Der Anspruch auf Inklusion als Menschenrecht in der Bildung
Weltweit ist die Bildung gegenwärtig in einem großen Wandel. Die Verwirklichung guter Lernbedingungen mit möglichst vielen hohen Schulabschlüssen und individuellen Förderungen wird in Anschluss an Initiativen der UN und UNESCO insbesondere von demokratischen Ländern als ganzheitliches und inklusives Leitbild verfolgt. Auch Bildungsbenachteiligungen sollen aus dieser Sicht ausgeglichen werden. Inklusive Bildung bedeutet, dass allen Menschen eine qualitativ hochwertige Bildung offensteht. Die Normen sind sehr klar formuliert: Weder Geschlecht, soziale oder ökonomische Voraussetzungen noch besondere Lernbedürfnisse (special needs) aufgrund von Behinderungen dürfen dazu führen, dass ein Mensch seine Potenziale nicht in gleicher Weise wie andere Menschen entwickeln kann. Das ist im Bildungsziel (Sustainable Development Goal 4) der Globalen Nachhaltigkeitsagenda der UN seit 2015 festgeschrieben. Die UN-Behindertenrechtskonvention, die seit 2009 auch in der Bundesrepublik Deutschland gilt, verbrieft das Recht aller auf eine Bildung, die allen Menschen gleiche und faire Chancen eröffnet. Dagegen schafft Exklusion, etwa in einer Sonderbeschulung, Vorbedingungen für eine Verletzung nicht nur der Menschenrechte, sondern auch der demokratischen und friedlichen Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens, wie es in der Konvention heißt.
Aus Sicht der deutschen Schulpolitik bedeutet das bisher nur bedingt, dass alle Sonderschulen aufgelöst werden müssen. Die Beibehaltung der sogenannten Förderschulen als Sonderbeschulung zeigt sogar die Auffassung, dass sie bildungspolitisch unter den bestehenden Umständen beitragen sollen. Strittig ist jedoch, ob die das im Sinne der Konvention können. Dieser Streit wird in den Berichten der UNESCO zum Stand der Inklusion in Deutschland wie auch der in Deutschland zuständigen Clearingstelle zur Umsetzung der UN-Konvention deutlich.
Ein breiter Inklusionsbegriff
Der Forderung der UN und ihrer Konkretisierung in der UNESCO (2014) liegt ein breiter Inklusionsbegriff zugrunde, der behinderte wie benachteiligte Menschen einschließt. Die UN-Konvention zielt damit auch auf die soziale Herkunft, Armut und das Geschlecht ab, sie will zudem Homophobie, Rassismus und Sexismus und alle anderen Formen von Diskriminierungen vermeiden helfen. Dieser breite Inklusionsbegriff erweitert die Kriterien gelingender Erziehung und Bildung für alle Heranwachsenden deutlich. Die gesamte pädagogische Ausbildung von der Frühpädagogik bis zum Lernen Erwachsener benötigt eine pädagogische Mentalität des Helfens und Unterstützens auf allen Ebenen und bei allen Maßnahmen. Eine solche Mentalität entsteht nicht allein durch kognitive Ausbildung in Schulfächern und Fachstudiengängen, sondern ist Teil einer Haltung und bedarf persönlicher Qualifikationen in multiprofessioneller Ausrichtung, die zum Ausgangspunkt der Berufswahl, der Qualifizierung wie der Einstellungsvoraussetzungen für Lehrkräfte und weiteres pädagogisches Personal werden sollte (vgl. Reich 2014, Kap. 4). Im Einzelnen bedeutet dies: Inklusion basiert auf Menschenrechten. Sie erfordert umfassende und vernetzte Ressourcen und einen stärkeren Einsatz von Personal- und Sachmitteln als bisherige Bildungssysteme. Bildungskosten sind jedoch in Deutschland stets strittig und liegen im unteren Drittel vergleichbarer Länder.
Inklusion und Exklusion als gesellschaftliche Praktiken
Inklusion und Exklusion gehören zu den klassischen Dualismen der Kennzeichnung von sozialer Zugehörigkeit in der Moderne. Der Einschluss in eine soziale Gruppe mit besonderen Merkmalen, sei es in der Bildung, in Berufen, im sozialen Status, bedingt gleichzeitig Zugangskriterien und Ausschlüsse von Menschen, die nach den Voraussetzungen der jeweiligen sozialen Gruppe als nicht zugehörig, gleichwertig oder zugelassen erachtet werden. Traditionelle Ein- oder Ausschlusskriterien sind in der Bildung insbesondere die soziale Herkunft, der Migrationsstatus, die Sprachkompetenz, der Bildungsstand und die Bildungsabschlüsse der Eltern, Formen von Behinderung. Gesellschaftliche Exklusionspraktiken erzeugen in der Regel möglichst homogene Gruppen, um die Heranwachsenden etwa durch Selektion und unterschiedliche Schulformen voneinander abzugrenzen. Dagegen sehen Inklusionspraktiken die Heterogenität von Gruppen und die Diversität einer Gesellschaft als Regelfall beziehungsweise Wunschbild – auch in der Schule. Sehr viele Länder mit einer Schule für alle bis etwa zur achten oder zehnten Klasse zeigen, dass dies in den Ländern zwar höhere Bildungsausgaben notwendig macht, aber auch für sehr viele Lernende längere Schulzeiten ermöglicht.
Je weniger Inklusion, desto unfairer ist die Bildung
Das deutsche Bildungssystem trägt im Vergleich zu anderen Ländern, die die UN-Konvention besser umsetzen, unfaire Züge, wie viele Forschende folgern (vgl. Autor:innengruppe 2022, Reich 2023, 257). Ihre These lautet, dass die Bildung sozialer Gruppen nach Herkunft, kulturellem Hintergrund, sozio-ökonomischer Benachteiligung oder Behinderung zu einer meist zu frühen Selektion und Sonderbeschulung führt, die dann auch die Menschen- und Inklusionsrechte verletzt. Die Gegenthese wird aber auch vertreten, indem behauptet wird, dass die selektiven Praktiken die ausgegliederten Lernenden eher vor Überforderung schützen würden. Mit den fehlenden qualifizierten Schulabschlüssen nimmt man dann allerdings in Kauf, dass sich eine Bildungsbenachteiligung festschreibt, die pädagogisch später nicht mehr aufgefangen werden kann.
Deutschland verstößt gegen die völkerrechtlichen Vereinbarungen der Inklusion aus internationaler Sicht durch die bestehenden und starr voneinander abgegrenzten Schulformen. Innerhalb dieses Systems der abgegrenzten Schulformen wäre es aber auch schwer, inklusive Ansprüche bei erwarteten hohen Leistungsunterschieden umzusetzen. Das skandinavische Vorbild mit einer gemeinsamen Schule bis zu zehnten Klasse hat sich bisher in Deutschland nicht durchsetzen können. Die Inklusion, wie sie der UN vorschwebt, macht umfassende personelle und unterstützende Ressourcen notwendig (Reich 2012). Eine umfassende Qualifizierungsoffensive insbesondere gegenüber Menschen aus bildungsprekären Milieus erscheint aus Gründen des Fachkräftemangels zwar als notwendig, aber bisher haben die bestehenden Maßnahmen noch zu wenig gegriffen. Im Schuljahr 2019 erreichten fast sechs Prozent deutscher Lernender und fast 18 Prozent mit Migrationshintergrund keinen Abschluss (siehe Statistisches Bundesamt). 2021 beendeten 47.500 junge Menschen, d.h. bereits 6,2 Prozent der Altersgruppe, ihre Schulzeit, ohne zumindest einen Hauptschulabschluss erworben zu haben.
Die soziale Reproduktion in der Bildung
Traditionell entstehen in Deutschland günstige Lernbedingungen bevorzugt in bildungsnahen Familien, die für sich Klarheit über ihre pädagogischen Ziele haben und eine intensive Förderung ihrer Kinder betreiben. Die Möglichkeiten sind sehr deutlich an ein höheres Einkommen und die Bildungsabschlüsse der Eltern gebunden (Autor:innengruppe 2022, Reich 2023). Hier wäre es die Aufgabe einer öffentlichen Schule, pädagogische Ziele und Strukturen zu entwickeln, dabei auch Leitbilder zur Orientierung vorzuhalten, um ausgleichend zu wirken, um allen Heranwachsenden faire Chancen zu geben. Die UN-Behindertenrechtskonvention könnte dafür in Deutschland ein zukunftweisendes Leitbild darstellen. Wünschenswert wäre es, wenn mehr Lernende mit Förderbedarf die Regelschulen anstelle einer Sonderschule besuchen. Allerdings ist die Zahl der Kinder und Jugendlichen an Sonderschulen seit der Ratifizierung der UN-Konvention gestiegen, da die Zahl der Lernenden mit Förderbedarf zugenommen hat. Bilanziert man beide Entwicklungen, dann hat sich die Inklusion nicht im Sinne des Gesetzes verbessert (siehe etwa Klemm 2009, 2015). Im Vergleich zu anderen Ländern befindet sich Deutschland auf einem Sonderweg, der nicht nur die Gruppe der behinderten, sondern auch die größere Gruppe der sozial Benachteiligten zu wenig beachtet und fördert. Sonderschulen haben sich als Sackgasse erwiesen (etwa Kocaj et al. 2014). Was über die Sonderschule hinaus die Bildungsbenachteiligung betrifft, so ist deutlich, dass in kaum einem Land der Welt der Schulerfolg so stark von der Herkunft abhängt wie in Deutschland.
Was macht gute Inklusion aus?
Diversität wird in der inklusiven Bildung aus Sicht der UNESCO und der internationalen Forschung als hilfreich für alle Lernenden gesehen (siehe genauer Hattie 2009, 2012, Reich 2012). Heterogene Gruppen helfen, Stärken zu teilen, Schwächen auszugleichen, Erfolg zu haben und bessere Abschlüsse in großer Breite zu erreichen. In besonderem Maße helfen heterogene Gruppen auch, Rücksicht aufeinander zu nehmen und anderen beim Lernen zu helfen. Hier werden vor allem soziale Kompetenzen ausgebildet, die in vielen Berufen gefordert werden, die in Teamarbeit und für die sozialen Einstellungen notwendig sind (siehe Reich 2014 zur Forschungslage). Diversität ist ein Grundsatz einer demokratischen Kultur in Vielfalt, Toleranz, gegenseitigem Respekt und bei der Beseitigung von Diskriminierungen und Benachteiligungen. In der Inklusion zählt die Singularität des einzelnen Menschen. Jede/r ist anders. Lernchancen müssen mit unterschiedlichen Eigenzeiten, mit verschiedenen Perspektiven, Zugängen und Ergebnissen verbunden sein. Die UN-Agenda ist eindeutig, Lernen kann nicht allein im Gleichschritt gelingen, sondern benötigt individuelle und soziale Gestaltungsräume, die den Aufbau individueller Kompetenzen und persönlicher Exzellenz fördern. In diesem Sinne kann die Qualität des Lernens durch stärkere Inklusion auf allen Ebenen erhöht werden, wenn vom Kindergarten über die Schule bis zur außerschulischen Bildung die Lernchancen für alle erhöht werden.
Die umfassende Beachtung der Heterogenität von Lerngruppen sichert in Schulen, wenn sie methodisch beachtet wird, eine bessere Qualität, wie Hattie in seiner großen Meta-Analyse vergleichend hervorgehoben hat. Im gemeinsamen Lernen steigen die Lernchancen für alle Leistungsgruppen, weil das Lernen differenzierter aufbereitet, methodisch abwechslungsreicher und anspruchsvoller gestaltet, an Vielfalt und nicht an stereotypen Erwartungen ausgerichtet wird. Erfolgreiche Lernumgebungen zeigen tatsächliche Entwicklungsfortschritte der Lernenden in Evaluationen (Forschungsergebnisse in Reich 2014). Lehrende sind hierbei ein äußerst wichtiger Teil der Lernumgebung für die Lernenden. Sie und das weitere pädagogische Personal sollen ein professionelles inklusives Modell verwirklichen, wie bisherige Wirksamkeitsstudien nachweisen (Hattie 2012). Sie sollen eine anregende, sichere und lernförderliche Lernumgebung gestalten, positive Erlebnisse und Erfolge ermöglichen. Sie müssen für ihren Beruf gezielt ausgewählt und umfassend inklusiv ausgebildet werden. Dies bedeutet insbesondere eine sehr praxisbezogene Ausbildung. Inklusives Lernen benötigt aus Sicht der wissenschaftlichen Literatur über Inklusion idealtypisch auch heterogene Lehrteams nach Alter, Geschlecht und Migrationshintergrund, um die Vielfalt und Qualität der Aufgaben vom unterschiedlichen Erfahrungshintergrund der Lehrkräfte zu bewältigen (alle Literaturangaben hierzu in Reich 2014). In einem guten inklusiven Bildungssystem, wie es etwa die Skandinavier oder Kanada vorhalten, gibt es keine doppelten Standards. Basisqualifikationen für alle in einem gemeinsamen Curriculum sind notwendig, bevor Differenzierungen einsetzen. Es gibt für alle Lernenden ein gemeinsames Qualifikationsziel, das alle erreichen sollen, es gibt darauf aufbauend hinreichende Differenzierungen für individuelle Lernwege und Lernerfolge, die weitere Qualifikationen umfassen. Dies stärkt nicht nur den sozialen Zusammenhalt und das demokratische Selbstverständnis von Lerngruppen in der Schule, sondern auf Dauer insgesamt in der Gesellschaft.
Es bedarf hinreichender Ressourcen, um gute Lernumgebungen zu gestalten. Gutes Lernen scheitert als Billigmodell und gelingt insbesondere nicht bei fehlender Mentalität (kein Wunsch nach einer „Schule für alle“), zu geringer Personalausstattung und ungünstigen pädagogischen Haltungen der Lehrenden und des weiteren Personals. Vernetzte Ressourcen und Hilfen sind dabei notwendig. Verschiedene Personen, Institutionen und Organisationen bedürfen einer koordinierten und kooperativen Anstrengung, um die inklusive Bildung auch über die Schule hinaus in der Kommune und im Land hinreichend zu regeln und zu unterstützen (weiterführend Reich 2014).
Reform der Bildung
Inklusion wird in fast allen Ländern, die in der Bildung erfolgreich vorgehen, im Ganztag durchgeführt (Reich 2014, 184 ff,). Es gibt Schulen im gemeinsamen Lernen, in denen behinderte Kinder selbstverständlich Teil der Gesamtgruppe sind, und es gibt auch mehr und öfter höhere Schulabschlüsse für benachteiligte und behinderte Menschen. Auch hier erscheinen Skandinavien und Kanada als besondere Vorbilder. Dabei werden Ganztagskräfte beschäftigt, die meistens in der sozialen Arbeit ausgebildet sind, aber auch Lehrkräfte werden ganztägig eingesetzt. Der Ganztag hat sich an vielen Schulen bewährt, weil er bei der Erziehung, in Selbstlernphasen und unterstützend bei Einzelbetreuungen helfen kann. Als Teil eines multiprofessionellen Teams sind ebenso Inklusionskräfte unverzichtbar, um der Vielfalt schulischer Aufgaben zu entsprechen (zur Praxis an deutschen Schulen siehe Reich 2017). Ein inklusiv organisiertes Schulsystem standardisiert inklusive Ausbildungen für alle Lehrkräfte und das weitere pädagogische Personal, entwickelt Stellenpläne für all diese Kräfte einschließlich Schulpsychologie, um für alle Lerngruppen multiprofessionelle Teams bilden zu können, die auch jenseits der Inhaltsvermittlung arbeiten, um die Lernbegleitung zu unterstützen. Diese Standardisierung fehlt in Deutschland bisher. Angesichts des Lehrkräftemangels könnte es gegenwärtig eine Chance sein, das weitere pädagogische Personal aufzustocken, um die lernbegleitenden und nicht fachgebundenen Anteile in der Betreuung zu verstärken und Lehrkräfte zu entlasten.
Inklusion, das zeigen erfolgreiche Länder, gelingt leichter bei einheitlichen nationalen Bildungsstandards. Die föderale deutsche Struktur macht dies ohne politische Anstrengungen zu länderübergreifenden Vorgehensweisen fast unmöglich. Die nationalen Bildungsstandards sollten darauf zielen, die Bildungsbeteiligung aller Menschen zu erhöhen, um dabei höhere und bessere Schulabschlüsse für möglichst viele Lernende zu erreichen, insbesondere die Übergangsquote zur höheren Bildung zu verbessern. Eine Benachteiligung bei Schulwechseln (also von einer Schulform in eine andere) in Deutschland, die heute oft vorkommt, kann so verhindert werden. Die Bildungsausgaben als Anteil am Bruttosozialprodukt müssten im internationalen Vergleich im oberen und nicht im unteren Drittel liegen.
Fazit
Ein inklusives Schulsystem nach Vorgaben der UN und UNESCO hilft, eine faire Bildung für alle anzubieten. Dies ist in Deutschland bisher strittig. Zwar wurde die UN-Konvention ratifiziert, aber die Staatenberichte zeigen, dass dies in Deutschland nur halbherzig geschieht. Zudem hat eine Politisierung des Themas eingesetzt, die in Behauptungen gipfelt wie „die Schule ist mit der Inklusion überfordert“, „das ist zu teuer“ und „die Menschen wollen Inklusion eigentlich nicht“. Dagegen zeigen andere Länder bereits, dass Inklusion bei hinreichender Ausstattung und genug Personal mit guten Erfolgen zu leisten ist.