Die Kriminalitätslage – im Spiegel der Polizeilichen Kriminalstatistik
Bernhard Frevel
/ 9 Minuten zu lesen
Link kopieren
"Mord und Totschlag" dominieren die Medienberichte über Kriminalität - dabei sind Diebstahl, Betrug und Sachbeschädigung weit häufiger, zeigt die polizeiliche Kriminalstatistik. Doch längst nicht alle Straftaten werden erfasst, und viele Faktoren verzerren die Zahlen, mit denen in der politischen Diskussion immer wieder argumentiert wird.
Jährlich wird vom Bundeskriminalamt die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) erstellt und vom Bundesinnenminister öffentlich präsentiert. Die PKS erfasst alle der Polizei angezeigten sowie die von ihr selbst ermittelten Straftaten. Sie enthält unter anderem Angaben über
Art und Zahl der erfassten Straftaten,
Tatort und Tatzeit,
Opfer und Schäden,
Aufklärungsergebnisse,
Alter, Geschlecht, Nationalität und andere Merkmale der Tatverdächtigen,
statistisch erfasst und in verschiedenen Tabellen und Grafiken aufbereitet. Die Jahresberichte werden vom BKA im Internet der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt unter Externer Link: www.bka.de.
Straftaten gesamt
2010 wurden erstmals seit der Wiedervereinigung und der Einführung der gesamtdeutschen PKS (1993) weniger als 6 Millionen Straftaten in der PKS gezählt. Der Rückgang der Kriminalität lässt sich – mit einem Zwischenhoch 2001 bis 2004 - über fast alle Berichtsjahre ablesen:
Die Häufigkeitszahl beschreibt die erfassten Straftaten je 100.000 Einwohner. Werden die Delikte nach Straftatengruppen geordnet und nach ihrer Häufigkeit sortiert, wird deutlich, dass die in der Öffentlichkeit besonders häufig und heftig diskutierten Fälle von gefährlicher Körperverletzung, Mord und Totschlag im Vergleich relativ selten vorkommen, während der Diebstahl mit ca. 40 Prozent den Schwerpunkt darstellt. Werden noch der Betrug und die Sachbeschädigung hinzugenommen, so decken diese zwei Drittel der erfassten Kriminalität ab.
In der Gesamtheit betrachtet wurden 2010 nach Ansicht der Polizei 56 Prozent der erfassten Straftaten aufgeklärt. Dies ist die höchste Aufklärungsquote seit der PKS-Berichtslegung. Die nachfolgende Tabelle verdeutlicht aber, dass die Aufklärung zwischen den verschiedenen Delikten sehr deutlich differiert. Werden nahezu alle Mord- und Totschlagsdelikte geklärt, bleiben bei dem Wohnungseinbruchdiebstahl fast sechs von sieben Taten und drei Viertel der Sachbeschädigungen unaufgeklärt.
Besonders hohe Aufklärungsquoten zeigt die PKS bei den so genannten Kontrolldelikten, wie zum Beispiel Rauschgiftdelikten, bei denen verdächtige Personen kontrolliert werden und im Falle des Fundes von Betäubungsmitteln sofort eine Tat und ein Täter festgestellt werden. Hohe Quoten gibt es auch dort, wo ein Opfer schon ganz konkret einen Täter bezichtigt und dies auch nachweisbar ist. Dies ist besonders häufig bei der Beleidigung oder auch den Straftaten gegen die persönliche Freiheit der Fall. Hohe Aufklärungserfolge bei Betrug und Urkundenfälschung lassen darauf schließen, dass mit dem Entdecken der Straftat auch häufig gut der Täter ermittelt werden kann – aber viele dieser Straftaten bleiben von Polizei und Opfern unentdeckt.
Tatverdächtige
Die PKS benutzt ausschließlich den Begriff des Tatverdächtigen. Dies bedeutet, dass die Polizei zwar meint, den "Täter" gefasst zu haben – aber allein die Gerichte können über die Schuld und damit die Täterschaft entscheiden. Bis zum Urteil gilt eine Person als unschuldig und kann deshalb nur als Tatverdächtiger angesehen werden.
Die PKS erfasst die ermittelten Tatverdächtigen nach Alter und Geschlecht sowie der Nationalität. Nach der absoluten Zahl betrachtet, werden die meisten Delikte von deutschen Erwachsenen begangen – aber diese stellen ja auch den größten Teil der Bevölkerung. Sinnvoll ist es deshalb, nach den Belastungen der verschiedenen Alters- und Geschlechtsgruppen bei der Kriminalität zu unterscheiden. Grundsätzlich lässt sich festhalten, dass Kriminalität bei allen Alters- und Geschlechtsgruppen, bei allen Nationen und – leider nicht in der PKS erfasst, aber durch die Kriminologie belegt – bei allen Religionen, Schichten und Klassen vorkommt. Keine soziale Gruppe ist kriminalitätsfrei. Aber manche Gruppen haben höhere Belastungen. Männer sind häufiger polizeilich auffällig aus Frauen. Jugendliche und junge Erwachsene werden häufiger straffällig als die älteren Generationen.
Wird zudem noch die Deliktart mit in den Blick genommen, zeigt sich, dass (junge) Frauen bei dem einfachen Diebstahl (in der Regel Ladendiebstahl) und bei Betrug, Veruntreuung sowie bei Beleidigungen zwar etwas höhere Anteile bei den Tatverdächtigen haben und hier mehr als ein Viertel, aber immer noch weniger als ein Drittel der Verdächtigen stellen.
Bei dem Rückgang der registrierten Kriminalität ist auch mit einem Rückgang der Tatverdächtigenbelastung zu rechnen. Nahm seit 1993 vor allem bei deutschen Jugendlichen (14-17) Jahre), Heranwachsenden (18-20 Jahre) und Jungerwachsenen (21-25 Jahre) die Tatverdächtigenbelastung zu, so ist seit 2004 eine Stagnation beziehungsweise ein Rückgang zu beobachten. Da die Tatverdächtigenbelastungszahl die Tatverdächtigen je 100.000 Einwohner der jeweiligen Altersgruppe beschreibt, ist festzustellen, dass auch im Jahr der höchsten Belastung (2004) 92 Prozent der am stärksten betroffenen Altersgruppe polizeilich nicht auffällig wurden. Die medial vermittelte Bedrohung, dass junge Menschen immer mehr kriminell und immer gefährlicher seien, ist durch die PKS nicht zu belegen.
Nicht-deutsche Tatverdächtige
Bei den nicht-deutschen Tatverdächtigen ist die Messung der Kriminalitätsbelastung deutlich schwieriger, weil sich hinter diesem Begriff sehr unterschiedliche Aufenthaltsstatusgruppen verbergen. Zudem ist die Kriminalität der Nicht-Deutschen auch nicht einfach mit der von Deutschen vergleichbar.
Cirka jeder fünfte Tatverdächtige hat keine deutsche Staatsbürgerschaft. Somit wäre - frei nach dem sprichwörtlichen "Milchmädchen" - eine überdurchschnittliche Kriminalitätsbelastung der "Ausländer" zu vermuten. Für einen Vergleich mit den Deutschen müssten aber alle Straftaten unberücksichtigt bleiben, die in der Regel nur von Nicht-Deutschen begangen werden können: Dies sind Straftaten gegen das Aufenthalts-, das Asylverfahrens- und das Freizügigkeitsgesetz. Vielfach sind mit diesen Delikten auch Urkundenfälschungen (Pass-/Visa-Fälschungen) verbunden. Auch verbietet sich der Vergleich mit der Bevölkerungsstatistik, da unter den "Nicht-Deutschen" auch viele Personen erfasst werden, die von dieser Statistik nicht gezählt werden.
Nach Aufenthaltsstatusgruppen zeigt sich bei den nichtdeutschen Tatverdächtigen folgendes Bild:
Über die Jahre verteilt wird auch bei den Nicht-Deutschen – mit Ausnahme der Gruppe der "Sonstigen" – bei den Arbeitnehmern, den Asylbewerbern, den Studenten und Schülern sowie bei den sogenannten "Illegalen" ein deutlicher Rückgang der Kriminalität gezählt.
Delikte mit einem hohen Anteil nichtdeutscher Tatverdächtiger sind neben den ausländer- und aufenthaltsrechtlichen Bereichen vor allem Drogendelikte, Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung (bei kleiner Deliktzahl!), illegale Beschäftigung, Taschendiebstahl und Glücksspiel. Ein besonders niedriger Anteil von Nichtdeutschen wird von der PKS bei Wirtschaftskriminalität (zum Beispiel Abrechnungsbetrug, Beteiligungs- und Kapitalanlagebetrug, Insolvenzstraftaten, Untreue) und Sachbeschädigung oder fahrlässiger Körperverletzung verzeichnet. Etwas erhöhte Belastungen zeigt die sehr heterogene Gruppe der Nichtdeutschen bei Gewaltdelikten.
Wie schon bei den Tatverdächtigen liegt auch bei den Opfern der Schwerpunkt bei den deutschen Erwachsenen. Aber auch bei den Opfern sind deutliche Unterschiede bei den Belastungen nach Alters- und Geschlechtsgruppen festzustellen. Weitgehend gilt für die sogenannten "personal crimes" wie Mord/Totschlag, Raub oder Körperverletzung, dass junge Männer wiederum die höchste Beteiligung aufweisen. Allein bei Sexualstraftaten und Straftaten gegen die persönliche Freiheit sind Frauen und Mädchen stärker betroffen als Männer.
Während Jungen und Männer bei den genannten Delikten in der überwiegenden Zahl der Fälle in keiner Vorbeziehung zum Täter standen, ist bei Mädchen und Frauen auffällig, dass sie bei Körperverletzung, Freiheitsberaubung und Mord/Totschlag häufig Opfer von Verwandten und Bekannten werden.
Wenn Straftaten von allen möglichen sozialen Gruppen verübt werden, ist auch davon auszugehen, dass Kriminalität überall stattfindet. Aber wie es bei den Tätern und Opfern spezifische "Schieflagen" gibt, so ist auch die räumliche Verteilung der Kriminalität ungleich.
Als sehr grobe Tendenz lässt sich feststellen, dass im Norden, vor allem dem Nordosten Deutschlands mehr Straftaten registriert werden als im Süden und dass in größeren Städten die Kriminalität stärker ist als in kleinen Gemeinden. Vor allem die sozioökonomischen Lagen (Einkommen, Vermögen, Arbeitslosigkeit) und die Dichte und Verbindlichkeit von sozialen Beziehungen (Anonymität vs. informelle Sozialkontrolle) sind als wirksame Faktoren auf die Kriminalitätsbelastung zu sehen:
Ausgewählte Kriminalitätsbereiche
Gewaltkriminalität
Unter Gewaltkriminalität werden in der PKS Mord, Totschlag, Vergewaltigung, Raubdelikte, gefährliche und schwere Körperverletzung, Körperverletzung mit Todesfolge, erpresserischer Menschenraub und die Geiselnahme verstanden. Der Anteil dieser Gewaltkriminalität an der Gesamtkriminalität beträgt – wahrscheinlich gegen die Vermutung eines großen Teils der Bevölkerung – "nur" 3,4 Prozent. War diese bis 2007 stetig steigend, ist seitdem ein leichter Rückgang festzustellen. Gerade bei der Gewaltkriminalität zeigt sich die besondere altersspezifische Belastung bei jungen Tätern.
Die Straßenkriminalität erfasst solche Delikte, die bei den Bürgerinnen und Bürgern besonders angstbesetzt sind und auch direkte Wirkung auf die Lebensgestaltung im öffentlichen Raum haben, wenn bestimmte Orte (schlecht beleuchtete Straßen, unbelebte Plätze etc.) oder Situationen (Ansammlungen von Jugendlichen, ÖPNV bei Nacht) vermieden werden. Hierzu zählen zum Beispiel Handtaschenraub, Sachbeschädigungen, Körperverletzungen und Schädigungen an Autos. Doch auch hier ist entgegen der öffentlichen Wahrnehmung der Trend seit Jahren rückläufig. Für die Bewertung der Delikte durch die Bürgerinnen und Bürger dürfte mit ausschlaggebend sein, dass viele Straftaten in diesem Bereich nicht aufgeklärt werden und wegen der vermeintlichen Willkür der Tatbegehung die Möglichkeit der persönlichen Betroffenheit gegeben ist.
Die zunehmende Nutzung von Computern in Beruf und Freizeit, die stetig wachsende Bedeutung des Internets für die Kommunikation und die Abwicklung von Konsum (Online-Shopping etc.), die Steuerung von Infrastruktur und vieles andere mehr eröffnen neue Wege für die Kriminalität. Das "Ausspähen und Abfangen von Daten" sowie die "Fälschung beweiserheblicher Daten, Täuschung im Rechtsverkehr bei Datenverarbeitung" sind schon allein für den Betroffenen schädlich, können aber gegebenenfalls bis hin zum so genannten Identitätsdiebstahl gehen, so dass Täter Mietverträge abschließen, Bestellungen versenden und vom fremden Konto aus online oder mit den Kreditkartendaten bezahlen.
Seit 1993 hat sich die Computerkriminalität laut PKS mehr als versiebenfacht. Das vom BKA neben der PKS veröffentlichte "Bundeslagebild Cyberkriminalität" verweist auf weitere Delikte im Bereich der Computerkriminalität wie zum Beispiel digitale Erpressung, Phishing ("abfischen" von persönlichen Kennwörtern wie PIN und TAN für das Online-Banking), Carding (Diebstahl von EC- und Kreditkartendaten). Die registrierten Schäden haben sich zwischen 2007 und 2010 auf 61 Millionen Euro verdoppelt. Auffällig ist, dass die Vorsorge- und Schutzmaßnahmen der Gefährdeten vielfach unzureichend sind und das Problembewusstsein noch gering ausgeprägt ist.
Die PKS kann nur die Kriminalität erfassen, die der Polizei angezeigt wird beziehungsweise von ihr selbst ermittelt wird. Dieses so genannte Hellfeld der Kriminalität ist jedoch nicht mit der Gesamtheit identisch. Viele Straftaten passieren, ohne dass jemand es merkt beziehungsweise ohne dass der Schaden als kriminell eingeordnet wird. Dies kann zum Beispiel der Versicherungsbetrug sein, bei dem ein Versicherter einen Schaden meldet, ohne dass dieser vorlag, und dafür eine Zahlung vom Versicherer bekommt. Oder ein Mord wird nicht als solcher entdeckt, sondern vom Arzt als Unfall oder natürlicher Tod eingeordnet.
Weiterhin geschieht eine Straftat, aber es wird auf eine Anzeige verzichtet, weil man zum Beispiel bei der Disko-Prügelei nicht nur Opfer einer Körperverletzung wurde, sondern selbst mit austeilte. Auch bei Einbrüchen oder Fahrraddiebstahl wird häufig auf Anzeigen verzichtet, da man gegebenenfalls davon ausgeht, dass der Täter eh nicht gefasst wird und auch wegen fehlender Versicherung der entstandene Schaden nicht beglichen wird. Auch bei vielen Sexualstraftaten wird auf die Anzeige verzichtet, denn sie geschehen am häufigsten im Familienkreis - das heißt, Täter könnten der eigene Vater oder Onkel sein. Und bei Korruption und Bestechlichkeit haben weder Täter noch Opfer ein besonderes Interesse am Bekanntwerden der Taten.
Diese und viele weitere Gründe führen dazu, dass die PKS nur ein sehr begrenztes Bild der Kriminalität zeichnen kann, während das verbleibende Dunkelfeld groß ist.
Mithilfe von Bevölkerungsbefragungen können Sozialwissenschaftler und Kriminologen das Dunkelfeld etwas erhellen. So werden Menschen befragt, ob sie bereits Opfer oder Täter waren, ob sie die Tat anzeigten beziehungsweise ob sie als Täter angezeigt wurden. Doch auch dieses relative Dunkelfeld erfasst noch nicht alle Straftaten, da viele Delikte weder von einem Opfer festgestellt werden, noch die Täter in einem Fragebogen gestehen (zum Beispiel einen nicht entdeckten Mord).
So kann die PKS nur einen bedingten Einblick in die Kriminalitätslage geben. Über die Verzerrungen sollten sich alle Leserinnen und Leser der PKS und vor allem die sich mit ihren Forderungen darauf stützenden Politiker oder Sicherheitsfunktionäre im Klaren sein.
Dr. Bernhard Frevel ist Diplom-Pädagoge und als Professor für Sozialwissenschaften an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung NRW in Münster in der Polizeiausbildung tätig. Seit 2009 ist er Privatdozent für Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.
Helfen Sie mit, unser Angebot zu verbessern!
Ihre Meinung zählt: Wie nutzen und beurteilen Sie die Angebote der bpb? Das Marktforschungsinstitut Info GmbH führt im Auftrag der bpb eine Umfrage zur Qualität unserer Produkte durch – natürlich vollkommen anonym (Befragungsdauer ca. 20-25 Minuten).