‚Behinderung‘ als zeitgebundenes Phänomen
Der Begriff Behinderung ist durch seine Unbestimmtheit und Wandelbarkeit gekennzeichnet, er ist zeitgebunden und hat „eine Vergangenheit, eine Gegenwart und somit auch eine Zukunft (…)“.
Zur Begriffsgeschichte
Behinderte Menschen hat es zu allen Zeiten, an allen Orten, in allen Gesellschaften und Kulturen gegeben. Bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert existierte für diesen heterogenen Personenkreis in der westlichen Welt allerdings eine Vielzahl von Bezeichnungen, die sich an den jeweiligen physischen, sensorischen, psychischen oder kognitiven Beeinträchtigungen orientierten. Dabei wurden Vokabeln wie ‚Krüppel‘, ‚Invalide‘, ‚Blinde‘, ‚Taubstumme‘, ‚Schwachsinnige‘, ‚Irre‘‚ ‚Fallsüchtige‘ mehrdeutig genutzt: einerseits als sachlich-objektive Fachbegriffe (Medizin, Psychiatrie, Heil- und Sonderpädagogik, Fürsorge, Jurisdiktion), andererseits vor allem alltags- und umgangssprachlich als stark abwertende und diskriminierende Bezeichnungen.
Der Wandel der Zuschreibungen und Bewertungen von ‚Behinderung’ ist eng verknüpft mit gesellschaftskritischen Reformprojekten der bürgerlichen Gesellschaft im Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft Ende des 19. Jahrhunderts. Unmittelbar damit verbunden ist das Konzept der Wohlfahrtsstaatlichkeit und der Genese des ‚modernen Wohlfahrtsstaates‘. Erst mit der Industrialisierung und dem allmählich wachsenden Interesse der Medizin an physischen, sensorischen, psychischen und kognitiven Erkrankungen und Einschränkungen, insbesondere des Kindesalters, bildete sich die Wortfamilie ‚Behinderung‘, ‚Behinderter‘ und ‚behindert‘ heraus. Maßgeblichen Einfluss auf die Genese der Begrifflichkeit hatte nicht zuletzt der Erste Weltkrieg, in dessen Verlauf nicht nur die Zahl beeinträchtigter Menschen drastisch anstieg und beeinträchtigte Menschen als allgegenwärtiges Phänomen und Teil der sozialen Frage sichtbar wurden. Vielmehr kam es unter den physisch beeinträchtigten Menschen zu entschiedenen Abgrenzungskämpfen, die eng mit unterschiedlichen sozialen Bewertungen von ‚Krüppeln‘ – seit Geburt oder Kindheit physisch beeinträchtigte Menschen – und ‚Invaliden‘ – durch Krieg, Unfall oder Arbeit beeinträchtigte Personen – verknüpft waren. Bestimmend für den Umgang mit physischer Beeinträchtigung wurde das
Dis/ability History - Historisierung von ‚Behinderung‘
Nach Auffassung der Disability Studies ist Behinderung keine quasi natürlich-biologische Schädigung oder Beeinträchtigung, keine feststehende, individuell verkörperte Gegebenheit, sondern eine Konstruktion, die in sozialen und kulturellen Prozessen hervorgebracht wird und in ihrem jeweiligen zeitlichen Zusammenhang untersucht werden muss. Menschen mit ein und derselben Beeinträchtigung wurden in unterschiedlichen Epochen als ‚behindert‘ oder ‚nichtbehindert‘ wahrgenommen oder aber die Gesellschaft deutete medizinische zu sozialen Diagnosen um. Unter der NS-Diktatur verband sich im Falle des „angeborenen Schwachsinns“ mit dem Mechanismus der Umdeutung ein erhöhtes Risiko zur Zwangssterilisation, von der in hohem Maße Mädchen und Frauen betroffen waren.
Kulturwissenschaftlich orientierte Dis/ability Historians plädieren daher dafür, die Kategorie Behinderung unabhängig von der untersuchten Epoche als kontingent und in ihrem zeitlichen Zusammenhang zu verstehen. Die „Historisierung von Deutungen wahrgenommener oder zugeschriebener physischer oder psychischer Merkmale (embodied differences) als ‚Behinderungen‘ betrachten sie als einen ihrer genuinen Analysegegenstände. Wie eine Gesellschaft über ‚Behinderung‘ denkt und wie sie mit diesem Phänomen und den entsprechend kategorisierten Menschen umgeht, leitet sich aus sozialen Werten und Normen ab. Erkennen lassen sich diese Werte und Normen beispielsweise an der Art und Weise des Sprechens über Behinderung sowie an der medialen Darstellung. Sie bilden sich auch ab in Symbolen sowie Traditionen und Institutionen. Dazu zählt zum Beispiel die lange als alternativlos geltende Praxis der Unterbringung behinderter Menschen in speziellen Wohneinrichtungen oder der Beschäftigung in den Werkstätten für behinderte Menschen. Werte und Normen schlagen sich ebenfalls nieder in Wissen, Ritualen und Praktiken und nicht zuletzt auch in Geschichte und Geschichten, „die eine Gesellschaft entwickelt hat und die sie in Erziehungs- und Bildungsprozessen an die Gesellschaftsmitglieder weitergibt.“ Mit dem kulturwissenschaftlichen Ansatz der Dis/ability History verkehrt und erweitert sich zugleich die traditionelle Forschungsperspektive: Nicht „der:die Behinderte“ als Träger:in bestimmter wahrnehmbarer oder zugeschriebener Merkmale oder behinderte Menschen als Randgruppe werden als Untersuchungsgegenstände in den Blick genommen, sondern die Mehrheitsgesellschaft rückt in den Fokus des Forschungsinteresses
Umgang mit Behinderung in der deutschen Geschichte
Die Geschichte des Umgangs mit Behinderung ist geprägt von der Entstehung wohlfahrtsstaatlicher Fürsorge und dem zeitgleichen Zugriff unterschiedlicher Disziplinen auf das ‚krüppelhafte‘, ‚blödsinnige‘, ‚taube‘, blinde und ‚psychopathische‘ (‚verhaltensauffällig‘ und erziehungsschwierig) Kind.
Der Anspruch der unterschiedlichen Fachvertreter:innen auf die wissenschaftliche Meinungsführerschaft im Bereich des professionellen Umgangs mit dem ‚normalen‘ und dem ‚abweichenden‘ Kind führte zu dynamischen Aushandlungsprozessen. Vor dem Hintergrund der im ausgehenden 19. Jahrhundert immer stärker hervortretenden naturwissenschaftlichen Denk- und Erklärungsmuster setzte sich die Medizin mit ihren Teilbereichen (u.a. Orthopädie und Psychiatrie) als Leitwissenschaft durch. Aus ihrer Perspektive galt physische Beeinträchtigung als individuelle Funktionseinschränkung, die durch die Kombination von medizinischen, therapeutischen, d.h. pädagogisch-psychologischen sowie sozialpolitischen Maßnahmen geheilt oder wenigstens so weit kompensiert werden sollte, dass die Rehabilitation eines beeinträchtigten Kindes oder einer:eines Erwachsenen möglich wurde. Ausgehend von der ‚Kriegskrüppelfürsorge‘ war der Gedanke der gesellschaftlichen (Wieder-) Eingliederung dabei im Kern auf die (Wieder-) Herstellung von Leistungs- und Arbeitsfähigkeit minderjähriger wie erwachsener physisch beeinträchtigter Individuen gerichtet. Für ‚geistig behinderte‘ Kinder und Jugendliche war das Kriterium der ‚Bildungsfähigkeit‘ ausschlaggebend, das eine frühe Prognose über die spätere wahrscheinlich zu erreichende Leistungs- und Arbeitsfähigkeit darstellte.
Soziale Benachteiligung ergab sich aus dem persönlichen ‚Defizit‘, der Abweichung von einem gesellschaftlichen Normalzustand.
Unter den demokratischen Bedingungen der Weimarer Republik setzten sich jedoch behinderte Menschen selbst aktiv für ihre Befreiung vom Status als Objekte fürsorgerischen Handelns ein. Explizit strebten z.B. die physisch beeinträchtigten Aktivist:innen des 1919 in Berlin gegründeten „Selbsthilfebund der Körperbehinderten“ einen Subjektstatus in der staatlichen „Krüppelfürsorge“, so der etablierte sozialpolitische Terminus, und die Zusammenarbeit auf Augenhöhe an.
Behinderung und behinderte Menschen im Nationalsozialismus
Die Gesellschaft der Weimarer Republik war durch eine außergewöhnliche Vielfalt sowie die Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Auffassungen, Denk- und Lebensweisen gekennzeichnet. Diese einzigartige historische Situation geriet im Verlauf der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre allmählich ins Wanken und erlebte mit der nationalsozialistischen Diktatur einen radikalen und nachhaltigen Bruch. Er wirkt zum Teil bis heute nach und betraf zeitgenössisch auch den Umgang mit dem Phänomen Behinderung und behinderten Menschen. Die rassistisch-biologistische Propaganda gegen physisch, sensorisch, psychisch und kognitiv beeinträchtigte und andere als ‚minderwertig‘ angesehene Gesellschaftsmitglieder, die im Verdacht standen, soziale Kosten zu verursachen und „dem Volkskörper“ zu schaden, hatte schon in der Weimarer Krisenzeit zur Stigmatisierung der entsprechenden Fürsorgezweige und -einrichtungen geführt. Ihre Existenz stand mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten zunächst in Frage
Nach einer kurzen Phase der Verunsicherung und Instabilität blieben die Fürsorgeeinrichtungen bestehen. Diese Entwicklung war auch auf das Engagement der Fachvertreter:innen zurückzuführen, die ihre Konzepte auf die ideologischen Anforderungen des NS-Regimes umstellten. So verschrieb sich z.B. die staatliche „Krüppelfürsorge“ „den großen Zielen der Gesundheits- und Bevölkerungspolitik“ und sah ihre Aufgabe darin, „schwere erbliche körperliche Mißbildungen durch Ausmerzung des krankhaften Erbstromes sowie Eheberatung“
Auch physisch und sensorisch beeinträchtigte Menschen schlossen sich aktiv und aus Überzeugung dem NS-Staat an und suchten nach Anerkennung als „vollwertige“ Volksgenoss:innen.
Während für diese Personenkreise unter der NS-Diktatur also durchaus Möglichkeiten der relativen sozialen Teilhabe bestanden, gestalteten sich die Lebensverhältnisse und -möglichkeiten für kognitiv beeinträchtigte wie für psychisch erkrankte Menschen äußerst prekär. Sie waren mit Beginn des NS-Patientenmordes, der euphemistisch als „Euthanasie“ bezeichnet und als Erlösung von unmenschlichem Leid propagiert wurde, dem erhöhten Risiko der Tötung im Rahmen von „Kindereuthanasie“, zentral gesteuerter Gasmord „Aktion T4“ und dezentraler „Euthanasie“ ausgesetzt. Doch es gilt zu differenzieren: Nicht jeder Mensch mit der Diagnose ‚geistige Behinderung‘ wurde z.B. im Rahmen der NS-„Euthanasie-Aktion T4“ selektiert. Ausschlaggebend waren mit dem Kriterium der Leistungs- und Arbeitsfähigkeit bei Erwachsenen und Bildungsfähigkeit bei Kindern und Jugendlichen vor allem ökonomische, z.T. auch medizinisch motivierte Forschungsinteressen, aufgrund derer die Patient:innen in den Heil- und Pflegeanstalten zur Tötung bestimmt wurden. So erklärt es sich, dass der in der Landesanstalt Brandenburg-Görden untergebrachte zehnjährige Günter Ewald mit der medizinischen Diagnose „angeborener Schwachsinn“ 1940 in der Gaskammer der Tötungseinrichtung in Brandenburg/Havel umgebracht wurde. Währenddessen überlebten seine drei Schwestern, obwohl zwei von ihnen für die Aufnahme in eine sogenannte Kinderfachabteilung gemeldet worden waren, was ihren Tod im Rahmen der „Kindereuthanasie“ bedeutet hätte. Günters Tod war durch Forschungsinteressen motiviert. Die Gründe für Rückstellung seiner Schwestern sind aufgrund fehlender Angaben in der überlieferten Krankenakte ihres Bruders sowie mangelnder anderer Archivalien nicht zu rekonstruieren.
Geschichte mit Behinderung neu schreiben
Die Erforschung der Geschichte von behinderten Menschen und des Umgangs mit ihnen bilden zentrale Gegenstände der Dis/ability History. Mit dem Begriffspaar ‚Behinderung‘ – ‚Nichtbehinderung‘ bzw. ‚Normalität‘ bringt der kulturwissenschaftliche Ansatz eine weitere Differenzkategorie in die Forschung zur Geschichte sozialer Ungleichheiten ein. Wenn wir verstehen wollen, wie diese Differenzkategorie zu unterschiedlichen Zeiten und unter wechselnden politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten konstruiert wurde, dann benötigen wir Wissen und Kenntnisse über das Leben und den Umgang von Mehrheitsgesellschaften mit ‚behinderten‘ Menschen in früheren Zeiten. Wollen wir, wie es die zweite Behindertenbewegung im deutschsprachigen Raum formuliert hat, aus der die Dis/ability History hervorgegangen ist, den gegenwärtigen gesellschaftlichen Umgang mit ‚Behinderung‘ – ‚Nichtbehinderung bzw. ‚Normalität‘ kritisch überprüfen und ggf. verändern, muss der Frage nachgegangen werden, wie unsere heutigen Umgangsweisen historisch geworden sind. Auf welche Ursprünge lassen sie sich zurückführen? Wann haben sie sich unter welchen Voraussetzungen und Gegebenheiten verändert, mit welchen Folgen für wen? Mit dem Blick auf Menschen mit Lernschwierigkeiten liesse sich z.B. fragen, aus welchen Gründen dieses ebenfalls sehr heterogene und schwer zu fassende Kollektiv im 19. und 20. Jahrhundert nach den Kriterien „bildungsfähig“ bzw. „bildungsunfähig“ differenziert wurde? Welche Personen oder sozialen Gruppen, welche Handlungen begründeten diese Vorstellung? Wie entstand, entwickelte und manifestierte sich dieses dichotome Denken und welche Praktiken im Umgang mit sog. geistig behinderten Menschen zog es nach sich? Welche politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen führten dazu, dass diese Kategorisierung über einen langen historischen Zeitraum dominierte und das Leben, den Alltag von Menschen mit Lernschwierigkeiten über Generationen hinweg bestimmte – und in der Zeit des Nationalsozialismus sogar ihre ihre Ermordung als „lebensunwertes Lebens“ begründete? Die Auseinandersetzung mit ‚Anomalität‘ und ‚Normalität‘ im Rahmen der Erforschung der Geschichte behinderter Menschen und des Umgangs mit ihnen eröffnet „die Chance, vorherrschende gesellschaftliche Normen und Werte zu analysieren und zu hinterfragen.“