich.

Gibt es ein Recht auf Sicherheit?

Ein weiteres Problem in diesem politischen Aushandlungsprozess ist das oft zu hörende Argument, dass Sicherheit die Grundvoraussetzung für viele andere gesellschaftliche Werte sei. In den Rechtswissenschaften wird etwa seit langem diskutiert, ob sich aus dem Grundgesetz ein "Recht auf Sicherheit" ableiten lässt, obwohl ein solches nicht explizit festgeschrieben ist. Und in der Debatte um Sicherheitsgesetzgebung hat der damalige Innenminister Hans-Peter Friedrich im Jahr 2013 Sicherheit zu einem "Supergrundrecht" erklärt. Nur wer also sicher lebe, frei von Bedrohung sei, so die Begründung in beiden Fällen, könne sich überhaupt erst Gedanken darüber machen, sein Leben so zu gestalten, wie es ihm beliebt.

Das Gegenargument hierzu lautet, dass eine solche Priorisierung von Sicherheit alle anderen Werte überschatten würde, und dass diese dann eventuell gar nicht mehr zur Geltung kämen. Eine solche Gesellschaft würde zu einer absoluten Sicherheitsgesellschaft, in der das angesammelte Wissen von den Mächtigen zur Überwachung und Unterdrückung der Bürger/-innen und zur Kontrolle der öffentlichen Meinung genutzt werden könnte. Zahlreiche Science Fiction-Erzählungen in der Geschichte der Popkultur, so etwa George Orwell’s "1984" oder Philipp K. Dick’s "Minority Report", haben derartige Szenarien und ihre Konsequenzen lebhaft ausgemalt.

Die Herstellung von Sicherheit ist also mit vielen Fragen verbunden, die unterschiedlich beantwortet und interpretiert werden können. Wir können jedoch grundsätzlich davon ausgehen, dass Sicherheitsmaßnahmen nicht nur Sicherheit herstellen, sondern dass diese Herstellung auch immer mit Kosten verbunden ist.

Die Kosten der Sicherheit

Kosten können hierbei tatsächlich monetäre Kosten sein. Wer genügend ökonomische Mittel zur Verfügung hat, kann sich zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen leisten – von besseren Türschlössern, Alarmanlagen und Videokameras bis hin zu privaten Wachdiensten. Kosten können aber auch in anderen Formen entstehen, zum Beispiel in eingeschränkter Mobilität, in Ungleichbehandlung bis hin zu Diskriminierung oder in Eingriffen in die Privatsphäre, etwa in Bezug auf digitale Daten.

Tragen können diese Kosten sowohl Einzelne, ganze Gruppen oder sogar die komplette Gesellschaft. Wenn beispielsweise ein Körperscanner in der Sicherheitskontrolle am Flughafen eine Person mit einem Urinbeutel als "gefährlich" einstuft, weil ein Objekt unter der Kleidung detektiert wurde, und diese Person dann unangenehme oder bloßstellende Nachkontrollen und Befragungen über sich ergehen lassen muss, dann betrifft dies die individuelle Ebene.

Wenn allerdings Menschen regelmäßig an der Grenzkontrolle ausgewählt, gestoppt und befragt oder durchsucht werden, weil sie gewisse Kriterien erfüllen, dann werden kollektiv ganze gesellschaftliche Gruppen diskriminiert. Gerade automatisierte Analyseverfahren von Datenbanken haben die Tendenz, Vorurteile aufgrund von bestimmten Merkmalen strukturell zu reproduzieren. Aber auch deutsche Polizeibehörden sehen sich etwa immer wieder Vorwürfen ausgesetzt, bei verdachtsunabhängigen Personenkontrollen gezielt Menschen mit dunkler(er) Hautfarbe zu kontrollieren. In einem prominenten Fall bekam etwa 2012 ein dunkelhäutiger Student vor Gericht recht, als er gegen diskriminierende Praktiken der Bundespolizei klagte. Andere Beispiele für ein solches "Profiling" sind, wenn Menschen aus Osteuropa oder vom Balkan mit organisiertem Verbrechen in Verbindung gebracht werden, junge Männer aus der arabischen Welt mit Terrorismus oder Fußballfans mit erhöhter Gewaltbereitschaft.

Nicht möglich ohne Kompromisse

Wer auch immer den Preis zahlt, oder den größeren Anteil an diesem Preis – die Herstellung von Sicherheit ist immer mit Kompromissen verbunden. Wenn Sicherheitsbehörden besser informiert und handlungsfähig sein sollen, dann zahlen die Bürger/-innen den Preis dafür. Die Kompromisse, wer in welcher Form mit Einschränkungen von gewissen Werten muss, lassen sich allerdings gestalten. Die Frage ist, ob der kurzfristige politische Aushandlungsprozess zwischen den verschiedenen Akteuren das alleinige Kriterium für diese Ausgestaltung von Kompromissen zwischen einem vermeintlichen "Mehr" an Sicherheit, der Einschränkungen von Freiheiten und Bürgerrechten, und anderen, unbeabsichtigten Nebenfolgen von Sicherheitspolitik sein sollte.

Das große Ganze im Blick

Aus der Perspektive einer "Ethik der inneren Sicherheit" (oder auch einfach: "Sicherheitsethik") muss die Antwort lauten: nicht nur – eine ethische Betrachtungsweise kann politische Aushandlungsprozesse sinnvoll ergänzen. Die entscheidende Frage lautet dann: Sollte es bei Sicherheitsmaßnahmen nur um größtmögliche Effektivität gehen, um die Gesellschaft vor Gefahren zu schützen? Sollten gewisse gesellschaftliche Gruppen weniger Kosten tragen dürfen als andere, weil sie auf der politischen Ebene besser repräsentiert sind? Oder sollte es nicht vielmehr darum gehen, dass Sicherheitsmaßnahmen möglichst sozial verträglich und gerecht gestaltet werden? Anders gesprochen: die Ethik kann der Politik helfen, einen Schritt zurückzutreten, innezuhalten, und das große Ganze zu betrachten.

Ethik kann grundsätzlich verstanden werden als das kritische Hinterfragen und Reflektieren von gesellschaftlicher Moral. Dabei beschreibt Ethik nicht nur den Ist-Zustand, sondern gibt auch normative Empfehlungen, wie ein gesellschaftlicher Soll-Zustand aussehen könnte. Ethik stellt die Frage nach dem "guten Leben" und versucht, diese so präzise wie möglich, unter der Berücksichtigung aller Rahmenbedingungen, zu beantworten und schließlich Handlungsempfehlungen zu geben. Eine Sicherheitsethik gibt also im Optimalfall Empfehlungen für eine "gute" Sicherheitspolitik ab, die die zwingend notwendigen Kompromisse möglichst gerecht gestaltet und darauf achtet, dass Kosten annähernd gleich verteilt werden.

Gefahr der Eigendynamik

Anders formuliert lautet die Frage nach dem "guten Leben": Wie wollen wir die Gesellschaft gestalten, damit sie lebenswert ist und bleibt? Eine solche Reflektion ist gerade in Bezug auf Sicherheit zentral. Sicherheit ist grundsätzlich ein anzustrebender Wert, kann aber schnell eine Eigendynamik entwickeln, die unkontrolliert um sich greift und dabei Bereiche vereinnahmt, die eigentlich nicht von Sicherheitspolitik betroffen sein sollten.

Ein Beispiel hierfür sind persönliche Daten. Fliegt man etwa von Deutschland aus in die USA, dann werden im Zuge des sogenannten "Passenger-Name-Record" (PNR)-Abkommens zwischen der EU und den USA eine Menge Informationen erfasst, die auf den ersten Blick nicht viel mit Sicherheit zu tun haben – etwa die Rechnungsadresse der Kreditkarte, mit der man den Flug bezahlt hat, die Mitgliedschaft in einem Vielfliegerprogramm oder spezielle Wünsche für das Bordessen. Diese Daten werden in die USA übermittelt, noch während das Flugzeug in der Luft ist, und werden dort mit speziellen Computeralgorithmen analysiert. So versuchen Sicherheitsbehörden herauszufinden, ob jemand an Bord ist, den man für verdächtig hält und dann gleich bei der Einreise festnehmen kann. Der Mensch wird auf diese Art zu einem Risikofaktor umdeklariert, auf dessen Grundlage man versucht, das nächste Verbrechen, den nächsten terroristischen Anschlag oder die nächste illegale Einreise zu verhindern.

Das Problem hierbei: Sicherheitspolitik und Sicherheitsmaßnahmen versuchen, Ereignisse in der Zukunft zu verhindern, aber die negativen "Nebenfolgen" dieser Bestrebungen werden schon in der Gegenwart spürbar. Und vor allem werden diese Nebenfolgen für manche deutlicher und direkter spürbar als für andere. Dabei müssen solche Ungleichgewichte nicht einmal beabsichtigt entstehen, sondern können unbeabsichtigte Folgen von Technologien sein, deren Wirkungen man zum Zeitpunkt der Einführung nicht vollständig abschätzen konnte. Sicherheitsethik muss also fragen: Wollen wir andere Werte, Rechte und Freiheiten einschränken, um eine ungewisse Zukunft möglicherweise sicherer zu gestalten? Und wenn ja, wessen Werte, Rechte und Freiheiten wollen wir einschränken?

Sicherheitsethik befasst sich also sowohl mit dem grundsätzlichen Status von Sicherheit als auch mit den Mitteln, die zur Erreichung dieses Status eingesetzt werden, und behält dabei das große Ganze im Auge. Ethik kann unter Berufung auf eine gerechte und lebenswerte Gesellschaft Empfehlungen für die Gestaltung von Sicherheitsgesetzgebung und für konkretes Sicherheitshandeln aufzeigen. Sicherheit gerecht zu gestalten heißt dementsprechend, dass die Kosten für die Herstellung angemessen verteilt werden, dass niemand ungerechtfertigt diskriminiert wird, und dass Einschränkungen von anderen Werten, Rechten und Freiheiten in einem akzeptablen und zu vertretenden Rahmen bleiben.

"Leitfaden" für Prüfung von Sicherheitsmaßnahmen

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass Sicherheitsethik in einem gewissen Sinne als "Leitfaden" für die Prüfung von Sicherheitsmaßnahmen verstanden werden kann, in dem sie Fragen aufwirft nach möglichen individuellen oder kollektiven Beeinträchtigungen von Grundrechten und Werten, und nach der Verteilung von Kosten und Einschränkungen durch Sicherheitsmaßnahmen. Dabei gilt es viele Faktoren zu beachten, und viele Klippen zu umschiffen.

Ethik muss letztlich aber auch klare Grenzen aufzeigen, die durch Sicherheitshandeln oder Sicherheitstechnologien nicht überschritten werden sollten – andernfalls liefe die Gesellschaft Gefahr, danach nicht mehr das zu sein, was es ursprünglich zu schützen galt. Dabei gilt es immer wieder, den Blick von Sicherheitspolitik von der Zukunft zurück zur Gegenwart zu lenken, und zu fragen: wollen wir wirklich heute immer mehr Einschränkungen hinnehmen, nur um möglicherweise morgen etwas zu verhindern, dass unsere Sicherheit gefährden könnte? Anders gesprochen: die Lösung eines gesellschaftlichen Sicherheitsproblems sollte nicht größere Probleme verursachen als die, die es ursprünglich zu lösen galt.

Fussnoten

Weitere Inhalte

Matthias Leese ist seit 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter am International Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) der Universität Tübingen. Seine Forschungsschwerpunkte sind kritische Sicherheitsforschung, surveillance studies und science and technology studies.