Vorwort
Einigen mutigen Frauen gelang es während ihrer Gefangenschaft im Frauen-KZ Ravensbrück illegale Dokumente aus dem Lager zu schmuggeln. Es waren Briefe und Gedichte, die das Lagerleben schilderten, die Bestrafungen, die Hinrichtungen und die medizinischen Experimente. Nur unter Lebensgefahr war es den Häftlingen möglich, die illegalen Dokumente aus dem Lager zu bringen. Die Welt sollte erfahren, was hinter den Mauern passierte.
Kurz vor Kriegsende wurden einige illegale Dokumente aus dem Frauen-KZ Ravensbrück an polnische Kriegsgefangene aus dem Straflager II in Neubrandenburg übergeben und von diesen unweit dem Stadtteil Fünfeichen im Erdreich vergraben. Später konnten die Dokumente durch Hinweise eines ehemaligen Kriegsgefangenen im Mai 1975 ausgegraben werden. Sie waren in einem wasser- und luftdichten Glasgefäß in der Erde verscharrt worden. Es fanden sich 37 Blätter verschiedener Größe darin. Die Dokumente wurden von der DDR-Regierung an das Zentralkomitee der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei übergeben, die diese an das Staatliche Museum in Auschwitz weitergab.
Die illegalen Dokumente, die Briefe wie auch Gedichte, haben einen einzigartigen historischen Wert. Die inhaftierten Frauen wollten die Naziverbrechen aufzeichnen und benennen. Unter den illegalen Dokumenten fanden sich 14 Briefe, sechs mit und acht ohne Datum. Den Briefen waren fast immer Gedichte beigefügt. Einer der illegalen Briefe wurde von der Polin Zofia Pocilowska verfasst. Sie gehört zu dem Kreis der Übelebenden des Frauen-KZ Ravensbrück, die im Rahmen dieses Dossiers von ihrer Gefangenschaft in Ravensbrück berichten. Der Brief von Zofia trug kein Datum, doch anhand des Abgleichs ihrer Angaben und anderer historischer Belege, muss er nach dem 18. März 1943 und vor dem 29. April 1943 entstanden sein. Zofia war damals 23 Jahre alt.
Illegaler Brief von Zofia Pocilowska
Brief, ohne Datum
Unsere Lieben! Habt Dank, großen Dank für den Brief und die eine kleine Seite der "Glocke". Es war, als ob jemand von Euch einer jeden von uns die Hand festdrückte zum Zeichen, daß er nahe ist. Seid beruhigt, wir können beharrlich sein und warten. Ihr schreibt, daß ihr mit unserem Dasein vertraut seid. Wir wollen jedoch versuchen, in unserem heutigen Brief es näher zu beschreiben, vor allem wollen wir Euch die wichtigsten Fakten nennen, damit ihr, um jeden Preis, diese irgendwie nach Polen und nach London weiterleitet; bislang wissen wir nämlich nicht, ob diese Fakten dort bekannt sind, und sie erfordern doch eine entschiedene und vorbehaltlose Intervention. Wir wissen nicht einmal, ob die Vereinbarung mit Rooswelt, wonach die Deutschen bei sich die Todesstrafe für Frauen abschaffen (Frankreich, Holland, Belgien machen davon Gebrauch), auch für uns gilt, weil Hinrichtungen andauern. Die Zahl der Polinnen, die als politische Häftlinge gelten, beträgt etwa 3 Tsd., darunter ein großer %satz Verschleppter aus Deutschland für ihre Arbeit. Wir belegen 6 Baracken. Die Wohnbedingungen sind schwer – es ist sehr eng (in einer Baracke mit 250 Plätzen wohnen fst 500 Personen) und im Zusammenhang damit laut, schmutzig, es gibt Läuse und keine Möglichkeit, die elementarsten Hygienevorschriften einzuhalten. Die Lage wird verschlimmert durch Mangel an Bett- und Leibwäschen. (Die Leibwäsche bekommen wir nur alle 3 Mon. gewechselt). Derartige Hygienebedingungen vermehren Krankheiten. Ärztliche Betreuung für Kranke ist absolut unzureichend. Ein schlechtes Verhalten uns gegenüber und Mangel an geeigneten Mitteln ergeben das Bild dieser Betreuung. Wenn wir noch unsere Angst vor dem "Revier" hinzurechnen (im Falle schwerer oder ansteckender Krankheit wird der Patient erledigt), wird dieses Bild abgerundet.
Die Ernährung ist mehr als schlecht. Die Qualität und Quantität lassen viel zu wünschen übrig. Im Zusammenhang mit einer schlechten Zusammensetzung der Speisen treten immer mehr Blut- und Hautkrankheiten auf, um so mehr, als Speisen Bestandteile beigemischt werden, die für den Organismus einer Frau außerordentlich schädlich sind. Die Ernährung steht in keinem Verhältnis zu der abverlangten Arbeit. Seit Dezember dürfen wir Päcken empfangen, was sich stark auf die Verbesserung unserer Ernährung auswirkte, zumal Päckchen nur ein kleiner %satz der Frauen bekommt.
Die Arbeit ist schwer, lang und anstrengend. Sowohl die Arbeit in Werkstätten, deren Produktion für Armee vorgesehen ist (Nähen von Kleidung, Pelzen usw.) als auch die außerhalb des Lagers dauert 11 Stunden. Im Winter hängt die Dauer der Außenarbeit von der Tageslänge ab. Die Werkstattarbeit ist um so beschwerlicher, als sie auch nachts verrichtet wird, und wir werden dabei von Aufseherinnen und SS-Leuten typisch deutsch behandelt (Geschreie, Meldungen, Schläge, Fußtritte). Die Außenarbeit am Lager, wie Planung, Verladen usw. ist ebenso unangenehm; erst in Kolonnen, die "außwärts" bei Landwirten auf dem Acker arbeiten, werden wir anders behandelt. Für eine Arbeitsverweigerung werden strenge Strafen angedroht: Bunker, d.h. Dunkelarrest mit Brot und Wasser, Peitschenschläge und die Strafbaracke (worin die Aufenthaltsdauer zwischen 3 und 12 Monaten beträgt).
In diesem Jahr wurde der Kurs gegenüber Polinnen verschärft. Wir fühlen das nicht nur in der Art, wie man uns behandelt, sondern auch darin, daß: 1) Polinnen nicht zur Arbeit bei Landwirten geschickt werden, 2) man Polinnen von allen verantwortungsvolleren Funktionen im Lager entfernt. Es gibt hingegen eine Tendenz zur Verschickung von Polinnen und Ukrainerinnen in Fabriken. Verschickt wurden bereits 2 Transporte nach Grünerberg (Munitionsfabrik) und in eine Porzellanfabrik bei Karlsbad. Weitere Transporte sind geplant.
Hinrichtungen: Weiterhin gibt es Transporte ins "Unbekannte". Hinrichtungen werden nach Transporten und Städten vorgenommen. Die letzte Vorbereitung eines solchen Transports löste eine Reaktion unter Polinnen aus. Bei Dämmerung, als die Verurteilten hinter das Tor geführt wurden, strömte eine Schar von Polinnen auf die Hauptallee, um die Fortgehenden zu verabschieden. Auf dem Wege stellten sich Beamtinnnen und versprerrten uns den Durchgang. Eine von ihnen wurde zusammengeschlagen als sie nach Häftlingen griff und ihre Nummern aufschreiben wollte. In der Dämmerung hatte dieser Vorfall keine weiteren unmittelbaren Folgen. Innerhalb einiger Tage wurden Polinnen von den "Effekten" (Kleidungslager) entfernt, wo sie die Möglichkeit hatten, die zürückkehrende Wäsche und Kleidung der Ausgeführten zu identifizieren, man drohte Repressionen an.
Die in den Tod Gehenden bewahren Ruhe und Ernst.
Chirurgische Versuche: es wurden bislang 80 Operationen durchgeführt (ausschließlich an Polinnen, fast nur an Frauen aus Lublin), ohne Rücksicht auf Proteste der für die Operationen Vorgesehenen. Fünf starben. Der Rest – sind Krüppel, unfähig, normal zu laufen. Es wurden Beine operiert und vermutlich Knochen herausgenommen. Die Operationen werden unter Geheimhaltung vollzogen; Häftlingskrankenschwestern dürfen dabei nicht assistieren. Die Operierten leiden sehr. Sie bleiben wahrscheinlich ihr ganzes Leben lang Krüppel.
Es operiert Dr. Gebhard aus Hohenlychen (wo sich ein Sanatorium für Invaliden befindet). Das Verbrechen dieser Operationen hat nicht seinesgleichen.
Ungeachtet der schwierigen Bedingungen bleiben wir stark. Wir warten auf den Tag der Befreiung. Wir warten auf ein Großes und Mächtiges Polen. Wir glauben, Polen werde herrlich und strahlend, es werde Empfindungen aller Polen vereinen, Arme und Schwache in Schutz nehmen und starke und schöne an Geist Menschen hervorbringen. Wir lernen, wir schreiben. Und wir leben erfüllt von Briefen aus der Heimat. Wir fügen Lagerpoesie bei. Planmäßig führen wir Selbstunterrichtsstunden durch (Gesch., Poln., Philosophie, Astronomie, Geologie, Sprachen). Sonntags kommen wir zusammen, um zu diskutieren. Vertreterinnen verschiedener pol. Gruppierungen diskutieren über das künftige Polen. Auch wenn wir in manchen Dingen bei unterschiedlichen Ansichten bleiben, so versuchen wir, im ideologischen Kampf das Giftige zu vergessen, und wir lernen, uns gegenseitig zu achten. Wir lesen Zeitungen.
Wir glauben, daß auch Ihr, ungeachtet des schweren Schicksals, von ähnlichem Geist und ähnlichen Ideen bestärkt seid. Wir glauben, daß wir gemeinsam zurückkehren werden, um an einem solchen Polen zu bauen, dessen Liebe uns in diese Gegenden hingetrieben hat. Wir drücken herzlich Eure lieben und von Arbeit gezeichneten Hände. Wir warten auf Euch. – Auf Wiedersehen.
Wir danken Zofia Pocilowska für die Nutzung des Briefes.
Ebenso danken wir der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück, bei der die Rechte für die Arbeitsübersetzung des Briefes aus dem Polnischen ins Deutsche liegen. Eine Abschrift des vollständigen Briefes findet sich in: "Aby swiat sie dowiedzial...Nielegalne dokumenty z obozu Ravensbrück, hg. von Krystyna Oleksy/Irena Polska, Panstwowego Muzeum w Oswiecimiu, Oswiecim 1980 (dt. Übers. in: ARa), S. 49-52, "Damit die Welt es erfährt...: Illegale Dokumente aus dem Konzentrationslager Ravensbrück".