Einführung
Der häufige Konsum medialer Inhalte kann ein verzerrtes Bild der Realität vermitteln. Das ist nicht erst seit der Diskussion um den Einfluss sozialer Medien auf Meinungen und Einstellungen zu politischen und gesellschaftlichen Themen bekannt. Bereits Mitte der 1970er Jahre untersuchten George Gerbner und seine Mitforschenden an der Universität Pennsylvania, inwiefern die Häufigkeit des Konsums medialer Gewaltdarstellungen die Vorstellungen des Publikums über bestimmte soziale Themen und Gruppen beeinflusst.
Medien dienen der Allgemeinbevölkerung vorrangig als Informationsquelle über bestimmte Gruppen von Menschen, zu denen im Alltag kaum oder gar kein Kontakt besteht. Sie vermitteln beispielsweise, was als psychische Erkrankung oder Behinderung angesehen wird, wie sich diese in der Realität zeigen und wie mit betroffenen Personen oder Gruppen umzugehen ist. Das ist insbesondere problematisch, da sich derartige stereotype Darstellungen, vor allem von Menschen mit psychischen Erkrankungen, aber auch anderen Arten von Behinderung, in nahezu allen Medienformaten finden.
Seit den 2000er Jahren haben sich durch die Verbreitung des Internets und das Aufkommen sozialer Medien Medienkonsum und -produktion grundlegend verändert. Dadurch ergeben sich auch für Menschen mit Behinderungen neue Möglichkeiten, auf mediale Darstellungen Einfluss zu nehmen oder sich selbst darzustellen. Zudem haben sich Deutschland und andere Vertragsstaaten mit der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) im Jahr 2009 verpflichtet, zur Bewusstseinsbildung nach Artikel 8 beizutragen. Dieser beinhaltet „die Aufforderung an alle Medienorgane, Menschen mit Behinderungen in einer dem Zweck dieses Übereinkommens entsprechenden Weise darzustellen“ (Art. 8, Abs. 2c). Dies schließt der Konvention folgend unter anderem eine würdevolle, klischee- und vorurteilsfreie Darstellung ein, die die Rechte von Menschen Behinderungen achtet. Doch wie steht es um die Bewusstseinsbildung für und mediale Repräsentation von Menschen mit Behinderungen in den Medien in Deutschland? Dabei soll es nicht nur um die Darstellung von Menschen mit sogenannter geistiger oder körperlicher Behinderung gehen, sondern auch um Menschen mit psychischen oder chronischen Erkrankungen. Demensprechend wird in diesem Beitrag diskutiert,
wie das Thema Behinderung in Medien in Deutschland präsentiert wird,
wie Darstellung und Wahrnehmung des Themas zur Sichtbarkeit und Bewusstseinsbildung beitragen,
und welche Rolle soziale Medien für die Kommunikation über das Thema spielen können.
Daraus sollen entsprechende Konsequenzen und Empfehlungen für die mediale Darstellung von Menschen mit Behinderungen abgeleitet werden.
Das Thema Behinderung in den deutschen Medien
Im Vergleich zu US-amerikanischen Medien ist die Darstellung von Menschen mit Behinderungen in deutschen Medien noch wenig umfassend und systematisch untersucht. Einerseits ist anzunehmen, dass die Befunde der genannten US-amerikanischen Studien auch auf internationale Produktionen wie insbesondere Filme und Serien, die auch in Deutschland konsumiert werden, übertragbar sind. Andererseits dürften spezifische kulturelle und historische Besonderheiten zu einem anderen Blick auf und anderen Umgang mit Behinderung in deutschen Medien beitragen. Dementsprechend ist das Thema Behinderung und dessen Vielfalt im Verhältnis zum Aufkommen der unterschiedlichen Behinderungsarten in der Bevölkerung unterrepräsentiert. Dies trägt entweder zu einer Tabuisierung oder zu einer Überrepräsentation bestimmter Themen bei. Im Filmlexikon der Universität Kiel ist beispielsweise unter dem Stichpunkt „Krankheit im Film“ vermerkt, dass statistisch häufige Erkrankungen wie Schlaganfall oder Diabetes eher vergleichsweise selten medial dargestellt werden, während psychische Erkrankungen oder Krebs häufiger inszeniert werden.
Wie Studien aus den Jahren 2006 und 2011 zeigen, wurde Behinderung in Boulevardmagazinen auf öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehsendern in etwa 11% der Beiträge
Sichtbarkeit und Bewusstseinsbildung: Eine Frage der Darstellung und Wahrnehmung?
Im Hinblick auf die Darstellung von Menschen mit Behinderungen lässt sich feststellen, dass sie je nach Format aus unterschiedlichen Zwecken erfolgen kann. Aus Perspektive von Medienschaffenden kann es beispielsweise zunächst einmal sinnvoll sein, insbesondere in fiktionalen Formaten (z. B. Unterhaltungsfilmen/-serien) ungewöhnliche, abweichende und normverletzende menschliche Verhaltensweisen (z. B. gewalttätig, „genialer Freak“, hilfsbedürftig) dramaturgisch durch eine psychische Erkrankung oder Behinderung zu erklären. Als internationale Beispiele wären hier The Joker (2019), Sheldon Cooper aus The Big Bang Theory (2007-2019) oder Forrest Gump (1994) zu nennen. Im deutschsprachigen Raum finden sich ebenfalls Beispiele wie Das weiße Rauschen (2001), Einer wie Bruno (2011) oder Be my Baby (2014). Bemerkenswert ist dabei, dass häufig Schauspieler*innen ohne Behinderungen —mit Ausnahme von Be my Baby— die jeweiligen Rollen verkörpern. Dies ist auch bei vielen anderen Filmen und Serien der Fall.
Wenn Menschen mit Behinderungen hingegen selbst in Filmen oder Serien auftreten, dann oft in einer stereotypen, auf ihre Behinderung reduzierten Rolle. Häufig finden sich Erzählungen darüber, dass sich Menschen mit Behinderung entweder wegen ihrer Behinderung abweichend und sozial auffällig verhalten oder trotz ihrer Behinderung überdurchschnittliche Leistungen vollbringen (Genie-Irrsinns-Hypothese; z. B. A Beautiful Mind, 2001). In beiden Fällen wird eine Abweichung von der Normalität inszeniert und durch die Behinderung begründet. Ein Muster, das sich auch in der nicht-fiktionalen Berichterstattung wiederfindet: Zum einen werden Gewaltdelikte, beispielsweise im Fall des Amoklaufs von Münster im Jahr 2018, primär durch eine psychiatrische Diagnose erklärt. Motive spielen hier keine Rolle. Solche Darstellungsweisen, die dem gängigen Stereotyp entsprechen, werden vom Publikum kaum hinterfragt und auf die gesamte Personengruppe generalisiert. Zum anderen werden Menschen mit Behinderungen, die zum Beispiel besondere sportliche Leistungen erbringen, als sogenannte „Superkrüppel“ heroisiert. Die Leistung wird hier als nicht übertragbarer Einzelfall wahrgenommen.
Um derartige stereotype Darstellungsmuster zu durchbrechen und zu widerlegen, bieten Medien allerdings auch sehr großes Potential zur Aufklärung über und für den Kontakt mit Menschen mit Behinderung. Häufig sind Menschen mit Behinderungen für die meisten Personen nicht sichtbar. Auch ist der Kontakt zu diesen durch die Separation in Kliniken, Wohnheimen und anderen Sondereinrichtungen nicht selten eingeschränkt. Zudem lassen sich über Medien viele Menschen gleichzeitig und dafür mit vergleichsweise geringem Aufwand ansprechen und erreichen.
Eine Arbeitsgruppe an der Fakultät Rehabilitationswissenschaften der TU Dortmund unter Beteiligung des Autors dieses Beitrags untersuchte in mehreren Studien, wie verschiedene populäre mediale Darstellungen von Behinderung die Publikumswahrnehmung beeinflussen und somit zur Destigmatisierung von Personengruppen beitragen können. Als Beispiel für eine akkurate Darstellung einer Schizophrenie, die auch Aufklärungselemente beinhaltet, zeigten die Forschenden einem Testpublikum den Film Das weiße Rauschen (2001). Darin verkörpert Daniel Brühl einen jungen Mann, bei dem sich infolge des Konsums psychoaktiver Pilze eine genetisch veranlagte Schizophrenie entwickelt. Durch Kameraführung und Tongestaltung ermöglicht der Film dem Publikum eine sehr nahe und intensive Erfahrung mit dem Protagonisten. Die Studienergebnisse zeigen, dass der Film keine einheitliche Wirkung auf die Wahrnehmung und Einstellungen des Publikums hatte. Demnach fallen mediale Wirkungsprozesse hoch individuell aus.
In einer weiteren Studie untersuchten die Forschenden, wie sich unterschiedliche Darstellungen von Kleinwuchs auf die Wahrnehmung und Stigmatisierungstendenz des Publikums auswirken.
Die Kommunikation über Behinderung in sozialen Medien
Vielversprechend erscheint vor diesem Hintergrund ebenfalls die Möglichkeit für Menschen mit Behinderungen, sich über soziale Medien darzustellen und ihre reale Lebenssituation selbstbestimmt öffentlich zu präsentieren. Dies kann sich positiv auf den eigenen, selbstbewussten Umgang mit der Behinderung im Sinne von Empowerment auswirken. Es ermöglicht aber auch dem Internetpublikum in den (indirekten) Kontakt mit Personen zu treten, zu denen es sonst unter Umständen keinen oder nur flüchtigen Kontakt hat. Zudem besteht die Möglichkeit, Aufklärung und Informationen über eine bestimmte Behinderung quasi aus erster Hand zu erfahren. Ein weiterer Vorteil ist die Möglichkeit, dass sich Betroffene hier vernetzen und Wissen über die jeweilige Behinderung oder Erkrankung austauschen können.
Berücksichtigen muss man dabei allerdings, dass mit den Potentialen zur destigmatisierenden Kommunikation auch immer die Möglichkeit stigmatisierender Reaktionen und Inhalte einhergeht, beispielsweise in Form von Kommentaren oder diffamierenden Videos. Ergebnisse einer Erhebung, in welchem Kontext der Begriff „behindert“ auf der Videoplattform Youtube verwendet wird
Zusammenfassung
Der bisherige wissenschaftliche Kenntnisstand zur Darstellung und Wirkung von Menschen mit Behinderungen in den Medien legt insbesondere in Deutschland eine große Sensibilisierung aller Medienschaffenden im Sinne einer Stigma-sensiblen Kommunikations- und Arbeitsweise nahe. Hierbei sollten sowohl die Art und Weise der Darstellung als auch mögliche bewusste und unbewusste Medienwirkungen reflektiert werden. Auch wenn es nicht der primäre Auftrag von vor allem Unterhaltungsmedien ist, Wissen zu vermitteln und Aufklärung zu betreiben, ergibt sich zumindest eine gewisse Verantwortung der öffentlichen Bewusstseinsbildung im Sinne der UN-BRK nicht entgegen zu wirken. Es gilt zu ermöglichen, dass Menschen mit Behinderungen selbst als Medienschaffende tätig werden und bei der medialen Thematisierung durch Andere mit einbezogen werden.