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Zwischen Juli 2015 und März 2016 sind über eine Million Menschen aus mehrheitlich muslimisch geprägten Ländern nach Deutschland geflohen, überwiegend aus den vom sogenannten Islamischen Staat besetzen Gebieten in Syrien und dem Irak. Diese Menschen suchen in Europa und Deutschland Sicherheit und neue Perspektiven für ihre Zukunft und die ihrer Familien. Die große Zahl der Geflüchteten sowie die Umstände der Flucht und ihrer Aufnahme sorgten insbesondere im Sommer 2015 für ein enormes Medienecho und eine kontroverse öffentliche Diskussion.
Dabei wurde unter anderem diskutiert, ob von den geflohenen Menschen eine Gefahr für die innere Sicherheit in Deutschland ausgeht und ob sich unter ihnen Extremisten beziehungsweise Extremistinnen oder Terroristen beziehungsweise Terroristinnen befinden.
Im Jahr 2016 erschütterten dann die Anschläge von Ansbach und Würzburg sowie der Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz Deutschland. Bei den Tätern von Ansbach und Würzburg handelte es sich um junge Männer, die aus Syrien und Afghanistan geflohen waren und in Deutschland Schutz gesucht hatten. Der Attentäter vom Breitscheidplatz hatte sich als Geflüchteter ausgegeben und zeitweise in entsprechenden Unterkünften gelebt. Dies gab der öffentlichen Auseinandersetzung über eine mögliche Gefahr durch Geflüchtete neuen Auftrieb. Doch woran lässt sich erkennen, ob sich geflüchtete Menschen radikalisieren? Und welche Zusammenhänge gibt es tatsächlich zwischen den Aktivitäten extremistischer Gruppen und den nach Deutschland geflüchteten Menschen?
Salafistische Strömungen: Eine kleine Szene mit großem Gefahrenpotenzial
In Deutschland gibt es eine aktive salafistische Szene, die verhältnismäßig klein ist, aber weiterhin dynamisch wächst. Laut dem Bundesamt für Verfassungsschutz beläuft sich das salafistische Personenpotenzial auf ungefähr 11.300 Anhängerinnen und Anhänger (Stand: November 2018)
Aktuelle Zahlen Die islamistische Szene in Deutschland
Die islamistische Szene in Deutschland umfasste laut Bundesamt für Verfassungsschutz 27.480 im Jahr 2022 Personen. Diese lassen sich verschiedenen Gruppierungen zuordnen. Circa 11.000 Personen bundesweit rechnet der Verfassungsschutz dem Salafismus zu. Im Jahr 2011 waren es schätzungsweise 3.800 Personen. Die Millî Görüş-Bewegung und ihr zugeordnete Vereinigungen kommen auf rund 10.000 Personen. Der Muslimbruderschaft (MB)/Deutsche Muslimische Gemeinschaft e. V. (DMG) werden 1.450 Personen zugerechnet und Hizb ut-Tahrir 750 Personen (Stand Juni 2023).
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Damit liegt die absolute Zahl der Szeneangehörigen deutlich unter den absoluten Zahlen anderer Formen von politischem Extremismus.
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Gerade von den gewaltbereiten Teilen der salafistischen Szene geht ein erhebliches Gefahrenpotenzial aus. In den vergangenen Jahren erschütterten eine Reihe von Anschlägen Städte und Menschen in Europa, die aus den Reihen der extremistischen Netzwerke verübt wurden. Unter anderem traf es Berlin, Paris, Nizza, Brüssel, Madrid und London. Mit der Zerschlagung des sogenannten Islamischen Staates in Syrien und dem Irak ist die Gefahr von Anschlägen in Europa gewachsen. Durch die Gebietsverluste in Syrien und im Irak ist die Rekrutierung für das "Kalifat" nicht mehr primäres Ziel der "IS"- Propaganda. Sie ruft seit der Zerschlagung des "Kalifats" vielmehr dazu auf, im Namen des "IS" eigenständig Anschläge in Deutschland und Europa zu planen und durchzuführen – mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln.
Geflüchtete als Zielgruppe für Rekrutierungsbemühungen
Gewaltbereite Salafistinnen und Salafisten in Deutschland versuchen auf unterschiedlichsten Wegen Kontakt zu Geflüchteten aufzubauen, sie zu indoktrinieren und zu rekrutieren.
In der öffentlichen Diskussion wurde gelegentlich die Ansicht geäußert, dass die vorwiegend aus muslimisch geprägten Ländern vor dem Terror des "IS" und anderer radikal islamistischer Gruppen geflohenen Menschen keine attraktive Zielgruppe für die Ansprache durch gewaltbereite Salafistinnen und Salafisten seien. Jedoch sind die Fluchtgründe sehr unterschiedlich. Viele Syrer zum Beispiel fliehen vor dem Staatsregime und nicht vor dem "IS".
Zwar könnte man vermuten, dass salafistische Akteure die Flucht aus dem von Salafistinnen und Salafisten proklamierten Kalifat als Verrat betrachten und dass für sie die Geflüchteten daher als "Ungläubige" gelten. Doch es gibt Gründe dafür, dass Geflüchtete für diese Akteure eine attraktive Zielgruppe darstellen.
Dazu zählt unter anderem, dass die Erfahrung von Krieg und Flucht für viele Menschen einen erheblichen, oft sogar traumatischen Bruch in ihrer Biografie darstellt. Nach der Ankunft im Aufnahmeland erleben Geflüchtete oftmals Gefühle von Entwurzelung und Orientierungslosigkeit und damit einhergehend Überforderung. Gleichzeitig fehlen ihnen oftmals Bezugspersonen und stabile soziale Bindungen. Hinzu kommt, dass viele Menschen nach ihrer Ankunft im Aufnahmeland Diskriminierung und Ablehnung erfahren und zum Teil Opfer von Rassismus und rechtsextremen Anfeindungen werden.
Die Geflüchteten stehen nach ihrer Ankunft in der Aufnahmegesellschaft vor großen Herausforderungen und unter einem enormen Anpassungsdruck. Viele von ihnen sind enttäuscht, desillusioniert und frustriert, da sie nur schwer Zugang zum Wohnungs- und Arbeitsmarkt finden und das Ankommen in der neuen Gesellschaft nicht leichtfällt. Sie erfahren wenig Anerkennung und haben häufig Selbstzweifel, da sie keinen Beitrag für die Gesellschaft leisten können.
Die Tatsache, dass der Wunsch nach Anschluss und Anerkennung in einer solchen prekären Lebenssituation besonders stark werden kann, nutzen Salafistinnen und Salafisten gezielt aus.
Medienthema: Rekrutieren Salafisten Flüchtlinge?
Im September und Oktober 2015 wurde in einer großen Zahl von Medienbeiträgen die Frage thematisiert, ob Salafisten gezielt Flüchtlinge anwerben und wie erfolgreich diese Anwerbeversuche sein würden. Die Redaktion hat einen Überblick erstellt.
Wie sprechen salafistische Akteure Geflüchtete an?
Salafistische Akteure versuchen auf verschiedene Weisen, Kontakt zu Geflüchteten herzustellen. So versuchen sie etwa, Zugang zu den Unterkünften zu bekommen. Und es werden Versuche unternommen, Geflüchtete zu Aktivitäten salafistischer Gruppierungen und Vereine einzuladen. Die nachfolgenden Schilderungen beruhen auf eigenen – unsystematischen – Beobachtungen, auf Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden sowie auf Beobachtungen von Kaan Orhon aus der Arbeit der Beratungsstelle Hayat in Bonn.
Im Kontext einer überwiegend nicht-muslimischen Gesellschaft spekulieren salafistische Akteure darauf, von den mehrheitlich muslimischen Geflüchteten als Muslime positiv wahrgenommen zu werden. Sie erwarten, einen Vertrauensvorschuss zu bekommen. Und sie hoffen darauf, dass der vorgebliche gemeinsame Glaube einen Vorteil darstellt, um für das salafistische Milieu missionieren und rekrutieren zu können.
Oftmals versuchen salafistische Akteure den ersten Kontakt und Zugang zu Geflüchteten über praktische Unterstützung herzustellen, wie z. B. Kleiderspenden, Spenden von Halal-Lebensmitteln, Hygieneartikeln und religiösen Artikeln wie Gebetsteppiche und Korane. In diesen Zusammenhängen wurde in Wohnheimen für Geflüchtete auch beobachtet, dass Frauen aus der salafistischen Szene den Kontakt zu geflüchteten Frauen und ihren Familien aufzubauen versuchten, indem sie neben Spenden auch Kontaktangebote machten, Einladungen zum Essen aussprachen oder anboten, die Sanitärräume in den privaten Wohnungen der Salafistinnen nutzen zu können.
Es gibt auch Angebote zum Spracherwerb oder Nachhilfe für Kinder oder Freizeitangebote, wie sogenannte Kinderfeste, Fußballspiele, Sport und gemeinsames Kochen oder Grillen. Vor allem im Fastenmonat Ramadan gibt es Einladungen zum gemeinsamen abendlichen Fastenbrechen und Abendessen in szene-nahen Moscheen. Einladungen zu religiösen Aktivitäten erfolgen meist, nachdem Vertrauen aufgebaut werden konnte.
Salafistische Akteure bieten sich als Bezugspersonen an und versprechen Anschluss an eine Gemeinschaft sowie Anerkennung und Verbundenheit.
Die salafistischen Akteure und Gruppen inszenieren ihre "Flüchtlingsarbeit" und Missionstätigkeit unter Geflüchteten medien- und breitenwirksam im Internet. So können sie auch andere im Aufnahmeland lebende Muslime erreichen, die sich in der Flüchtlingsarbeit engagieren wollen. Wenn diese Zielgruppen gewonnen werden und sich beteiligen, werden auch sie Ziel der Indoktrination im Sinne der salafistischen Ideologie. Dies zeigt: Aus der Sicht salafistischer Gruppen ist die Unterstützung von Geflüchteten in mehrfacher Hinsicht lohnenswert.
Salafistische Narrative zielen auf die Spaltung der Gesellschaft
Salfistische Akteure versuchen, die Geflüchteten ausschließlich an sich und ihre Ideologie zu binden. Dabei vermitteln sie Ablehnung und Feindseligkeit gegenüber allen Nichtmuslimen sowie Muslimen, die nicht nach ihrer Auslegung des Islams leben. Hilfsangebote von christlichen Kirchen bzw. kirchlichen Trägern werden als Missionierungsbestreben der Kirchen dargestellt. Diese würden demnach versuchen, in Not geratene Muslime und Musliminnen zur Konversion zum Christentum und damit zum Glaubensabfall zu verleiten. Vor Kontakten zu Angehörigen der Aufnahmegesellschaft und vor der Integration in diese wird eindringlich gewarnt.
Die Menschen in westlichen Ländern werden als ungläubige Sünderinnen und Sünder beschrieben, die keine Werte und Ziele im Leben haben und sich Alkohol, Drogen und "Unzucht" hingeben würden.
Schicksal der Geflüchteten stützt salafistisches Opfer-Narrativ
Salafistische Akteure in Deutschland und Europa beziehen ihrerseits aus dem Schicksal der Geflüchteten Legitimation und Stärkung ihrer eigenen Narrative, berichtet Kaan Orhon von der Beratungsstellte Hayat in Bonn
Gelingt es salafistischen Akteuren in Deutschland und Europa, Menschen für ihre Ideologie zu gewinnen, die aus den zahlreichen Konfliktgebieten geflüchtet sind, dienen diese als lebendiges verbindendes Element zu ihren Herkunftsländern, so Orhon. Ohne sie könne die Verbindung nur ideell beschworen werden. Die Geflüchteten werden demnach zu Stellvertreterinnen und -vertretern beziehungsweise Vorzeigeobjekten, welche die globale Verfolgung der Muslime belegen sollen.
Wie kann eine salafistische Radikalisierung bei Geflüchteten erkannt werden?
Anhand dreier konstruierter Fallbeispiele
FallbeispielBeispiel 1: Ein allein reisender Mann sorgt für Verunsicherung
In einer Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete beobachten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen geflüchteten allein reisenden jungen Mann (26 Jahre) aus Usbekistan. Der Mann ist Konvertit und trägt auffallende salafistische Kleidung (weite knöchellange Hose, weites langes Obergewand).
Einige Wochen später bekommt die Polizei einen anonymen Hinweis auf eine mögliche Radikalisierung und Kindeswohlgefährdung in einer Flüchtlingsunterkunft. Ein anonymer Anrufer berichtet von einer streng religiösen Familie in der Unterkunft. Die Frau ist demnach vollverschleiert und spricht nicht mit Männern, die Töchter tragen Kopftuch, der Mann trägt Kleidung, die als typisch für Salafisten gilt, und tritt sehr patriarchal auf. Der Hinweisgeber meint, die Kinder hätten kaum Freiheiten und werden gezwungen, das Kopftuch zu tragen.
In der Unterkunft stellt sich schließlich heraus, dass es sich um den bereits früher beobachteten, ehemals allein reisenden Mann handelt. Nun wird auch klar, dass er in seinen vielen Telefonaten den Familiennachzug organisiert und zur Familie Kontakt gehalten hat. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Unterkunft beschreiben die Familie als streng religiös, aber im Umgang miteinander sehr liebevoll. Eine Kindeswohlgefährdung wird nicht gesehen und auch keine Radikalisierung. Der Mann spricht bereitwillig mit einer weiblichen Mitarbeiterin, die seine Muttersprache spricht. Alle Kinder der Familie - Mädchen und Jungen - werden vom Vater immer wieder ermuntert, an (gemischt-geschlechtlichen) Freizeitangeboten für Kinder in der Unterkunft teilzunehmen. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geben an, dass die streng religiöse Lebensweise der Familie befremdlich und verunsichernd auf sie gewirkt habe, aber diese Ängste durch das freundliche Miteinander überwunden worden sind.
Dieses Fallbeispiel verdeutlicht, wie fehlende Kompetenzen im Erkennen von und Umgang mit Radikalisierung auf Seiten der Fachkräfte in der Arbeit mit Geflüchteten Ängste und Unsicherheit auslösen können. Es wird auch deutlich, wie wichtig die Beratung im Team und der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen bei der Einschätzung von Beobachtungen ist, die Beunruhigung auslösen. An diesem Beispiel zeigt sich auch, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Wohnheimen sich alleingelassen fühlen können, wenn einerseits die Sicherheitsbehörden vor einer möglichen Radikalisierung von Geflüchteten warnen, dies aber andererseits bei Trägern in der Flüchtlingsarbeit unterschätzt beziehungsweise nicht thematisiert wird.
FallbeispielBeispiel 2: Eine Jugendliche lernt im Internet ihren "Verlobten" kennen
In einer anderen Unterkunft lebt eine Familie mit mehreren Kindern aus dem Irak. Eine der Töchter (15 Jahre) zieht sich immer öfter mit ihrem Handy zurück. Sie hat kaum Kontakte zu den gleichaltrigen Jugendlichen im Wohnheim oder in der Schule.
Durch Lehrkräfte wird die Familie darauf aufmerksam gemacht, dass ihre Tochter seit Wochen die Schule nur sporadisch besucht. Die Familie erfährt zudem in Gesprächen mit der Tochter und Freundinnen der Tochter, dass die Tochter im Internet einen Mann kennengelernt hat, der nun ihr "Verlobter" ist, mit dem sie unentwegt telefoniert. Die Tochter möchte den angeblich im Irak lebenden Mann heiraten.
Die Eltern lehnen dies ab – aufgrund des Alters ihrer Tochter und weil sie den Mann nicht kennen. Die Tochter entzieht sich der Familie immer mehr und tut nur noch, was ihr Verlobter ihr vorgibt. Eines Abends ist die Jugendliche nicht auffindbar. Der jüngeren Schwester schickt sie eine Nachricht, dass sie nicht mehr nach Hause kommen, sondern sich das Leben nehmen werde.
Die Familie wendet sich an die Sozialarbeiterin der Unterkunft, welche die Polizei verständigt. Dabei erfährt sie, dass sich die Tochter in die Obhut des Jugendamtes begeben hat und schwere Vorwürfe gegen die Familie erhebt.
Die Eltern berichten von den Problemen mit dem Mädchen und äußern ihre Befürchtung, dass ihre Tochter massiv durch den fremden Freund gesteuert werde. Sie vermuten, dass dieser ein Extremist sei, der sie in den Irak locken wollte. In der Vernehmung durch die Polizei, den Gesprächen mit Sozialarbeiterinnen und -arbeitern mit dem Mädchen sowie durch ihr Verhalten wird schnell deutlich, dass keine Radikalisierung vorliegt und sie die Vorwürfe gegen ihre Familie auf Wunsch ihres "Verlobten" vorgebracht hat.
Nichtsdestotrotz liegt eine Gefahrensituation vor. Ähnlich wie beim Vorgehen salafistischer Akteure ist der "Verlobte" im Internet auf das Mädchen aufmerksam geworden und nutzt ihre Lage aus. Er bietet vermeintlich Sicherheit, Halt und Rat in einer Situation, die sie überfordert. Er gewinnt ihr Vertrauen und ist bereits in der Lage, Druck auf sie auszuüben und sie von ihrer Familie zu entfremden. Auch die Herausforderung im Umgang mit dieser Situation ist ähnlich wie im Falle einer salafistischen Indoktrination. Die Situation erfordert, dem Mädchen Halt und Antworten auf ihre Fragen und Probleme zu geben – Antworten, die attraktiver und hilfreicher als die des sogenannten Verlobten sind. Außerdem muss ein Hilfesystem aufgebaut werden, dass die Jugendliche akzeptiert, und das ihr hilft, sich in der neuen Situation einzuleben.
FallbeispielBeispiel 3: Der Junge, der nicht mit Frauen spricht
In einem dritten Fall beobachten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Unterkunft für Geflüchtete einen 17-jährigen Jungen, der mit seiner Familie aus dem Irak gekommen ist und der nicht mit Frauen spricht. Der Junge fällt auf, da er ständig eine nahegelegene Moschee aufsucht und sich dort aufhält, ohne Kontakt zu den anderen Besuchern aufzunehmen.
Da der Junge unter ständiger Beobachtung seiner Eltern steht und weil es in der Unterkunft wenig Raum für Privatsphäre gibt, gehen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter davon aus, dass er Ruhe und Raum zum Rückzug sucht. In der Unterkunft fällt der Junge jedoch immer wieder durch sein ablehnendes Verhalten gegenüber Frauen und Mädchen auf und durch seine Abwesenheit. In der Moschee wiederum fällt er auf, da er wenig Kontakt aufnimmt, sehr radikale Ansichten vertritt und eine andere Gebetsrichtung einnimmt.
Die Fachkräfte in der Unterkunft werden erst aufmerksam und besorgt, als über den Zeitraum von einigen Wochen immer häufiger Beschwerden anderer Geflüchteter an sie herangetragen werden. Demnach schaut sich der Junge Videos des sogenannten Islamischen Staates an, befürwortet und verherrlicht dessen Ideologie und Taten und prahlt damit vor anderen. Er bezeichnet immer wieder andere Geflüchtete als Ungläubige und beschimpft sie, da diese seiner Meinung nach nicht nach den Vorschriften des Islams leben. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter versuchen den Jungen anzusprechen. Dieser verweigert jedoch mehrfach das Gespräch. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sprechen die Eltern auf das Verhalten des Sohnes an, diese beschwichtigen, stellen ihn als pubertierenden Jungen dar und sehen keinen Handlungsbedarf.
Nach dem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Unterkunft immer häufiger mit Beschwerden und Informationen über das Verhalten des Jungen konfrontiert wurden und ihre Interventionsversuche ins Leere gelaufen sind, informieren sie ihre Vorgesetzten. Doch diese schenken dem Fall keine weitere Aufmerksamkeit und sehen keinen Handlungsbedarf. Auch bieten sie ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern keine Unterstützung oder Beratung an. Daraufhin ergreifen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter keine weiteren Maßnahmen und dokumentieren auch keine Beobachtungen beziehungsweise Hinweise anderer Bewohnerinnen und Bewohner.
Die Fachkräfte eines Jugendcafés, in dem der Junge verkehrt, melden diesen Fall erst nach einigen Wochen dem Verfassungsschutz und der Polizei, ohne ihre Vorgesetzten zu informieren. Die Polizei beschlagnahmt das Handy und stellt bei der Auswertung fest, dass der Junge von einer Person aus dem Internet salafistisch indoktriniert wird und im Begriff ist, sich zu radikalisieren.
An diesem Beispiel zeigt sich, dass oftmals frühe Hinweise auf eine mögliche Radikalisierung nicht wahrgenommenen werden und es dementsprechend auch nicht zu einer fundierten Einschätzung der Gefährdung kommt. Dies beruht häufig auf Unkenntnis und Unsicherheit im Umgang mit salafistischer Radikalisierung, besonders in der Arbeit mit Geflüchteten. Es zeigt sich auch, dass sich Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort oftmals mit ihren Beobachtungen alleingelassen fühlen. Sie sind unsicher sowie überfordert bei der Einschätzung sowie im Umgang mit der Situation, da sie aus ihren Institutionen wenig Unterstützung bekommen.
Deutlich wird auch, dass es an Melderoutinen, der Kenntnis von Beratungs- und Hilfsnetzwerken sowie Wissen und Sensibilisierung auf Seiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beziehungsweise der jeweiligen Institutionen fehlt. Gleichzeitig stehen die Akteure unter dem (öffentlichen und politischen) Druck, solche Gefahrenlagen zu erkennen, richtig einschätzen und entsprechend handeln zu können.
Warum mehr Unterstützung in der Arbeit mit Geflüchteten nötig ist
Damit Menschen, die mit Geflüchteten zusammenarbeiten, Gefahrenlagen durch salafistische Radikalisierung besser erkennen und mit diesen umgehen können, ist es dringend notwendig, verschiedene praxisrelevante Angebote zu entwickeln und anzubieten. Beratungs- und Hilfenetzwerke müssen aufgebaut und publik gemacht werden. Fachkräfte und Institutionen in der Arbeit mit Geflüchteten benötigen mehr Sensibilisierung und Wissen über salafistische Radikalisierungsprozesse. Es ist wichtig, die Kompetenzen von Fachkräfte in diesem Bereich zu stärken, entsprechende Hinweise zu erkennen und mögliche Gefahren einzuschätzen.
Wichtig ist, dass es keine eindeutigen Indikatoren für eine Radikalisierung gibt. Aus diesem Grund müssen in jedem Verdachtsfall die betroffene Person, ihr Verhalten und der gesamte Kontext ganzheitlich und mehrperspektivisch betrachtet werden.
Damit die Fachkräfte in der Arbeit mit Geflüchteten diese Herausforderung bewältigen können, ist eine anerkennende und verstehende Haltung unerlässlich. Auch in diesem Tätigkeitsbereich muss Soziale Arbeit ihre Klienten als Experten ihrer Lebenswelt anerkennen und darin unterstützen, deren eigene Lebenswelt zu erforschen und zu verstehen. So finden sich unter Umständen gemeinsam Erklärungen für bestimmte Verhaltensweisen, die aus einer engeren Perspektive als Anzeichen einer Radikalisierung gewertet werden könnten. Möglicherweise wird auch ein bestimmter Hilfebedarf erkannt. Denn schließlich ist die Fluchterfahrung mit großen Herausforderungen verbunden und stellt einen Bruch in der Biografie dar – mit entsprechenden emotionalen und psychischen Folgen. So können zum Beispiel aggressives und abgrenzendes Verhalten unter anderem auch mit Depression oder einer posttraumatischen Belastungsstörung verbunden sein.
Die Fachkräfte und Ehrenamtlichen sollen dabei unterstützt werden, eine Haltung zu entwickeln, bei der sie möglicherweise persönliche Vorbehalte gegenüber bestimmten Verhaltensweisen zurückstellen und sich gleichzeitig deutlich positionieren, indem sie demokratische und rechtstaatliche Prinzipien vertreten.
Um möglichen Radikalisierungen unter Geflüchteten entgegenzuwirken, ist es wichtig, diese Herausforderung als gesamtgesellschaftliche Aufgabe anzusehen. Es müssen Angebote zur Unterstützung und Begleitung geflüchteter Menschen geschaffen und gefördert werden – zum Beispiel bei Alltagsfragen und -problemen, aber auch Angebote der Begegnung und des Dialogs – um dadurch die Überforderung Geflüchteter zu verringern. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, neben der Anbindung an den Sozialraum, den Geflüchteten in Unterkünften Partizipation und Demokratieerleben zu ermöglichen. Denn dadurch werden positive Erfahrungen von Selbstwirksamkeit ermöglicht und Frustration vermindert. All dies verringert Ansatzpunkte für salafistische Akteure und ihre Propaganda und es fördert gleichzeitig die Integration und das friedliche Zusammenleben und wirkt somit salafistischen Narrativen entgegen.
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